08.10.2004

Der Stil des Spätwerks

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Der Stil des Spätwerks

Landläufig herrscht die Vorstellung, die Menschen würden mit zunehmendem Alter gelassen, weise und rückblickend. Doch wie verhält es sich mit dem künstlerischen Schaffensprozess? Der im Jahr 2003 verstorbene Schriftsteller Edward Said hat in einem seiner letzten Texte eine andere Spur verfolgt: Kann man aus den späten Kompositionen Beethovens, dem späten Roman von Tomaso di Lampedusa und den späten Gedichten des Griechen Konstantinos Kavafis eine stilistische Besonderheit ablesen? Wenn das Alter – auch – eine Loslösung von der Welt ist, eine Art Exil, kann das Spätwerk freier und kompromissloser die Zerrissenheit der Welt inszenieren.

Von EDWARD SAID *

IN unseren Vorstellungen über den Lauf des menschlichen Lebens ganz allgemein wie auch in Bezug auf die Kunst herrscht die Auffassung vor, dass alles seine „rechte Zeit“ habe. Wir glauben, dass das rechte menschliche Leben ganz wesentlich durch einen ihm gemäßen Bezug zur Zeit bestimmt sei, was man dann als „zeitgemäß“ bezeichnet. Komödien zum Beispiel beziehen ihren Stoff häufig aus einem lebensunzeitgemäßen Verhalten, etwa wenn sich – wie bei Molière oder Chaucer – ein alter Mann in eine junge Frau, der Dezember sozusagen in den Mai verliebt. Oder wenn ein Philosoph sich wie ein Kind benimmt oder eine gesunde Person eine Krankheit vortäuscht.

Doch gerade die Komödie als literarische Form kennt die Wiederherstellung der „rechten Zeit“, denn sie endet für gewöhnlich mit der Vermählung der jungen Liebenden. Wie aber steht es mit der letzten, der Spätphase des Lebens, wenn der Körper hinfällig und von Krankheiten geplagt wird (die für Jüngere ein „vorzeitiges“ Ende bedeuten würden)? Solche Fragen, die mich aus offenkundigen persönlichen Gründen interessieren, haben mich veranlasst, genauer nachzuforschen, wie im Werk einiger großer Künstler und Schriftsteller gegen Ende ihres Lebens eine neue Sprache entstanden ist – ein Idiom also, das ich als „Spätstil“ bezeichnen möchte.

Gemeinhin herrscht die Auffassung, dass das Alter den späten Werken einen Geist der Versöhnung und Gelassenheit verleiht, der sich häufig als wundersame Verklärung der Realität äußert. Shakespeare kehrt in seinen späten Stücken wie „Der Sturm“ oder „Ein Wintermärchen“ zur Form der Romanze und der Parabel zurück. Sophokles entwirft in „Ödipus auf Kolonus“, dem spätesten seiner erhaltenen Dramen, den betagten Titelhelden als einen Menschen, der einen Zustand besonderer Heiligkeit und Entschlossenheit erlangt hat. Oder denken wir an den bekannten Fall Verdi, der in seinen letzten Lebensjahren „Otello“ und „Falstaff“ komponierte, Werke also, die eine erneuerte, nahezu jugendliche Kreativität ausstrahlen.

Jeder von uns kann Spätwerke nennen, die als Krönung des lebenslangen ästhetischen Strebens anzusehen sind – so bei Rembrandt und Matisse, Bach und Wagner. Aber wie steht es mit späten Werken, die nicht von Harmonie und letzten Lösungen künden, sondern von Unnachgiebigkeit, Schwierigkeit und Widersprüchlichkeit? Was also, wenn Alter und Krankheit keine Gelassenheit hervorbringen? Wie es etwa bei Ibsen der Fall war, dessen letzte Stücke (vor allem „Wenn wir Toten erwachen“) seine künstlerische Entwicklung sprengen und Fragen wieder aufwerfen, die für gewöhnlich gelöst sind, bevor derartige Werke geschrieben werden. Ibsens letztes Stück ist weit davon entfernt, Antworten zu kennen, es zeigt uns einen zornigen und verstörten Künstler, der das Drama als Gelegenheit sieht, mehr Angst zu schüren, sich bedingungslos auf das Hermetische einzulassen, sodass das Publikum am Ende sprachloser und verstörter ist als zuvor. Es ist diese zweite Art von Spätstil, die mich beschäftigt: eine eigenartige, bewusst unproduktive Produktivität, ein Aufbegehren gegen alle Konventionen.

Adorno entwickelt seine Vorstellung vom „Spätstil“ am eindringlichsten in einem fragmentarischen Essay aus dem Jahr 1937 mit dem Titel „Spätstil Beethovens“, der 1964 in die Essaysammlung „Moments musicaux“ und 1993 in das posthum veröffentlichte Beethoven-Buch aufgenommen wurde. Für Adorno sind Beethovens letzte Werke – also die zur so genannten dritten Periode gezählten letzten fünf Klaviersonaten, die Neunte Sinfonie, die Missa solemnis, die letzten 6 Streichquartette und die 17 Bagatellen für Klavier – eine wichtige Station in der Geschichte der Moderne: ein Moment, in dem der Künstler, der seine Ausdrucksmittel vollständig beherrscht, gleichwohl die Verständigung mit der etablierten (gesellschaftlichen) Ordnung, der er angehört, abbricht und sich in eine widersprüchliche, entfremdete Beziehung zu dieser begibt. In seinen Spätwerken zieht er sich aus seiner vertrauten Umgebung in eine Art Exil zurück.

Die Figur des alternden, tauben und isolierten Komponisten hatte eine so starke kulturelle Symbolik, dass sie in Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“ – bei dem Adorno dem Autor mit vielen Hinweisen zu Rate ging – wieder auftauchte, und zwar im Rahmen eines Vortrags von Wendell Kretzschmar über Beethovens dritte Periode. Kretzschmar, der Kompositionslehrer der Hauptfigur Adrian Leverkühn, führt darin aus, Beethovens Kunst habe „sich selbst überwachsen: aus wohnlichen Regionen der Überlieferung sei es vor erschrocken nachblickenden Menschenaugen in Sphären des ganz und gar nur noch Persönlichen aufgestiegen“; ein Ich, das sich schmerzhaft im Absoluten isoliert, durch den Verlust des Gehörs auch isoliert von den eigenen Sinnen, einsamer Prinz eines geisterhaften Reiches, von dem jetzt nur noch ein kalter Hauch ausgeht, der selbst die „willigsten Zeitgenossen erschreckt und fassungslos macht, und in dessen erschreckende Botschaften sie nur noch augenblicks-, nur ausnahmsweise sich zu finden gewusst hätten“.

Daran ist etwas Heldisches, aber auch etwas Unnachgiebiges. Nichts im Wesen des späten Beethoven könnte man zurückführen auf die Auffassung, dass Kunstwerke Erfahrungen dokumentieren; anders gesagt, diese Musik betont nirgends einen Einbruch der Wirklichkeit – sei es einer historischen Wirklichkeit, sei es einer Erkenntnis vom nahenden Tode.

Man könne diese Werke nicht nur als Ausdruck von Beethovens persönlicher Entwicklung ansehen, sagt Adorno, sonst werde „das Spätwerk an den Rand von Kunst verwiesen und dem Dokument angenähert; tatsächlich pflegt denn auch bei Erörterungen über den letzten Beethoven der Hinweis auf Biografie und Schicksal selten zu fehlen. Es ist, als wolle angesichts der Würde menschlichen Todes die Kunsttheorie ihres Rechtes sich begeben und vor der Wirklichkeit abdanken.“ Spätstil ist aber genau das, was geschieht, wenn die Kunst gerade nicht vor der Wirklichkeit abdankt.

Zweifellos spielt der nahende Tod eine wesentliche Rolle. Aber Adorno, der das Recht der Ästhetik verteidigen möchte, richtet sein Augenmerk vornehmlich auf das Formgesetz von Beethovens kompositorischem Spätstil: ein eigenartiges Amalgam aus Subjektivität und Konvention, das sich in Techniken wie „schmückenden Trillerketten, Kadenzen und Fiorituren“ äußert. Dieses Formgesetz, so Adorno, „wird aber gerade im Gedanken an den Tod offenbar“. Und dieser „ist einzig den Geschöpfen, nicht den Gebilden auferlegt und erscheint darum von je in aller Kunst gebrochen: als Allegorie. Die Gewalt der Subjektivität in den späten Kunstwerken ist die auffahrende Geste, mit welcher sie die Kunstwerke verlässt. Sie sprengt sie, nicht um sich auszudrücken, sondern um ausdruckslos den Schein der Kunst abzuwerfen. Von den Werken lässt sie Trümmer zurück und teilt sich, wie mit Chiffren, nur vermöge der Hohlstellen mit, aus welchen sie ausbricht. Vom Tode berührt, gibt die meisterliche Hand die Stoffmassen frei, die sie zuvor formte; die Risse und Sprünge, Zeugnis der endlichen Ohnmacht des Ichs vorm Seienden, sind ihr letztes Werk.“

Was Adorno an Beethovens Spätwerk so ergreifend findet, ist gerade das Episodische, die sichtbare Gleichgültigkeit gegenüber der (eigenen) Kontinuität. Wenn wir ein Werk der mittleren Periode wie die Eroica etwa mit der Klaviersonate op. 110 vergleichen, beeindruckt uns an der Dritten Sinfonie die zwingende und integrative Logik, das Vorwärtstreibende, bei der späten Sonate dagegen ihr häufig zerstreuter, flüchtiger und repetitiver Charakter. Adorno sieht Beethovens Spätwerk zwar noch als Prozess, aber „nicht als Entwicklung, sondern als Zündung zwischen den Extremen, die keine sichere Mitte und Harmonie aus Spontaneität mehr dulden“. Genau deshalb, so Kretzschmar in „Doktor Faustus“, hafte den Spätwerken häufig der Eindruck des Unvollendeten an.

Die Extreme, von denen Adorno spricht, sind einerseits das „Unisono“, andererseits die „Polyphonie, die unvermittelt darüber sich erhebt“, und es ist die Subjektivität, „welche die Extreme im Augenblick zusammenzwingt, die gedrängte Polyphonie mit ihren Spannungen lädt, im Unisono sie zerschlägt und daraus entweicht, hinter sich lassend den entblößten Ton; die Floskel einsetzt als Denkmal des Gewesenen, worin versteint Subjektivität selber eingeht. Die Zäsuren aber, das jähe Abbrechen, das mehr als alles andere den letzten Beethoven bezeichnet, sind jene Augenblicke des Ausbruchs; das Werk schweigt, wenn es verlassen wird, und kehrt seine Höhlung nach außen.“ Adorno kommt zu dem Schluss, dass der Stil der späten Werke sowohl objektiv ist, im Hinblick auf seine „brüchige Landschaft“, zugleich aber subjektiv im Hinblick auf „das Licht, darin einzig sie erglüht“. Doch Beethoven bringe beide Momente nicht zu einer „harmonischen Synthese“ zusammen, vielmehr reiße er sie „in der Zeit auseinander, um vielleicht fürs Ewige sie zu bewahren. In der Geschichte von Kunst sind Spätwerke die Katastrophen.“ Hier wird sehr deutlich, wie schwierig es ist, zu benennen, was die späten Werke zusammenhält, ihnen ihre Einheit verleiht, sie von einer Aneinanderreihung von Fragmenten unterscheidet.

Adornos Essay beginnt mit dem Satz: „Die Reife der Spätwerke bedeutender Künstler gleicht nicht der von Früchten. Sie sind gemeinhin nicht rund, sondern durchfurcht, gar zerrissen; sie pflegen der Süße zu entraten und weigern sich herb, stachlig dem bloßen Schmecken.“ Beethovens späte Werke werden nicht in einer höheren Synthese aufgehoben: Sie passen in kein Schema und lassen sich nicht versöhnen, weil ihr unauflösbarer und fragmentarischer Charakter konstitutiv ist und nicht etwa nur Ornament oder gar Symbol für etwas anderes. Die späten Werke handeln von „verlorener Totalität“, und genau in diesem Sinne sind sie katastrophisch. Doch in welchem Sinne sind sie spät?

Adorno assoziiert die Bezeichnung „spät“ damit, dass jemand das Normale und allgemein Anerkannte überlebt hat; jenseits des Späten gibt es nichts mehr; das Späte kann nicht mehr transzendiert oder übergipfelt, es kann nur noch vertieft werden. In seiner „Philosophie der Musik“ schreibt er, Schönberg habe im Grunde die Unvereinbarkeit, Negation und Reglosigkeit aus den Werken des späten Beethoven nur noch verlängert.

Hegel auf Abstand

Dass der Spätstil Beethovens Adorno derart beschäftigte, liegt vor allem daran, dass der späte Beethoven für die moderne zeitgenössische Musik von so zentraler Bedeutung ist. „Fidelio“ – das paradigmatische Werk der mittleren Periode – ist zutiefst von der Idee der Humanität geprägt, mithin von der Vorstellung einer besseren Welt. Der späte Beethoven dagegen hält die Hegel’sche Dialektik auf Abstand. Seine Musik steht gegen die neue bürgerliche Ordnung und verweist damit schon, nach Auffassung Adornos, auf die authentische und neuartige Kunst eines Arnold Schönberg.

Insofern stellt der Spätstil Beethovens, unbarmherzig entfremdet und dunkel, wie er ist, die paradigmatische ästhetische Form der Moderne dar. Für Adorno erweist sich das Späte – und alles, was er bei seinem erstaunlich kühnen und obskuren Sinnieren über die Lage eines alternden Künstlers mit diesem Thema assoziiert – als der entscheidende Aspekt der Ästhetik und auch seiner eigenen Arbeit als kritischer Theoretiker und Philosoph. (Nach meinem Verständnis von Adorno, für das sein Nachdenken über Musik von zentraler Bedeutung ist, hat er dem Marxismus einen derart starken Impfstoff injiziert, dass dessen agitatorische Kraft fast vollständig aufgezehrt wird. Unter seiner rigorosen negativen Verachtung lösen sich nicht nur zentrale Kategorien des Marxismus wie „Fortschritt“ und „Zuspitzung gesellschaftlicher Widersprüche“ auf, sondern alles, was überhaupt noch nach Bewegung aussieht.) Sein hoffnungsfroher Start liegt Jahre hinter ihm, Alter und Tod stehen ihm noch bevor, so untersucht Adorno das Modell des späten Beethoven, um sich mit dem Phänomen des Endes zu beschäftigen. Aber dieses Späte ist weder eine Vorahnung noch ein Verdecken von etwas anderem, es ist vielmehr ein Phänomen, das seine eigenen Gesetze hat und seinen ewigen Raum. „Späte“ bedeutet ans Ende gelangen, bei vollem Bewusstsein, voller Erinnerungen und auch in voller – oder gar besonders intensiver – Wahrnehmung der Gegenwart. Und so wird Adorno selbst, wie Beethoven, zu jemandem, der das Späte verkörpert, zu einem unzeitgemäßen und anstößigen, ja: katastrophischen Kommentator der Gegenwart.

Was den Spätstil auszeichnet, ist nicht nur die intensive Beschäftigung mit dem Älterwerden, sondern ein wachsendes Gespür für Entrückung, Exil und Anachronismus. Anachronismus kennzeichnet auch das Werk eines Zeitgenossen von Adorno: des Italieners Giuseppe Tomasi di Lampedusa, dessen großer Roman „Der Leopard“ sich allerdings auch einem Publikum erschließt, das Adorno eher fernsteht. Dennoch dürfte Lampedusa als Vertreter des Spätstils für den heutigen Leser von herausragendem Interesse sein.

Der sizilianische Aristokrat Tomaso di Lampedusa (1896–1957) begann erst im fortgeschrittenen Alter seinen einzigen Roman „Der Leopard“ zu schreiben. Vielleicht hatte er Angst, auf dem Festland schlecht aufgenommen zu werden, vielleicht wollte er sich nicht mit anderen Schriftstellern messen müssen. Sein englischer Biograf David Gilmour vermutet als Motiv seines Schreibens das Empfinden, dass er als „letzter Nachkomme eines alten Adelsgeschlechts, dessen ökonomischer und physischer Niedergang in seiner Person besiegelt wurde“, das letzte Mitglied seiner Familie sein würde, das noch über „lebendige Erinnerungen“ und damit über die Fähigkeit verfügte, „jene einzigartige sizilianische Welt“ zu beschwören, deren Untergang unabwendbar bevorstand.

Was Lampedusa interessierte (und zugleich deprimierte), war der Verfallsprozess, der sich unter anderem im Verlust des Familienbesitzes äußerte – eines Hauses in Santa Margherita (im Roman: Donnafugata) und eines Palazzos in Palermo. Das Manuskript des Romans wurde von vielen Verlegern abgelehnt, bis Feltrinelli im November 1958, ein Jahr nach dem Tod des Autors, den Roman fast über Nacht zum Bestseller machte.

Oberflächlich betrachtet ist der Roman, der Mitte des 19. Jahrhunderts spielt, kein experimentelles Werk. Sein wichtigstes formales Element ist die Aneinanderreihung relativ eigenständiger, aber sorgfältig durchgearbeiteter Fragmente und Episoden, die jeweils um ein bestimmtes Datum angeordnet sind. Diese Technik gestattet Lampedusa einen Grad an Freiheit von den Zwängen der Handlung, die man in ihrer Einfachheit beinahe als primitiv bezeichnen könnte – was ihm die Möglichkeit gibt, Erinnerungen ebenso wie spätere Ereignisse in die Handlung einfließen zu lassen (etwa die Landung der alliierten Truppen auf Sizilien 1944), die von den schlichten Ereignissen der Haupterzählung strahlenförmig abzweigen.

„Der Leopard“ ist die Geschichte des betagten Sizilianers Don Fabrizio, Prinz von Salina, der ein Großonkel des Autors war. Don Fabrizio ist ein Hüne von einem Mann, dessen Güter allmählich verfallen und der seinen Tod nahen fühlt. Wenn er sich nicht gerade seinen astronomischen Studien widmet, verbringt er die Zeit damit, sich um seine Frau, seine drei wenig ersprießlichen Töchter und seine beiden mittelmäßigen Söhne zu kümmern. Richtige Freude macht ihm nur sein brillanter Neffe Tancredi, der sich in Angelica, die schöne Tochter des neureichen Händlers Don Calògero verliebt hat. Die Ereignisse spielen in der Zeit, da Garibaldi mit seinem Feldzug die Vereinigung Italiens herbeiführen will, in einer Periode also, die den endgültigen Niedergang der alten aristokratischen Ordnung bedeutet. Letzter und nobelster Vertreter dieser Ordnung ist der alte Prinz von Salina.

Die Handlung des Romans ist durchdrungen von einer Atmosphäre unentrinnbarer Sterblichkeit, die den Leser an späte Passagen in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ erinnert, insbesondere an die Rückkehr Marcels in jenes Paris, das sich am Ende des Ersten Weltkriegs in einem erschreckenden Verfallszustand präsentiert. Doch anders als Proust bietet Lampedusa keine Erlösung durch die Kunst. Am Ende von Lampedusas Roman liegt der todkranke Prinz in einem schäbigen Hotel in Palermo, erschöpft von seiner Reise nach Neapel, wo er einen Spezialisten aufgesucht hat. Concetta und Francesco Paola, seine älteste Tochter und sein jüngster Sohn, sind bei ihm, desgleichen sein geliebter Tancredi. Wir schreiben Juli 1883, der Prinz ist 73 Jahre alt.

Nichts in dieser Szene vermittelt auch nur die leiseste Andeutung einer Erlösung oder den kleinsten Hinweis auf eine künstlerische Berufung etwa der Art, die Prousts Marcel aus der Rolle des antriebslosen Rentiers erlöst und zu einem engagierten Schriftsteller macht. Don Fabrizio ist sich voll bewusst, dass er der letzte Salina ist: „Er war allein, ein Schiffbrüchiger auf einem Floß, das treibt, eine Beute von Strömungen, deren er nicht Herr wurde.“ Eine Abfolge von Erinnerungen ist das Einzige, was ihm geblieben ist, aber selbst auf diesen Erinnerungen lastet das Gefühl, der Letzte zu sein, der sie noch besitzt.

Aufgehellt wird dieses düstere Bild nur durch das wissenschaftliche Interesse des Prinzen an der Natur und insbesondere an den Sternen, das ihn kurzfristig aus seinen Todesqualen herausholt und den Rhythmen des unendlichen Ozeans überantwortet, deren Sendbotin – in einem letzten genialen Einfall – offenbar die schöne, aber nunmehr namenlose Tochter Angelica ist, die am Ende zu einer Art verallgemeinerter weiblicher Sinnlichkeit geworden ist. Als sie unerwartet und plötzlich an seinem Bett auftaucht, erhält seine unterdrückte Leidenschaft für sie freien Lauf, und dieses Gefühl wiederum überantwortet ihn seinem natürlichen Ende.

Auf jeder Seite dieses Romans spürt der Leser den gesellschaftlichen Verfall, das Scheitern der Revolution, die sterile Stagnation des italienischen Südens. Doch ganz bewusst verweigert sich der Roman einer Lösung für die „Frage des Südens“, wie sie etwa Antonio Gramsci vorgeschlagen hatte. Gramsci geht in seinem Essay („Einige Gesichtspunkte zur Frage des Südens“, 1926) davon aus, dass die elenden Lebensverhältnisse des Südens überwunden werden könnten, wenn sich eine Verbindung zwischen dem Proletariat des Nordens und den Bauern des Südens herstellen ließe, um die beiden geografisch getrennten Klassen von Unterdrückten in einem gemeinsamen Projekt zusammenzubringen. Das würde allen offensichtlichen Hindernissen zum Trotz endlich Hoffnung bedeuten, Innovation und echten Wandel. Und der Süden würde nicht mehr jenen Zerfall repräsentieren, den Lampedusas Roman so überzeugend schildert.

Doch Lampedusa verweigert Diagnose und Handlungsanweisungen Gramscis dermaßen beharrlich, dass man – auch jenseits der ständigen Hinweise auf Tod, Verfall und Hinfälligkeit – nahezu zwangsläufig den Eindruck gewinnt, der Roman sei bewusst so konzipiert, dass er einer Verbesserung der verfahrenen Situation des Südens entgegenwirkt. Wobei ein Paradox darin liegt, dass in diesem Fall die negative Spätstilbotschaft in einer durch und durch verständlichen Form übermittelt wird. Lampedusa ist kein Adorno und kein Beethoven, deren Spätstile unseren gewohnten Genuss durchkreuzen, indem sie sich jedem Versuch unmittelbarer Verständlichkeit entziehen.

In politischer Hinsicht ist Lampedusas Botschaft der Gramscis fast entgegengesetzt: Der Prinz steht für einen Pessimismus der Verstandes wie des Willens. Bereits mit den ersten Worten des Romans, „Nunc et in hora mortis nostrae. Amen“ – dem letzten Satz des täglichen Rosenkranzgebets –, ist die Stimmung des gesamten Buches festgelegt. Die erste Begebenheit, die der Roman erzählt, ist die Entdeckung eines toten Soldaten im Garten. Die Stunde des Todes ist gekommen, zumindest für den Prinzen, denn so gut wie nichts, was der Prinz im Laufe des Romans unternimmt, kann die ihn umgebende Lähmung und den Verfall beeinflussen. Formelhaft zugespitzt ist „Der Leopard“ eine südliche Antwort auf die Frage des Südens – keine Synthese, keine Transzendenz, keine Hoffnung.

Alles, was auf eine Verbesserung der Verhältnisse abzielen könnte, alles, was Entwicklung und echten Wandel versprechen könnte, wird als äußere Einmischung abgelehnt. Der Prinz hat nur ein müdes Lächeln für die Idee übrig, die Menschen könnten sich zu vollkommenen Wesen entwickeln, wie dies von Proudhon und Marx vertreten wird. Die gnadenlose Sonne Siziliens, seine kahlen Hügel und weiten Felder, seine stolzen Burgen und verfallenden Bastionen sind unwandelbare Tatsachen, und sie sind es, die Sizilien als Gesellschaft den Stempel aufdrücken, nicht die politischen Aufbrüche, die Gramsci sich erdachte.

Auge ausGlas

Aber mit der unabwendbaren Abfolge der Generationen stirbt die alte Ordnung, die der Prinz repräsentiert, die gesellschaftlichen und politischen Widersprüche werden größer, und es wird schwerer, sie im Zaum zu halten oder als persönliche Geschichte wahrzunehmen. Das „Späte“ an Lampedusas Roman liegt genau in dieser Darstellung, wie das persönliche in das unausweichlich bevorstehende kollektive Schicksal umschlägt – ein historischer Moment, den er durch seine Erzählstruktur und seine Handlung wunderbar klar herausarbeitet, um sich dabei doch diesem Schicksal und seiner historischen Logik zu überlassen. Der Prinz hat keinen Sohn, der sein Erbe antreten könnte; sein einziger spiritueller Nachfolger ist sein brillanter Neffe, ein junger Mann, dessen Opportunismus und verwickelte Abenteuer der alte Mann duldet, von denen er sich am Ende aber doch distanziert. „Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist“, sagt Tancredi zum Missfallen seines Onkels, „dann ist es nötig, dass alles sich verändert.“ Tancredi hat ganz ähnliche Züge, wie sie Napoleon III., dem Neffen des großen Napoleon, von Marx im „18. Brumaire“ zugesprochen werden. Der stützte sich bei seinem persönlichen Aufstieg auf eine Klasse von Menschen, die Tancredis Schwiegervater Calògero verkörpert: Menschen, die Verbindungen mit der Aristokratie knüpfen wollen, um sich Zugang zur Macht zu verschaffen. Die andere und in vieler Hinsicht authentischere Erbin des Prinzen ist seine strenge Tochter Concetta, die Tancredi seinen groben Umgangsformen und seinen mangelnden Respekt vor der Kirche nie verzeihen kann. Obwohl sie ihren Vater und Tancredi überlebt, besitzt sie weder die Intelligenz noch die außerordentliche, fast schon abstrakte Selbstachtung, wie sie der alte Leopard hat. Concetta wird von Lampedusa ein hartes Schicksal zuteil. Ihr liebster Besitz ist „Bendicó“, der Hund ihres Vaters, den sie ausgestopft aufbewahrt, und der Roman endet damit, dass ihr plötzlich die „innere Leere“ bewusst wird, die der ausgestopfte Hund symbolisiert: „Als das verkommene Stück Fell fortgeschleift wurde, sahen die Augen aus Glas sie mit dem demütigen Vorwurf der Dinge an, die man ausmerzt, die man vernichten will. Wenige Minuten danach war das, was von Bendicó übrig war, in einen Winkel des Hofes geworfen, wo der Mann, der den Kehricht wegräumte, jeden Tag hinkam. Während des Fluges vom Fenster hinunter nahm das Häufchen Fell für einen Augenblick wieder seine Form an: Man hätte meinen können, in der Luft tanze ein Vierfüßer mit langem Schnurrbart – die rechte Vordertatze drohend erhoben. Dann fand alles Frieden in einem Häufchen bleichen Staubes.“

Ein plötzlicher, ja: katastrophischer Absturz im nachgerade wörtlichen Sinne wirft die Frage auf, wen oder was Lampedusa hier eigentlich darstellt. Was geschieht hier, um wessen Geschichte geht es? Wenn man die ziemlich uninteressante Lebensgeschichte des kinderlosen Lampedusa auch nur in etwa kennt, muss man zwangsläufig annehmen, dass der Roman eine Art sizilianischer „Tod des Iwan Iljitsch“ ist, wohinter sich wiederum ein machtvoller autobiografischer Impuls verbirgt. Der letzte Salina ist tatsächlich der letzte Lampedusa, und Lampedusas eigene kultivierte Melancholie, die ohne jedes Selbstmitleid auskommt, macht das Zentrum des Romans aus – eines Romans, der von der weiteren Geschichte des 20. Jahrhunderts völlig entrückt ist und dem Leser mit zwingender Authentizität und nach einem konsequenten ästhetischen Prinzip, das jede Sentimentalität und Nostalgie ausschließt, einen Zustand anachronistischer „Späte“ vor Augen führt. Der Leser dürfte in dem ganzen Roman kaum ein Anzeichen dafür finden, dass der Autor sich für den offen eingestandenen Individualismus genieren würde. Es hat den Anschein, als ob Lampedusa, nachdem er in die Jahre gekommen ist, weder Abgeklärtheit noch Reife des Alters, weder Liebenswürdigkeit noch das schmeichlerische Nach-dem-Munde-Reden im Sinn hat. Doch an keiner Stelle wird das Faktum der Sterblichkeit geleugnet oder umgangen, im Gegenteil: Das Buch kehrt wieder und wieder zum Thema des Todes zurück; so verleiht Lampedusa Sprache wie Form eine ironische Wendung und überhöht beide zu einer fast sublimen Umschreibung der Endlichkeit alles Weltlichen. Zugleich aber hat der Leser den Eindruck, dass etwas unaussprechlich oder nicht fassbar bleibt.

Das poetische Pendant zu Lampedusa ist der griechische Dichter Konstantinos Kavafis aus Alexandria, dessen Gedichte erst nach seinem Tod im Jahre 1933 in Buchform veröffentlicht wurden. Kavafis wollte der Nachwelt 154 seiner Gedichte hinterlassen, von denen alle – gemessen am Standard der Poesie des 20. Jahrhunderts – ziemlich kurz sind. Jedes dieser Gedichte ist ein Versuch, einen Moment oder ein Ereignis der Geschichte, sei es aus seiner persönlichen oder aus der Vergangenheit der hellenischen Welt, zu veranschaulichen und zu dramatisieren. Als Quelle diente ihm dabei häufig Plutarch, auch auf Shakespeare griff er zurück, und besonders fasziniert war er von dem oströmischen Kaiser Julian Apostata (331–363 n.Chr.), der als Anhänger der griechischen Philosophie die von seinem Onkel Konstantin dem Großen verfügte Beförderung des Christentums zur Staatsreligion wieder rückgängig gemacht hatte. Eines der frühesten Gedichte von Kavafis ist „Die Stadt“, ein Dialog zwischen zwei Freunden, wobei der erste (vielleicht ein ehemaliger Gouverneur) sein Schicksal beklagt, das er als Gefangener in einer namenlosen, aber deutlich als ägyptisch erkennbaren Hafenstadt zu ertragen hat: „Wie lange noch wird mein Verstand so dahinsiechen? / Wo immer ich mich hinwende, wo immer ich hinschaue, / Sehe ich hier die schwarzen (düsteren!) Ruinen meines Lebens, das / Ich so viele Jahre lang vergeudet und vertan.“

Der zweite Sprecher antwortet in Sätzen kalter Entschiedenheit, die exakt den knapp formulierten und stoisch unbeteiligten Stil von Kavafis selbst kennzeichnen: „Du wirst keine neuen Länder entdecken, keine anderen Meere, / Die Stadt wird dir folgen. Du wirst durch dieselben Straßen / Streifen, in denselben Vierteln alt werden. / Dein Haar wird weiß in denselben Häusern. / Wo immer du hinfährst, hier wird deine Reise enden. / Es gibt für dich kein Schiff und keine Straße – / Gib die Hoffnung auf. Hast du dein Leben auf diesem kleinen / Fleck vergeudet, so hast du es auf der ganzen Erde vertan.“

Was den Sprecher gefangen hält, ist nicht nur der Ort, sondern auch die ständige Wiederkehr derselben Handlungen, die ihm sein Schicksal aufnötigt. Kavafis erachtete sein Gedicht „Die Stadt“, zusammen mit dem Gedicht „Die Satrapie“, als Wegmarke seiner Entwicklung zu den späteren, reifen Gedichten. In „Die Satrapie“ wendet sich der Sprecher an einen Mann, der von Alexandria wegwill, um bei König Artaxerxes einen neuen Posten in einer der Provinzen zu erlangen. Dort erhofft er sich Erfolge, doch sein Gesprächspartner gibt dem aus Alexandria Wegstrebenden zu bedenken: „Doch das, was deine Seele begehrt und beweint: / Das Lob der Massen und der Sophisten, / Der schwer erreichbare, unschätzbare Beifall, / Die Agora, das Theater und die Kränze – / Wie soll Artaxerxes dir solches bieten? /Wie sollst du sie in einer Satrapie finden? / Und was wird aus deinem Leben ohne diese Dinge?“ Trotz ihrer Enge hält Alexandria als Stadt (von der der englische Autor E. M. Forster einmal geschrieben hat, sie sei „schlecht gebaut, schlecht geplant, schlecht drainiert“) – ihre Versprechen, ohne die Kavafis nicht leben konnte, auch wenn seine Beziehung zu seiner Heimatstadt mit Verrat und Enttäuschung enden sollte.

Kavafis’ Gedichte sind stets in einer städtischen Umgebung angesiedelt, in der das Mythische und das Prosaische – mit seinem ironischen, zurückhaltenden Ton melancholischer Entzauberung – sich miteinander verbinden. Aber wenn man Kavafis im Ägypten des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts verortet, ist man überrascht, wie vollständig er in seinem Werk darauf verzichtet, die moderne arabische Welt auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Alexandria ist entweder der anonyme Schauplatz von Begebenheiten aus dem Leben des Dichters (Bars, gemietete Zimmer, Cafés, Wohnungen, in denen er sich mit seinen Liebhabern trifft), oder es wird als das porträtiert, was es einmal war: eine Stadt der hellenistischen Welt, die dann zu einer Reihe von sich ablösenden und überlappenden Imperien gehörte, zum Ptolemäischen, zum Römischen, zum Byzantinischen und dann zum Arabischen Reich. In den Gedichten werden die teils realen, teils erfundenen Charaktere geschildert, wie sie einen konkreten – zuweilen auch entscheidenden – Moment ihres Lebens durchlaufen. Das Gedicht macht diesen Moment sichtbar und überhöht ihn, bevor die Geschichte ihn in sich aufnimmt und er für immer für uns verloren ist. Die Zeit des Gedichts, die nie länger als nur wenige Augenblicke durchgehalten wird, bleibt immer außerhalb und parallel zur realen Gegenwart und dient Kavafis lediglich als subjektive Passage in die Vergangenheit. Seine Sprache, ein gelehrtes griechisches Idiom, dessen letzter – bewusster – moderner Repräsentant Kavafis war, verstärkt noch die Kargheit, den auf das Wesentliche reduzierten und hermetischen Charakter seiner Poesie. Diese Gedichte stellen also eine Form des minimalen Überlebens zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart dar, und die Ästhetik der Nichtproduktion, ausgedrückt in nichtmetaphorischen, reimlosen und prosaartigen, gebundenen Versen, verstärkt noch den Eindruck eines immer währenden Exils, das den Kern seines Werkes ausmacht.

Bei Kavafis kommt die Zukunft also nicht vor, oder wenn sie vorkommt, ist sie in einem gewissen Sinn bereits vorbei und hat deshalb nicht stattgefunden. Besser, man beschränkt sich auf eine verinnerlichte, enge Welt begrenzter Erwartungen, statt grandiose Projekte zu entwerfen, die ständig verraten oder schlechtgeredet werden.

Kavafis’ fundamentaler poetischer Gestus ist darauf angelegt, anderen Menschen einen Sinn zu vermitteln, dessen Ertrag aber sich selbst vorzuenthalten: eine Form von Exil, die seine existenzielle Isolation in einem enthellenisierten Alexandria abbildet. In einer Stadt, in der nach seinem bekanntesten Gedicht, „Warten auf die Barbaren“, das Warten auf eine bevorstehende Katastrophe zu einer Erfahrung wird, die sich zu der Erkenntnis verflüchtigt, dass es keine Barbaren mehr gibt, weshalb er die zerknirschte, sich selbst missbilligende Bemerkung anfügt: „Diese Menschen waren immerhin eine Lösung“. Dem Leser wird hier ein vieldeutiger, aber genau umgrenzter poetischer Raum angeboten, in dem er mitbekommen, aber nur teilweise begreifen kann, was sich tatsächlich abspielt.

Eine der bedeutendsten Leistungen von Kavafis liegt darin, dass er extreme Erfahrungen von Spätzeit, körperlicher Krise und Exil in Formen und in Situationen und vor allem mit Stilmitteln darstellt, die erstaunlichen Erfindungsreichtum mit lapidarer Ruhe verbinden. Häufig, aber nicht immer findet er solche Situationen in der Geschichte Alexandrias, wie etwa in dem großartigen Gedicht „Der Gott verlässt Antonius“, das auf einer von Plutarch geschilderten Episode beruht. Der römische Held wird in dem Augenblick angesprochen, da er seine Karriere, seine Pläne und nunmehr auch seine Stadt aufgeben muss: „Nimm Abschied von ihr, von Alexandria, die fortgeht.“ Der Sprecher warnt Antonius, nicht auf die Tröstungen der Sinnlichkeit zu setzen, mit ihren billigen Reuegefühlen und ihren leichtfertigen Selbsttäuschungen. Antonius wird vielmehr streng ermahnt, Alexandria als eine lebendige und gestaltete Szenerie zu sehen und zu erfahren, an der er einst selbst teilhatte, aber die sich nun offenbar, wie alle endlichen Dinge, von ihm entfernt: „Nähere dich mutig dem Fenster / Und höre mit Bewegung zu, / Doch ohne feiges Bitten und Flehen, / Genieße die letzten Klänge, / Die wunderbaren (schönen!) Instrumente der geheimnisvollen Truppe, / Und nimm Abschied von ihr, von Alexandria, die du verlierst.“

Die Wirkung dieser überwältigenden Zeilen wird noch dadurch erhöht, dass Kavafis seinem Helden ein striktes, vielleicht endgültiges Schweigen auferlegt, sodass dieser ein letztes Mal den Klang der „wunderbaren Instrumente“ hören kann, der ihm verloren geht: Die Konvergenz von absoluter Stille und einem total durchorganisierten, angenehmen Klang wird durch eine fast prosaisch fließende Diktion wundervoll zusammengehalten. Wenn Forster von Kavafis schreibt, er stehe „bewegungslos in einem sanften/spitzen Winkel zum Universum“, erfasst er genau diese eigenartige, ekstatische Wirkung seines immer währenden Spätstils mit seinen genauen, kleinformatigen Aussagen, die einer durchdringenden Dunkelheit abgerungen scheinen.

In einem von Kavafis schönsten späten Gedichten, „Myres, Alexandria des Jahres 340 n. Chr.“, befindet sich der Sprecher in einer Kirche, in der die Bestattungsfeier für seinen früheren Trinkfreund Myres stattfindet – einen Christen, der in seinem Tod als Objekt einer ausgefeilten kirchlichen Zeremonie neu erschaffen wird. Doch plötzlich überkommt ihn die Angst, dass er sich durch seine Leidenschaft für Myres hat täuschen lassen, und er flüchtet von dannen: „Ich stürzte aus ihrem schrecklichen Haus / Und flüchtete schnell, ehe meine Erinnerung an Myres / Durch ihre Christlichkeit verwandelt / verfälscht werden konnte.“

Das Vorrecht des Spätstils ist dieses: Er hat die Kraft, Freude und Ernüchterung auszudrücken, ohne den Widerspruch zwischen beiden aufzulösen. Was den Spätstil angesichts gleich starker Kräfte, die in entgegengesetzte Richtungen zielen, in Spannung hält, ist die reife, subjektive Überzeugung des Künstlers, die Hybris und leeren Pomp hinter sich gelassen hat und die sich für nichts mehr schämt: nicht für ihre Fehlbarkeit und auch nicht für die bescheidene Zuversicht, die ihr dank Alter und Exil zugewachsen ist.

deutsch von Niels Kadritzke

© Le Monde diplomatique, Berlin

* Edward Said (geboren 1935 in Ostjerusalem) war im Hauptberuf Professor für vergleichende Literaturwissenschaft (zuletzt an der Columbia University, New York). Nebenbei war er leidenschaftlicher Musikkritiker, Klavierspieler, politischer Berater (u. a. von Arafat) und mehr. Er starb 2003 in New York. Der Text erschien zuerst in der London Review of Books. © The Estate of Edward W. Said 2004.

Le Monde diplomatique vom 08.10.2004, von EDWARD SAID