08.10.2004

Kapital und NGO

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Kapital und NGO

EINE nicht unbedeutende Gefahr für die aktuellen Protestbewegungen ist das, was ich als NGOisierung des Widerstands bezeichnen möchte – womit ich keinen Generalvorwurf gegen alle Nichtregierungsorganisationen (NGOs) erheben will. Denn es gibt zwar etliche Pseudo-NGOs, die in trüben Wassern fischen und die nur gegründet werden, um Geld zu machen oder Steuern zu hinterziehen. Aber natürlich gibt es auch NGOs, die wertvolle Arbeit leisten. Wir müssen also die NGOs in einem breiteren politischen Kontext betrachten.

Nehmen wir das Beispiel Indien. Hier setzte der NGO-Boom in den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren ein, in der Phase also, in der die indischen Märkte nach neoliberalen Rezepten „geöffnet“ wurden. Damals kürzte der indische Staat, um sich den Strukturanpassungsprogrammen zu unterwerfen, die Mittel für die Entwicklung ländlicher Regionen wie auch für Landwirtschaft, Energieversorgung, Transportwesen und öffentliche Gesundheitsdienste. Als der Staat seine traditionelle Rolle aufgab, sprangen die entsprechend spezialisierten NGOs ein, wobei ihnen aber nur ein winziger Bruchteil der Summen zur Verfügung stand, um die man zuvor die öffentlichen Ausgaben gekappt hatte.

Hinzu kommt, dass die meisten großen NGOs finanziell und politisch von Hilfs- und Entwicklungsagenturen abhängig sind, die wiederum von westlichen Regierungen, der Weltbank, der UNO und einigen multinationalen Konzernen finanziert werden. Und auch da, wo es sich nicht um genau diese abhängigen Agenturen handelt, gehören sie auf jeden Fall zu dem losen Verbund von politischen Institutionen, die das neoliberale Projekt umsetzen und überwachen und die überhaupt erst die Forderung nach Kürzung der Staatsausgaben auf die Tagesordnung gesetzt haben.

Warum aber sollten diese Agenturen NGOs finanzieren? Aus einem altmodischen missionarischen Eifer heraus oder etwa aus Schuldgefühl? Es steckt gewiss ein bisschen mehr dahinter. NGOs vermitteln häufig den Eindruck, dass sie das Vakuum füllen, das der Staat durch seinen Rückzug erzeugt hat. Und das tun sie auch, wenngleich mit materiell völlig unzureichenden Mitteln. Ihre eigentliche Leistung besteht darin, dass sie den politischen Aufruhr entschärfen und Leistungen, auf die eigentlich jedermann einen Anspruch haben sollte, in Form von Hilfsgeldern oder mildtätigen Spenden verteilen.

Die NGOs verändern mithin die Psyche der Menschen, die sie zu abhängigen Opfern machen, und nehmen dem politischen Widerstand den Wind aus den Segeln. NGOs bilden so eine Art Puffer zwischen dem Staat und seinen Untertanen. Sie sind zu Vermittlern und Interpreten geworden, die anderen die Arbeit erleichtern.

Auf lange Sicht gesehen, sind NGOs ihren Geldgebern Rechenschaft schuldig und nicht den Menschen, mit denen sie arbeiten. Sie sind das, was man in der Botanik eine Indikatorspezies nennt. Denn fast hat es den Anschein, als ob umso mehr NGOs aus dem Boden schießen, je größer die Zerstörungen ausfallen, die auf die neoliberalen Strategien zurückgehen. Das krasseste Beispiel für diesen verqueren Zusammenhang bieten die USA, wenn sie die Invasion eines Landes vorbereiten und zugleich NGOs unter die Arme greifen, die hinterher die angerichteten Zerstörungen wieder beseitigen sollen.

Wenn NGOs ihre Finanzierung nicht gefährden wollen und gewährleisten wollen, dass die Regierungen der Länder, in denen sie aktiv sind, ihre Arbeit nicht behindern, müssen sie diese so harmlos wie möglich darstellen und auf politische oder historische Bezüge weitgehend verzichten. Oder zumindest auf solche Bezüge, die man im Gastland nicht gerne hört.

Apolitische – und deshalb gerade äußerst politische – Katastrophenberichte aus armen Ländern und Kriegsgebieten bewirken am Ende, dass die (dunkelhäutigen) Menschen dieser (dunklen) Länder wie pathologische Opfer präsentiert werden: der soundsovielte unterernährte Inder, die verhungernde Äthiopierin, das afghanische Flüchtlingslager, die verkrüppelte Sudanesin – sie alle sind auf die Hilfe des weißen Mannes angewiesen. Damit tragen NGOs unbeabsichtigt dazu bei, rassistische Vorurteile zu bestärken und die Errungenschaften, die Annehmlichkeiten und das Mitgefühl der westlichen Gesellschaft zu unterstreichen. Sie sind also die weltlichen Missionare der modernen Welt.

Und schließlich spielt das den NGOs verfügbare Kapital in Bezug auf alternative Strategien eine ähnliche Rolle wie das spekulative Kapital, das in armen Wirtschaftsräumen angelegt und wieder abgezogen wird – nicht in denselben Dimensionen zwar, aber auf noch perfidere Weise. Dieses NGO-Kapital beginnt die Themen zu bestimmen, Konfrontation in Verhandlungen zu verkehren und damit den Widerstand zu entpolitisieren. Es drängt sich in regionale Bewegungen hinein, die bis dahin autonom gearbeitet haben. NGOs haben Gelder, mit denen sie Einheimische anheuern können, die sich ansonsten in Widerstandsbewegungen engagieren würden, denen man aber nun das Gefühl gibt, dass sie etwas unmittelbar Wirksames tun, einer guten Sache dienen (und sich damit auch noch einen Lebensunterhalt verdienen).

Doch auf dem Weg des wahren politischen Widerstands gibt es solche Abkürzungen nicht. Die NGOisierung der Politik droht also, den Widerstand zum wohlanständigen, vernünftigen, bezahlten Vollzeitjob zu machen, der im Übrigen noch etliche andere Gratifikationen bietet. Echter Widerstand aber verlangt echte Konsequenzen, ein Gehalt bekommt man dafür nicht.

* Indische Bestsellerautorin und Antiglobalisierungsaktivistin.

Le Monde diplomatique vom 08.10.2004, von ARUNDHATI ROY