Wir wählen mit
Von TAHAR BEN JELLOUN *
WAS wäre, wenn am 2. November nicht nur die Millionen Amerikaner, sondern alle Völker der Welt an die Wahlurnen gingen? Schließlich gibt es gute Gründe dafür, dass sie mit entscheiden, wer demnächst die größte Macht der Welt regiert, wo doch das Leben aller auf die eine oder andere Weise von der Politik dieses Landes bestimmt wird. Natürlich könnte es sich nur um eine symbolische Geste handeln, um ein klares und deutliches Eingeständnis der Tatsache, dass das Schicksal der Erde zu weiten Teilen vom amerikanischen Präsidenten abhängt. Die Vietnamesen, die Chilenen und neuerdings auch die Iraker können ein Lied davon singen.
Die Frage, ob der derzeitige Präsident Amerikas wiedergewählt wird oder nicht, entscheidet auch über die Zukunft hunderttausender Familien – im Irak, in Palästina, Israel, ja im gesamten Nahen und Mittleren Osten, im Maghreb, in Afrika, Lateinamerika und anderen Gegenden der Welt. Keine andere Präsidentschaftswahl ist für so viele Länder, in denen sie nicht stattfindet, derart folgenschwer, besonders und besonders einschneidend in ökonomischer Hinsicht. Insofern gehen diese Wahlen nicht nur die amerikanische Bevölkerung etwas an.
Da wären die tagtäglichen Ereignisse im Irak: Die Iraker befinden sich heute in dem Bürgerkrieg, den alle Beobachter vor dem Einmarsch der Briten und Amerikaner vorausgesagt hatten. Folglich hätten die Iraker und die Palästinenser gute Gründe, bei der Wahl des amerikanischen Präsidenten mit entscheiden zu wollen. Das bedeutet keineswegs, dass sich im Falle eines Wahlsiegs von John Kerry die Lage im Irak völlig ändern würde, aber man geht davon aus, dass – zumal geschehen ist, was nicht geschehen sollte – die zivilisierte Welt heute in einer gemeinsamen Anstrengung den Schaden begrenzen muss.
Freude über eine Wiederwahl Bushs käme unter anderem bei den Leuten von al-Qaida auf, das haben sie schon erklärt, ihnen passt Bushs Politik ins Konzept. Der Einmarsch im Irak hat den Terroristen Zulauf beschert und sie in den Augen der arabischen Welt als Widerstandskämpfer erscheinen lassen.
Für mindestens die Hälfte aller Amerikaner ist Bush ein Unglück, für alle, die außerhalb der Vereinigten Staaten die Folgen seines fundamentalistischen und schablonenhaften Vorgehens erleiden müssen, ist er eine Katastrophe. Die Palästinenser wissen zwar genau, dass John Kerry, selbst wenn er über einen Zauberstab verfügte, ihnen nicht automatisch Frieden brächte, doch sie wissen auch, dass die derzeitige israelische Besatzung Bushs volle Unterstützung genießt. Und nie war die Lage der Palästinenser so schlecht wie seit dem Amtsantritt von Scharon und Bush.
Von den pazifistischen Ansätzen eines Jimmy Carter und sogar den späten (doch löblichen) Versuchen eines Bill Clinton ist man heute weit entfernt. Dabei weiß jeder, dass ohne eine zwischen Palästinensern und Israelis ausgehandelte Friedenslösung – der Genfer Friedensplan liegt auf dem Tisch – auch in Zukunft der gesamte Nahe Osten von mörderischen Auseinandersetzungen, blinder Gewalt und Terrorismen der verschiedensten Art – von individuellem und Staatsterrorismus, sei er von Rachsucht oder Verzweiflung getrieben – beherrscht sein wird. Jüngst erfuhr man aus einer Studie des Pew Research Center, dass bei den Themen, die die Amerikaner beschäftigen, „erstmals seit dem Vietnamkrieg die Außenpolitik genauso viel Gewicht besitzt wie die Wirtschaftspolitik“. (Le Monde, 20. August 2004) Dies ist ein weiterer Grund, weshalb die Völker, die von dessen Politik betroffen sind, auch über den zukünftigen Präsidenten Amerikas mit entscheiden können sollten. Ein logischer Schritt, so befremdlich und undurchführbar er auch scheinen mag.
Ein solches Votum könnte dem gewählten Präsidenten ein Zeichen sein. Wenn Bush gewinnt, wird das Zeichen voraussichtlich übergangen werden, so wie Bush vor dem Irakkrieg die Millionen Kriegsgegner übergangen hat, die überall auf den Straßen Europas vor den Gefahren des Krieges gewarnt und trotz der Schreckensherrschaft Saddams die Illegitimität des Krieges angeprangert hatten. Bush und Blair haben sich um diesen breiten Protest nicht geschert; es ist offensichtlich zwecklos, auf einen Mann einwirken zu wollen, der unter dem schrecklichen Einfluss von Religion und Unkenntnis steht.
Anders ist es, wenn die Demokraten gewinnen sollten. Bekanntlich haben zwar in Amerika die eigenen Interessen traditionell immer Vorrang, doch Kerry könnte sich auf diese Tradition berufen, denn es ist im ureigensten Interesse Amerikas, aus dem Irak abzuziehen, das Volk zu entschädigen und darüber hinaus eine baldige Verhandlungslösung im Nahen Osten zu erreichen; vorausgesetzt, er würde erklären, dass sein Land die Macht missbraucht, Recht und Ordnung mit Füßen getreten hat, und sich Fehler und Verirrungen hat zuschulden kommen lassen.
Viele Amerikaner würden eine solche internationale „Mitwahl“ als Einmischung in ihre inneren politischen Angelegenheiten verstehen. Warum sollte ein Inder aus Bophal, ein Afrikaner aus dem ehemaligen Zaire (Demokratische Republik Kongo), ein Araber oder ein Europäer bei den Wahlen ihres Präsidenten etwas mitzureden haben? Ganz einfach: Wenn die Amerikaner einem diktatorisch regierten Land „die Demokratie“ bringen wollen (als wäre sie eine Pille, die sich im Wasser des jeweiligen Landes auflösen würde), dann befragen sie weder die Hauptakteure, noch scheren sie sich um die Haltung der Vereinten Nationen oder hören gar auf Millionen Demonstranten. Offensichtlich glauben sie, dass alles, was für die USA von Nutzen ist, auch den von ihnen beeinflussten Ländern von Nutzen sein muss.
Eine solche symbolische „Mitwahl“ am 2. November wäre ein Denkzettel für die Amerikaner mit ihrer Arroganz und ihrem Misstrauen gegenüber anderen. Sie wäre eine Geste des Widerstands und der Unabhängigkeit angesichts einer Hegemonialpolitik, die mit ein paar religiösen Überzeugungen, gewissen Vorurteilen und einigen Vorwänden daherkommt.
deutsch von Marie Luise Knott
© Le Monde diplomatique, Berlin
* Marokkanischer Schriftsteller, lebt in Paris.