08.10.2004

Künstlerin dieser Ausgabe: Sophie Calle

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Künstlerin dieser Ausgabe: Sophie Calle

EIN Schuh, ein Kleid, ein Liebesbrief – die Kunstwelt der Sophie Calle rekonstruiert aus Texten und Bildern die Dramen des Alltags. In ihrer Jugend war die französische Konzeptkünstlerin den Moden ihrer Zeit gefolgt: als Hippie, Kommunardin, Maoistin, Weltenbummlerin. Als sie 1979 nach Paris zurückkehrte, tat sie, was sie woanders auch gemacht hatte: Sie lief durch die Straßen und fotografierte Unbekannte und schrieb auf, was sie sah. Wenn sie ihr „Objekt“ aus den Augen verlor, haftete sie sich an den Nächsten. So entstanden zwei konzeptionelle Grundelemente ihrer Kunst: Fast immer kombiniert sie Text und Bild, und fast immer ist es ein Außen, das den Impuls liefert. Sophie Calle folgt. Verfolgt.

In ihrer großen autobiografischen Arbeit „Wahre Geschichten“ rekonstruierte sie die kleinen (wahren oder erfundenen) Dramen ihres Lebens. Ein anderes großes Werk: „Exquisit Pain“ (der schreckliche Schmerz einer Trennung) beginnt mit einem Bildertagebuch (20 Tage davor, 19 Tage davor, 18 usw.), das der Frage nachgeht: Warum habe ich nichts gemerkt? Es folgt eine Ortserkundung (das Hotelzimmer, wo der Geliebte sie verlassen hat, kombiniert mit fremden Trennungsgeschichten). Dazwischen, in bohrender Wiederholung, immer wieder das leere Doppelbett im Hotelzimmer. Der intime Schmerz erhält derart einen Raum, den man ihm gewöhnlich außerhalb der eigenen Mördergrube nicht zugestehen würde. Überhaupt ist das Private, ja Intime bei ihr fast lustvoll groß und lustvoll öffentlich. Verspielt präsentiert sie das leicht Melodramatische. Ihre Bilderwelt ist jedem unmittelbar zugänglich.

Das alles gelingt, ohne dass Sophie Calle sich wirklich entblößt. Sie bittet fremde Leute, sich in ihr Bett zu legen – und fotografiert sie. Sie bittet Blinde, ihr ihren Lieblingsort zu beschreiben, und dann stellt sie diese nach. Sie bittet Paul Auster, sie zur Hauptfigur seines nächsten Romans zu machen, damit sie, Sophie, dem folgen kann, was er seine Figur gerade tun lässt. Hauptsache, sagt sie, jemand entscheidet an meiner Stelle. Der Andere ist ihr Schatten, durch den sie sich erkennen will. Ein fremder Impulsgeber und ein striktes Reglement – in dieser Spannung schafft sich Sophie Calle die nötige Schutzhaut.

Natürlich geht es bei ihr immer ums Unglück: Happy moments we do not share, sagt sie. Und natürlich ist ihre Kunst therapeutisch. Kein Wunder, dass sie sich 1998 im Freud Museum in London zu einer Installation einladen ließ. In „Begegnung mit Freud“ hat Sophie Calle Gegenstände aus ihren „Wahren Geschichten“ in Freuds Wohnung drapiert und sich selber wie probehalber Sigmunds Mantel übergezogen. So begegnen sich zwei Welten. In einer Serie.

M.L.K.

Le Monde diplomatique vom 08.10.2004, von M.L.K.