Souveräne Imperialisten gesucht
Nach dem Vietnamtrauma der 1980er-Jahre schien der Multikulturalismus, der auch als Versöhnung mit der Geschichte anzusehen war, den USA das Selbstbewusstsein zurückzugeben. Doch nicht nur der 11. September 2001, auch die wirtschaftliche Stagnation und die Jahrzehnte der Deindustrialisierung sind Ursache, dass sich in vielen Teilen der Bevölkerung ein Gefühl der Schwäche verfestigt hat.
Von ANDREA BÖHM *
ENTSPANNT euch! Feiert den Sieg!“ Von Richard Perle, dem „geistigen Architekten“ des Irakkriegs, hat man lange nichts mehr gehört. Auf dem Parteitag der Republikaner blieb er ebenso unsichtbar wie die anderen neokonservativen Falken. Spätestens seit im Irak der tausendste tote US-Soldat gezählt worden ist und der Name Falludscha die Hilflosigkeit der Supermacht symbolisiert, sind die Verfechter eines imperialen Amerikas, das Demokratie und Marktwirtschaft mit militärischer Macht in die (arabische) Welt tragen will, in Ungnade gefallen – sogar bei den Erzkonservativen der eigenen Partei. Warum aber bejubeln so viele Amerikaner Bush, wenn dieser erklärt, Amerika und die Welt seien durch den Irakkrieg sicherer geworden? Warum hat Bush überhaupt eine Chance auf Wiederwahl? Die Antwort steckt vielleicht in einem Satz, den er unter Ovationen auf jedem Wahlkampfauftritt wiederholt: „In Iraq, I saw a threat!“
Das ist nicht nur die volkstümliche Übersetzung der neuen amerikanischen Doktrin des „Präemptivschlags“, die im Fall des Irak ein Präventivschlag war. Die Brisanz dieses Satzes liegt vielmehr in dem, was Bush nicht aussprechen muss: Mit „Ich sah eine Bedrohung“, meint er: „Was ich sehe, ist real. Sollte ich mich geirrt haben, war der Krieg trotzdem richtig. Denn Amerika ist unfehlbar. Alles andere wäre ein Zeichen der Schwäche. Amerika zeigt keine Schwäche.“
„I saw a threat.“ Vier Worte haben aus einer Attitüde adoleszenter Militanz und der Unfähigkeit zur Selbstkritik eine Charakterstärke geformt. George W. Bush verkörpert derzeit das Sinnbild martialischer Standfestigkeit – auch und gerade im Angesicht des irakischen Debakels. Das entsetzt seine eingefleischten Gegner, begeistert seine eingefleischten Anhänger und fasziniert derzeit viele unentschlossene Wähler. Die blicken durchaus Rat suchend zu John Kerry – und lesen schon aus dessen zerfurchtem Pelikangesicht, was sie derzeit nicht hören wollen: dass die Welt komplizierter ist, als man sie sich wünscht. Kerry hat noch Chancen, diese Wahl zu gewinnen. Im Fall eines Wahlsiegs sähe er sich nur mit einer starken republikanischen Opposition im Kongress konfrontiert, sondern auch mit jener politisch-psychologischen Dynamik in der amerikanischen Gesellschaft, die Bush bislang so geschickt auszunutzen versteht.
„Wenn eine Nation enorme Macht, aber nur wenig Selbstbewusstsein besitzt, neigt sie dazu, sich und anderen gefährlich zu werden.“ Der US-Senator William Fulbright schrieb diese Zeilen 1966 in seinem Klassiker „Die Arroganz der Macht“ – zu einem Zeitpunkt also, als die Regierung von Lyndon B. Johnson den Vietnamkrieg noch so siegessicher betrachtete wie Richard Perle den Irakkrieg im Mai 2003. „Unter dem Zwang, beweisen zu müssen, was längst offensichtlich ist, beginnt sie große Macht mit totaler Macht […] zu verwechseln: Sie kann keinen Fehler eingestehen, muss jeden Konflikt gewinnen – egal wie trivial er sein mag …“
Fulbright konnte nicht ahnen, dass seine Worte das Amerika des Jahres 2004 noch besser beschreiben würde als das des Jahres 1966. Denn fast 40 Jahre später sind die USA mächtiger und ihre Gesellschaft verunsicherter denn je. Ersteres ist ein Ergebnis des Kalten Krieges, Letzteres ist die Folge von vier Jahrzehnten gesellschaftlicher Umwälzungen, die noch lange nicht verarbeitet oder abgeschlossen sind: die Aufhebung der Rassensegregation, der Zerfall der traditionellen Kleinfamilie und des traditionellen Geschlechterverhältnisses, eine anhaltende Masseneinwanderung sowie der rasante Abbau der Industriegesellschaft. Das reicht, um selbst „God’s own country“ gehörig zu erschüttern. Mit anderen Worten: Immer mehr Bürger der stärksten Macht der Welt fühlen sich im eigenen Land als Verlierer.
Kein Amerikaner, sondern ein Brite hat nun Fulbrights Warnung fortgeschrieben. Anatol Lieven, Journalist, Historiker und derzeit Fellow der „Carnegie Endowment for International Peace“, sorgt sich weniger über den amerikanischen Imperialismus, den die europäische Friedensbewegung so lautstark beklagt. Amerikaner, so Lieven, empfinden sich weniger denn je als Herrscher eines Imperiums – und weil er als historisch versierter Brite einiges vom Thema versteht, findet er das nicht tröstlich, sondern gefährlich. Denn die durchaus imperiale Politik der USA werde von der amerikanischen Gesellschaft nicht etwa im souveränen Bewusstsein über die damit verbundenen Pflichten und Opfer getragen. Sie basiere vielmehr auf einem wachsenden „rachsüchtigen Nationalismus“, der sich aus Kränkung, Verlustangst und einem seit dem 11. September 2001 manifesten Gefühl der Bedrohung speise. „I saw a threat!“ – mit seinem Wahlkampfmantra hat Bush diese Stimmung genau getroffen, und er setzt seinen Satz auch bedenkenlos in die Zukunft um.
Dabei ist der „rachsüchtige Nationalismus“ bis auf weiteres eher zur Gebärde geschrumpft. Die USA sind nach vier Jahren Bush-Regierung militärisch so ausgezehrt und diplomatisch so desorientiert, dass sie sich weiteren Krisenherden kaum zuwenden können. Darin liegt die Orwell’sche Qualität des von Lieven beschriebenen Nationalismus: Wer ihm verfällt, jubelt einem Mann zu, der mit dem Gestus eines Machos „absolute Stärke“ verspricht – und das Land in Wirklichkeit schwächt.
Man schreibt die Lage im Nachkriegsirak allgemein dem Umstand zu, dass die amerikanische Besatzungmacht keinen Plan für Verwaltung und Wiederaufbau hatte: Blumen entgegennehmen, Ölhahn aufdrehen, eine US-freundliche Regierung einsetzen und sich in den neuen Militärstützpunkten zwischen Basra und Mossul einrichten – so hatten die neokonservativen „Hühnerfalken“ der amerikanischen Öffentlichkeit die Zeit im Nachkriegsirak ausgemalt. Dabei hatte die Bush-Administration durchaus einen Plan – und zwar einen denkbar einfachen: die bestehenden staatlichen Institutionen demontieren und den Kräften des Marktes freien Lauf lassen. Die neokonservativen Strategen hatten mit der schnellen Eroberung scheinbar mühelos die erste Weiche für eine Neuordnung des Mittleren Ostens gestellt. Nun sollten, wie Naomi Klein unlängst in Harper’s Magazine beschrieben hat, die Neoliberalen ihr Experimentierfeld bekommen: Auf die militärische Shock-and-awe-Strategie folgte die ökonomische Schocktherapie. Das Ergebnis ist blutiges Chaos.
In einem müssten Kriegsbefürworter und -gegner inzwischen übereinstimmen: Es ist die große Tragik des irakischen Volkes, dass Saddam Hussein zu einem Zeitpunkt von den USA gestürzt wurde, da die Supermacht eben nicht von „souveränen Imperialisten“ regiert wurde. Stattdessen waren und sind selbst ernannte Revolutionäre an der Macht, die daheim in ihrem „Kreuzzug gegen den Liberalismus“ für eine religiös fundierte, sittenstrenge Gesellschaft kämpfen und den Staat durch Demontage des Steuersystems jedes Spielraums zu politischer Gestaltung berauben wollen. Mit einer solchen „staatsfeindlichen“ Ideologie ist man nicht nur unfähig zum nation building. Man rückt damit auch in verblüffende geistige Nähe zu den islamischen Fundamentalisten, die man bekämpfen will. Beide Seiten haben denselben symbolischen Feind: das liberale, materialistische, dynamische Amerika mit all seinen Freiheiten und Exzessen. Und beide Seiten profitieren von den Ängsten der Menschen, vor allem der Männer, zu Verlierern einer rasanten, oft brutalen Modernisierung zu werden.
Es ist für John Kerry, dem populistisches Charisma leider fehlt, schwer, diese Stimmung zu seinen Gunsten umzulenken. Aber es ist keineswegs unmöglich. Bush bietet den Wählern derzeit martialischen Missionsgeist. Der ist in Zeiten der Angst attraktiv. Aber das politische Gebaren, das dazugehörige Weltbild von „Gut gegen Böse“ ist unerhört anstrengend. Viele noch unentschlossene Wähler wünschen sich nichts als eine starke Geste, eine authentische, ehrlich empfundene Rede von John Kerry, einen Hauch von „alternativem Missionsgeist“, um zu sagen: „That’s my man!“ Dann würden sie auch akzeptieren, was Bush seinem Gegner bislang so geschickt als „Schwäche“ oder gar als „Verrat“ auslegen konnte: Kerrys Wandlung vom Kriegsgegner in Vietnam zu einem eloquenten Kriegsgegner daheim, der sich und seine Regierung der Kriegsverbrechen bezichtigte. Kurzum: Er hatte als guter Amerikaner seinem Land den Anspruch der Unfehlbarkeit genommen. Ob die Mehrheit der Amerikaner ihm dies fast dreißig Jahre später als Sakrileg oder als Zeichen der Stärke auslegt, wird sich am 2. November zeigen. Es sei denn, in Florida bricht in den Wahlkabinen wieder das Chaos aus.
© Le Monde diplomatique, Berlin
* Lebt als freie Journalistin in New York. Zuletzt: „Die Amerikaner – Reise durch ein unbekanntes Imperium“, Freiburg (Herder) 2004.