Totschlagen und andere Begabungen
Was von Darwin übrig blieb von Bruno Preisendörfer
Fragt das Schlammerl den Philipp: „Wann haben Sie zum ersten Mal das Sieger-Gen gespürt?“ Sagt der Philipp zum Schlammerl: „Vom ersten Tag an.“ Der Philipp heißt mit Nachnamen Laux und arbeitet als Sportpsychologe für einen Münchner Fußballclub. Das Schlammerl heißt mit Vornamen Elisabeth und arbeitet als Sportjournalistin für eine Frankfurter Zeitung. Das mit dem Sieger-Gen bezog sich auf den FC Bayern. Es war damit aber nicht das viele Geld gemeint, das die Manager ausgeben, um Spieler einzukaufen. Schlammerl zum Philipp: „Kann man dieses Sieger-Gen psychologisch erklären?“ Philipp zum Schlammerl: „Ja, zum Teil.“
Der kuriose Versuch, ein Gen psychologisch zu erklären, wenn auch nur ‚zum Teil‘, stand vor einigen Wochen ausgerechnet in jenem Blatt, das am 7. Juni 2000 mit dem Abdruck einer Teilsequenz des menschlichen Genoms den Beginn des biowissenschaftlichen Jahrhunderts zu markieren meinte. Über sechs FAZ-Seiten marschierten lange Kolonnen von Gs und As, von Ts und Cs, die Chiffren der Basen Guanin, Adenin, Thymin und Cytosin, aus deren Paarungen die sogenannte ‚Strickleiter‘ der DNA besteht.
Weil die Basen mit Buchstaben abgekürzt werden, ist häufig die Metapher vom ‚Buch des Lebens‘ zu lesen. Moleküle in Zellkernen sind aber keine Buchstaben, chemische Verbindungen keine Leitern und Zellen keine Texte. Man sollte Sachverhalte in der Natur nicht mit den Metaphern verwechseln, mit denen sie je nach historischer Epoche kulturell codiert werden.
Um an die Geschichtlichkeit unserer Vorstellungen am Beispiel des Gedächtnisses zu erinnern: In der Antike wurde die Gegend hinter der Stirn gern mit einer Wachstafel verglichen, in die ein Griffel seine Spuren ritzt. Mit der Erfindung der Uhr kam es zu einer Epidemie der Uhrwerkmetapher: Von der göttlichen Schöpfung über den fürstlichen Staat bis zur menschlichen Seele schien nun alles wie Uhren zu funktionieren. Nach der Verbindung von Mechanik und Mathematik durch Pascal und Leibniz galten Geist und Gedächtnis als eine Art höhere Rechenmaschine. Und heute stellen sich die Gehirne der Leute die Gehirne der Leute wie Computer vor oder, nächste Steigerung in der Metaphernkette, als Netzwerk von Computern. Es wird nicht lange dauern bis man das Gedächtnis mit virtuellen Speicherwolken vergleicht ähnlich denen beim ‚Cloud Computing‘.
Das alles sind Sinnbilder, metaphorische Veranschaulichungen, die sich im öffentlichen Gebrauch zu Phrasen verfestigen. In den Hohlformen der Phrasen bieten die Menschen einander ihre Meinungen über unverstandene Sachverhalte an. Dass etwas ‚in den Genen liegt‘, ist ein Beispiel für die Gemeinplätze meinungsstarker Kenntnisschwäche.
Während die Erbinformationen in der Natur der genetischen Evolution unterliegen, unterliegen die Vorstellungen, die sich die Menschen darüber machen, der kulturellen Entwicklung. Man könnte die darwinistische Stammbaummetapher auf die darwinistische Metapher vom Stammbaum anwenden. Das soll auch gleich probiert werden – wenigstens zum Teil.
Es wird sich zeigen, dass die Verwandtschaftsbeziehung zwischen dem neumodischen Genfetischismus und den altmodischen Erblehren der Verwandtschaftsbeziehung zwischen Menschen und Affen nicht unähnlich ist. Der eine stammt nicht direkt vom anderen ab, aber beide haben gemeinsame Vorfahren. Und da scheint es rezessive Gene beziehungsweise rezessive Gedanken zu geben, die an unerwarteten Stellen wirksam werden.
Jedenfalls erinnert manche seit der angeblichen ‚Entzifferung des Genoms‘ im Jahr 2000 kursierende Phrase an das Veranlagungsgerede vor der tatsächlichen Entdeckung der Doppelhelixstruktur der DNA durch Watson und Crick im Jahr 1953. Und die ältere Erblehre ruhte wiederum in einer ideologischen Tradition, die vom Vulgärdarwinismus der kolonialistischen Rassegedanken bis zum Vernichtungsdarwinismus der nationalsozialistischen Rassengesetze führte.
Worin bestehen die Gemeinsamkeiten zwischen dem aktuellen Genfetischismus, der sozialdarwinistischen Vorstellung vom Überleben des Stärksten, der kolonialistischen und schließlich der faschistischen Rassentheorien? In der Erklärung kultureller durch natürliche Unterschiede, in der Rechtfertigung sozialer durch natürliche Ungleichheit, in der Verwandlung naturwissenschaftlicher Begriffe in kulturelle Metaphern, die dann in einem ideologischen Rückkoppelungseffekt wiederum für die ‚Natur der Sache‘ gehalten werden.
Eine der beliebtesten und zugleich gefürchtetsten Phrasen ist die vom ‚survival of the fittest‘. Die Wendung stammt nicht von Charles Darwin, sondern von dem Philosophen und Soziologen Herbert Spencer. Allerdings hat Darwin sie in eine spätere Auflage seines Hauptwerks aufgenommen. Spencer übertrug Darwins Überlegungen zur natürlichen Evolution auf die Entwicklung von Gesellschaften und kann als einer der ‚Klassiker‘ des Sozialdarwinismus gelten. Der ideologischen Wertverschiebung zwischen Darwin und Spencer entspricht eine ideologische Wortverschiebung: von „favoured“ zu „fittest“. Darwins 1859 erschienenes Hauptwerk hieß: „On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life“. Darwin spricht von „favoured races“, was bei den ersten deutschen Ausgaben mit „begünstigten Rassen“ übersetzt wurde.
Darwin spricht also nicht vom Erhalt der Stärksten, sondern von dem der Begünstigten. Diejenigen Rassen, die von der Natur begünstigt sind, erhalten sich in einer bestimmten natürlichen Umwelt am besten, jedenfalls so lange, bis sich die Umwelt ändert und das, was einmal von Vorteil war, unter neuen Bedingungen zum Nachteil wird. Analogisch korrekt aufs Soziale übertragen, würde sich das so anhören: Diejenigen Klassen, die von der Gesellschaft begünstigt sind, erhalten sich in einer bestimmten sozialen Umwelt am besten, jedenfalls so lange, bis sich die soziale Umwelt ändert – zum Beispiel durch eine Revolution – und das, was einmal von Vorteil war, unter neuen Bedingungen zum Nachteil wird.
Die naturalistische Reduktion – um wissenschaftlich auszudrücken, was im politischen Nahkampf als ideologischer Trick funktioniert – ist eine halbe Sache und vielleicht deshalb ganz erfolgreich. Einerseits wird bei der Übertragung des Selektionsgedankens auf gesellschaftliche Verhältnisse die natürliche Umwelt durch die soziale ersetzt, andererseits aber die natürliche Begünstigung gerade nicht durch eine soziale. Vielmehr wird die soziale Begünstigung durch (angebliche) natürliche Stärke gerechtfertigt. Und dafür eignet sich Spencers „fittest“ besser als Darwins „favoured“.
Das ‚survival of the fittest‘ wurde in Deutschland von dem Mediziner und Zoologen Ernst Haeckel bekannt gemacht. Er war der große Popularisierer der Evolutionstheorie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Seine Ideen wirken bis heute nach. Beispielsweise die symbolisch beeindruckende, wissenschaftlich naive und ideologisch folgenreiche Vorstellung eines evolutionären Stammbaums mit Wurzel und Wipfel, mit Hauptstamm, Ästen und Zweigen: Symbolisch beeindruckend, weil der Baum der Evolution an den Baum des Paradieses in der Genesis anschließt; wissenschaftlich naiv, weil die Evolution kein artiges Aufstreben der Arten ist, sondern ein undurchdringliches Speziengestrüpp – auch Darwins Handskizze erinnert eher an einen Strauch; ideologisch folgenreich, weil ein Baum-Modell viel klarer als ein Strauch-Modell das Bedürfnis nach Hierarchien artikuliert, denen zufolge der schwarze Mensch unter dem weißen steht wie der Hominide unter dem Homo sapiens.
Sozialdarwinismus und Elterngeld
„Die Naturmenschen“, schrieb Haeckel, „stehen in psychologischer Hinsicht näher den Säugetieren als dem hochzivilisierten Europäer; daher ist auch ihr individueller Lebenswert ganz verschieden zu beurteilen.“ Haeckel war Ehrenmitglied der 1905 gegründeten Gesellschaft für Rassenhygiene, die laut Satzung „die Förderung der Theorie und Praxis der Rassenhygiene unter den weißen Völkern“ bezweckte. Mitglieder dieser Gesellschaft waren auch der Schriftsteller Gerhart Hauptmann und der sozialdemokratische Hygieniker Alfred Grotjahn. Damals ging der Erbfanatismus durch alle politischen Lager, so wie heute der Genfetischismus parteiübergreifend zum Mainstream wird.
Auch die Evolution von Ideen und Ideologien verläuft eher gestrüppartig als nach dem Stammbaum-Modell. Dennoch gibt es über die Epochen hinweg Entsprechungen zwischen dem Denken in Sieger-Genen. Der englische Publizist Walter Bagehot hat 1872 Darwins ‚natürliche Zuchtwahl‘ auf gesellschaftliche Verhältnisse übertragen: „Physics and Politics“, lautet der Titel, „or Thoughts on the Application of the Principles of ‚Natural Selection‘ and ‚Inheritance‘ [Vererbung] to Political Society“. Darin heißt es: „Erwägen wir, worin ein Dorf englischer Kolonisten einem Stamm australischer Eingeborener überlegen ist. Unzweifelhaft sind die Engländer in einer, und zwar der hauptsächlichen Hinsicht überlegen. Sie können die Australier im Krieg schlagen, wann immer es ihnen gefällt; sie können ihnen alles wegnehmen, was ihnen gefällt; und sie können jeden von ihnen töten, den sie auswählen.“
Für Bagehot manifestiert sich Überlegenheit nicht nur im Totschlagen, sondern noch in anderen Begabungen. So haben „die Nachkommen kultivierter Eltern durch angeborene Nervenorganisation eine größere Anlage zur Kultivierung als die Nachkommen der Unkultivierten“. Auch Darwin glaubte, „dass Erziehung und Umgebung nur eine geringe Wirkung auf den Geist eines jeden ausüben und dass die meisten unserer Eigenschaften angeboren sind“. In seinem zweiten Hauptwerk „Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl“ warnte er, „… es dürfen die Fähigsten nicht durch Gesetze oder Gebräuche daran verhindert werden, den größten Erfolg zu haben und die größte Zahl von Nachkommen aufzuziehen.“
So gesehen ist die Einführung des staatlichen Elterngelds eine darwinistische Maßnahme. Es ist nach Einkommen gestaffelt und beträgt bei Geringverdienern mindestens 300 Euro, bei Gutverdienern höchstens 1 800 Euro. Je mehr man verdient, desto mehr Elterngeld bekommt man, weil man es mehr verdient. Diese typisch sozialdarwinistische Tautologie dominierte die öffentliche Diskussion vor der Einführung des Elterngelds. Susanne Gaschke etwa rechtfertigte die Höhenunterschiede bis zum Sechsfachen in mehreren Zeit-Artikeln: „Die Einkommensabhängigkeit [des Elterngelds] drückt ganz nüchtern das Ziel dieser staatlichen Subventionen aus: Sie soll Nachwuchs auch bei den Gut- und Besserverdienenden fördern, denn davon gibt es zu wenig.“
Aus der liberalen Mittelschicht, die damals noch nicht genug vor Interventionen des Staates warnen konnte, ertönte im Kampf ums Überleben und Vermehren der eigenen Begabungsgene die Forderung nach einer staatsinterventionistischen Prämie, um „die soziale Spaltung der Fortpflanzung zumindest mildern“ zu können, wie Gaschke seinerzeit schrieb: „Sonst wird Fortpflanzung ein Unterschichtenmerkmal.“
Durch Zeilen wie diese raunt die Furcht vor sozialer Überfremdung. Eine Argumentationsschleife, die in Zusammenhang mit Migranten als rassistisch erkannt worden wäre, fällt im Sozialkampf gegen die eigene Unterschicht als klassistisch nicht einmal auf. Und doch liegt ihr ein durch und durch naturalistisches Begabungsverständnis zugrunde. Die angeblich genetisch Überlegenen dürfen nicht durch sozialen Ausgleich daran gehindert werden, die größte Zahl an Nachkommen zu zeugen. Vielmehr muss der soziale Ausgleich denjenigen zugutekommen, die ihn genetisch verdienen. Im genfetischistischen Gesellschaftsbild kehrt Darwins verstiegene Warnung als Forderung nach Finanzhilfe für fortpflanzungsgehemmte Akademiker wieder.
Ein anderes Beispiel für die eigentümliche Renaissance der Erblehre beim Thema Begabung liefert Josef Kraus, ehrenamtlicher Präsident des deutschen Lehrerverbands. Im Dezember schrieb er in der von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte: „Die Forschung hat seit mehreren Jahrzehnten eindeutig nachgewiesen, dass 70 Prozent des kognitiven Potentials durch Erbfaktoren bestimmt sind.“
Alles, was ‚die Forschung‘, wer immer die geheimnisvolle Dame sein mag, in dieser Hinsicht ‚nachgewiesen‘ hat, ist ihre Ratlosigkeit darüber, was dieses ‚kognitive Potential‘ überhaupt sein soll. Nicht einmal auf einen gemeinsamen Intelligenzbegriff konnte man sich einigen. Unter intelligenteren Intelligenzforschern kursiert deshalb ‚seit mehreren Jahrzehnten‘ der selbstironische Witz, Intelligenz sei das, was Intelligenzforscher messen.
Man könnte Äußerungen wie die hier bloß beispielhaft zitierten auf sich beruhen lassen, hätten sie keinen Einfluss auf das praktische Leben. Aber Sichtweisen wie die von Susanne Gaschke prägen die mittelschichtorientierte Sozialpolitik und Sichtweisen wie die von Josef Kraus die mittelschichtorientierte Schulpolitik.
Schon vor zehn Jahren fürchtete Noelle Lenoir, damals Ethikberaterin bei der EU-Kommission: „Sogar bei Schulkindern wird man danach suchen, ob schlechte Leistungen genetisch bedingt sind.“ Im gleichen Jahr tobte in Deutschland eine Züchtungsdebatte, ausgelöst durch Peter Sloterdijks Menschenparkrede. Sloterdijk wurde vorgeworfen, er wolle Menschen mit verschiedenen Eigenschaften züchten, so wie einst Gregor Mendel in seinem Klostergarten Erbsen mit verschiedenen Farben gezüchtet hatte.
Vieles, was damals Angst, Schrecken und Vorwürfe auslöste, gehört inzwischen zum genfetischistischen Phrasenrepertoire. So bewirbt etwa der Verlag C. H. Beck das Buch „Der Darwin Code“ unter anderem mit dieser Frage: „Steht die moderne sexuelle Selbstbestimmung der Frauen im Gegensatz zur Evolution, oder ist sie Teil der biologischen Natur?“ Ein hübsches Beispiel dafür, dass es nicht nur dumme Antworten, sondern auch dumme Fragen gibt. Die ‚moderne sexuelle Selbstbestimmung der Frauen‘ steht deshalb nicht im Gegensatz zur Evolution, weil sie mit der Evolution überhaupt nichts zu tun hat. Sie ist aber auch kein ‚Teil der biologischen Natur‘, weil Menschenrechte oder Frauenrechte keine biologischen, sondern ethische, politische, rechtliche, soziale Angelegenheiten sind.
Heiratsneigung und andere Erbeigenschaften
Theorien über die genetischen Wurzeln des sozialen Verhaltens sind heute so populär wie seit dem späten 19. Jahrhundert nicht mehr. „Fast alles hat irgendeine genetische Basis, Politik eingeschlossen“, schrieb der Harvard-Professor James Q. Wilson kürzlich im amerikanischen City Journal. Nach dieser umwerfend präzisen Behauptung wartete Wilson ähnlich wie Josef Kraus mit einer dieser kuriosen Prozentangaben auf, von denen niemand weiß, wie sie eigentlich zustande kommen: „Bei registrierten Wählern erklären genetische Faktoren 60 Prozent des Unterschieds zwischen denjenigen, die wählen gehen, und denjenigen, die das nicht tun.“
Jeremy Freese von der US-amerikanischen Northwestern University wiederum stellte eine Liste von 52 Charaktereigenschaften und Neigungen zusammen, die „teilweise erblich“ sind, was immer dieses ‚teilweise‘ auch bedeuten mag, das in solchen Kontexten stets herumvagabundiert.
Auf der Freese-Liste stehen zum Beispiel: kognitive Fähigkeiten, Aggressivität, Heiratsneigung, Alter beim Vollzug des ersten Geschlechtsverkehrs, Befürwortung der Todesstrafe.
Die lächerlich schmale Datenbasis, aufgrund derer solche Aussagen zusammengeschustert werden, stammt aus der Zwillingsforschung. Was den Evolutionsbiologen die Fruchtfliege ist, das sind den Sozialgenetikern die Zwillinge. Diese Vorliebe teilen sie mit den Rassehygienikern. Einer von ihnen war Otmar Freiherr von Verschuer. Er attestierte „Sippenwanderern“, vulgo ‚Zigeunern‘, politisch korrekt Sinti und Roma, eine „Unstetigkeit“, die eine „psychische Erbeigenschaft“ sei, vielleicht ähnlich den 52 Charaktereigenschaften von Jeremy Freese oder dem zum Teil psychologisch erklärbaren Sieger-Gen im Sinn der spekulativen Sportgenetik von Schlammerl und Laux.
1935 schrieb Verschuer in der Zeitschrift Der Erbarzt über den ‚Urvater‘ aller Rassetheoretiker: „Gobineau hat mit genialem Griff die Rassenlehre auf die Politik angewandt.“ Comte de Gobineau veröffentlichte von 1853 bis 1856 den „Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen“. Das bizarre Werk avancierte zu einer der ideologischen Inspirationsquellen der nationalsozialistischen Rassen- und Vernichtungspolitik.
In den ideologischen Rahmen der Rasse- und Erblehre wurde auch die Eugenik gespannt. Schon 1930 fragte Hans Luxenburger im Titel einer Schrift: Welche Folgerungen hat die Eugenik aus den Ergebnissen der psychiatrischen Erblichkeitsforschung zu ziehen? Seine Antwort lautet: Die Eugenik ist die Lehre „von der Wohlgezeugtheit des Individuums. Sie will erreichen, dass der ungezeugte Mensch wohlgezeugt sein wird im Sinne größtmöglicher biologischer Vollkommenheit.“
Drei Generationen später, genau gesagt am 22. Dezember 2008, meldete dpa: „Eine Frau aus London erwartet das erste Baby Großbritanniens, das nach einer genetischen Auswahl ohne Brustkrebs-Gen geboren werden soll.“ Nach einer künstlichen Befruchtung waren die entstandenen Embryonen einer Präimplantationsdiagnostik (PID) unterzogen worden. Von den insgesamt elf in vitro erzeugten Embryonen wurden zwei zur Einpflanzung in die Gebärmutter ausgewählt, denen trotz erblicher Vorbelastung die ‚Brustkrebs-Gene‘ BRCA1 und BRCA2 fehlten. Ein Embryo reifte heran. Der ungezeugte Mensch als wohlgezeugt im Sinne größtmöglicher Vollkommenheit?
Die Selektion von Embryonen durch PID im England unserer Tage unterscheidet sich sachlich und ethisch von der Euthanasie behinderter Kinder im Deutschland während der Hitlerzeit. Die schlimme Last unseres historischen Erbes presst uns Aufmerksamkeit für alles ab, was uns am Tun der anderen an die eigenen Untaten erinnert. Reflexempörung führt aber dazu, aus lauter Angst vor den rassehygienischen Verbrechen der Vergangenheit die anders gearteten biopolitischen Gefahren der Zukunft zu übersehen.
So wurde auch in der dpa-Meldung gleich zu Anfang auf die ethische Problematik der in Deutschland verbotenen PID hingewiesen. Aber erst im allerletzten Satz wurde klargestellt, was es mit dem angeblichen ‚Brustkrebs-Gen‘ wirklich auf sich hat: „Es wird davon ausgegangen, dass BRCA 1 und das verwandte BRCA 2 für rund fünf bis zehn Prozent der Brustkrebserkrankungen verantwortlich sind.“ Anders herum: Für 90 bis 95 Prozent der Brustkrebsfälle ist nicht das ‚Brustkrebs-Gen‘ die Ursache.
Das ändert nichts an der Relevanz der BRCA-Gene für Menschen, die damit leben müssen. Eine entsprechende Diagnostik nicht schlankweg zu verwerfen, kann ethisch besser sein, als mit leichtfertig gutem Gewissen dem Problem einfach auszuweichen. Die Bedeutung, die solche Gene für die betroffenen Menschen haben, rechtfertigt jedoch weder sachlich noch ethisch die Instrumentalisierung dieser Einzelfälle für eine allgemeine Gen-Promotion, die zusehends in Marketing übergeht. Ihre tatsächliche medizinische Bedeutung wird von der symbolischen Bedeutung für das Geschäftsmodell Gentechnik weit übertroffen. Derzeit läuft bei der britischen Aufsichtsbehörde Human Fertilisation and Embryology Authority der Genehmigungsantrag für einen standardisierten PID-Test, der für 1 800 Euro in vitro erzeugte Embryonen auf genetische Defekte untersuchen soll.
Die Achillesferse des nackten Affen
Also schickt sich der Mensch an, statt der kulturellen Entwicklung, die ihm nach wie vor über den Kopf wächst, die biologische Evolution in die Hand zu nehmen? Beginnt nun das Naschen vom Baum der Erkenntnis Wirkung zu zeigen und die Nachfahren von Eva und Adam zu befähigen, nicht länger nur zu zeugen, sondern auch zu schöpfen?
Das Schimpansen-Genom unterscheidet sich in der Abfolge der Gs und As, der Ts und Cs von dem unseren um höchstens zwei Prozent. In Kafkas Bericht für eine Akademie erinnert ein zum Menschen umgeschulter Affe die Professoren daran: „Ihr Affentum, meine Herren, soferne Sie etwas Derartiges hinter sich haben, kann Ihnen nicht ferner sein als mir das meine. An der Ferse aber kitzelt es jeden, der hier auf Erden geht: den kleinen Schimpansen wie den großen Achilles.“
Der Fersenkitzel der Darwin’schen Kränkung, dass der Mensch zwar nicht ‚direkt‘ vom Affen abstammt, jedoch zum Gestrüpp der Primatenverwandtschaft gehört, ist heute nur noch ein Nervenkitzel für Leute, die an die Genesis glauben statt an die Genetik. Aber was genau passiert eigentlich bei der Evolution? Ist sie ein – je nach Sichtweise – glücklicher beziehungsweise unglücklicher Zufallsprozess, an dessen Beginn nicht ein wissender und wollender Gott nach menschlichem Bild stand, sondern irgendeine neue Eiweißverbindung?
So hat es der Evolutionsbiologe Axel Meyer wohltuend nüchtern in der FAZ erklärt: „Zufällig in den Genen auftretende Mutationen führen zu veränderten biochemischen Interaktionen von Genen und Proteinen, die schließlich manchmal auch in veränderten äußeren Erscheinungsbildern der Organismen zum Ausdruck kommen.“ Also liegt es nicht ‚in den Genen‘, sondern zwischen Genen und Proteinen, wenn es schon irgendwo liegen muss, dass es durch zufällige (!) Mutationen manchmal (!!) auch (!!!) zu Veränderungen kommt.
Die Evolution ist ein Prozess ohne Ziel, Sinn und Zweck, vor allem ist sie kein Lernprozess, in dem sich die ‚Fitten‘ der Umwelt anpassen. Es gehört zu den Grunddogmen der Evolutionstheorie, dass erlernte Fähigkeiten nicht vererbt werden.
Allerdings steht vor dem botanischen Garten in Paris ein Typ auf dem Sockel, der anderer Meinung war. Die Inschrift auf dem Sockel lautet „ Begründer der Evolutionstheorie“, und da sich das Denkmal in Paris befindet, ist damit nicht der Engländer Darwin gemeint, sondern der Franzose Jean-Baptiste Lamarque, der drei Generationen vor Darwin über die Entstehung der Arten nachdachte. Er vermutete, dass Individuen einer Spezies die Eigenschaften, die sie im Leben nicht brauchen, allmählich verlieren, während sie nützliche weiterentwickeln. Die Giraffe, glaubte er, hat deshalb einen langen Hals, weil sie ihn Generation um Generation nach immer höheren Blättern streckte.
Viele vernünftige Menschen sprechen wie Darwinisten und denken wie Lamarque. In Tierfilmen werden Pfauenschwänze und Pavianärsche damit erklärt, dass damit die Weibchen beeindruckt werden sollen. Warum jedoch die Weibchen nicht einfarbige Kavaliershintern vorziehen und weniger eitle, dafür beweglichere und überlebensfähigere Radschläger, fällt bei solchen pseudodarwinistischen, in Wahrheit lamarquianischen Deutungen als Problem gar nicht auf. Darwin selbst hat übrigens lange über die nicht sehr überlebensfitte Befiederung des sogenannten starken Geschlechts beim Pfau gegrübelt.
Für den Fall, dass Tierfilme nicht akzeptiert werden als Beweis für das Überleben der Ideen Lamarques im darwinistischen Mainstream, sei der Stern als weiterer Belastungszeuge aufgerufen. Anlässlich des 200. Geburtstags von Darwin erkundigte er sich bei Axel Meyer in einem Interview: „Evolution geschieht durch Anpassung eines Lebewesens an seine Umwelt. Wie gelangt diese Veränderung ins Erbgut?“ Axel Meyer antwortete: „So gefragt zäumt man das Pferd von hinten auf. Die Variation muss schon im Erbgut vorhanden sein. Dann wird selektiert.“ Weniger geduldig reformuliert: Die Gene sind eben keine Speicher, in die im Überlebenskampf erworbene Fähigkeiten ‚hineingelegt‘ werden. Erworbenes Vermögen wird nur in der Gesellschaft vererbt, nicht in der Natur.
Trotzdem trösten sich die Menschen, zweckorientiert und sinnbedürftig wie sie nun einmal sind, über die darwinistische Zumutung der Evolution als Zufallsprozess gern mit einem Schuss Zielgerichtetheit hinweg. Es ist, im Wortsinn, verrückt: Während die kulturelle Evolution, die wirklich eher mit Lamarque beschreibbar wäre, mit darwinistischen Metaphern begriffen, besser gesagt: betatscht wird, mag man bei der natürlichen Evolution, der allein das darwinistische Modell angemessen ist, von lamarquianischen Illusionen nicht lassen. Die zur Diva angeschwollene Prinzessin der genetischen Alltagsweisheit fühlt sich auf Mendels Erbsen immer noch nicht recht wohl.
„Was wir bergen in den Särgen,
ist der Erde Kleid.
Doch der Gene Reigen, den die Enkel zeigen,
führt zur Ewigkeit.“
Das stand ebenso wie das Schlammerl-Interview und die Genomsequenz in der FAZ: im schwarzen Rahmen einer Todesanzeige.
Bruno Preisendörfer ist Schriftsteller in Berlin. Autor u. a. von „Das Bildungsprivileg“, Frankfurt am Main (Eichborn) 2008. © Le Monde diplomatique, Berlin