Gekritzel am Krisenrand
von Mathias Greffrath
Im aktuellen Umfeld sei jeder Augenblick im nächsten Moment überholt, sagte der Commerzbank-Chef im November, und das gilt immer noch. Werden es 4,5 oder 5 Millionen Arbeitslose sein, wird der Export um 15,6, 16,5 Prozent oder 21 Prozent schrumpfen, das Wachstum um 4,5 oder 7 Prozent, der Welthandel um 3 oder 9 Prozent? Woher nehmen die noch den Mut für die Stellen hinter dem Komma? „Die Worte werden einem im Mund alt“, sagt Professor Sinn vom ifo-Institut, und wenig später: Die US-Rezession wird uns Anfang 2010 voll erwischen. Vor einem Jahr erklärte er im Fernsehen einer Hotelputzfrau mit einem 4-Euro-Job, sie müsse eher noch billiger werden, bis der Arbeitsmarkt leergeräumt sei, dann würden die Löhne wieder steigen.
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250 Jahre lang hat die Wirtschaftswissenschaft mit wachsendem mathematischen Raffinement Gesetze postuliert, deren Grundlage die Regeln von Angebot und Nachfrage und das individualistische Nutzenkalkül waren. Die Klassiker Smith und Ricardo lokalisierten das Maximierungsprinzip in der menschlichen Natur, Marx im Zwang der kapitalistischen Konkurrenz.
„Dass sich mit dieser Theorie eine Menge sozialer Ungerechtigkeiten und eindeutiger Grausamkeiten als unvermeidliche Begleiterscheinung des Fortschritts erklären und der Versuch, die Dinge zu ändern, als wahrscheinlich mehr Schaden als Gutes stiftend hinstellen ließ, brachte ihr die Unterstützung der herrschenden Kräfte ein.“ Schrieb John Maynard Keynes 1936. „Als einzige unter den Menschen“, spottete er, „unterwerfen sich die Wirtschaftsredakteure“ noch dem Dogma des freien Spiels der Kräfte; wünschenswert sei aber der Übergang von der „wirtschaftlichen Anarchie zu einem Regime, das bewusst auf eine Überwachung und Lenkung der wirtschaftlichen Kräfte im Interesse von sozialer Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Stabilität zielt“. Aufklärung, schrieb Denis Diderot, „heißt: falsche Ideen vom Sockel stoßen. Und zu Unrecht heruntergestoßene wieder daraufstellen.“
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Keynes hat die Kraft des Kapitalismus unterschätzt. Zwar schwächte sich in den Siebzigerjahren das Wachstum der Nachkriegsjahre ab, wie er vermutet hatte, aber seine Hoffnung auf eine durch Investitionslenkung und Arbeitszeitverkürzung stabilisierte Wirtschaft ging nicht auf. Die Industrialisierung der Exkolonien ließ sie zu Billigproduzenten aufsteigen; ihre Waren und Kredite verlängerten den American Dream; die europäischen Wirtschaften florierten durch Markterweiterung; die deutschen Exportrekorde wurden durch sinkende Löhne, Arbeitslosigkeit und Sozialabbau erkauft.
Durch alles dies stiegen Mehrwertrate und Ungleichgewichte, die überschießenden Profite flossen in die Privatisierung der Gemeingüter, am Ende in die Spekulation. Die Finanzkrise ist der schlimme Schaum einer klassischen, diesmal globalen Überakkumulation.
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Die „Theorie“ der Staatenlenker und Experten lautet: Wenn das Kreditrad sich wieder dreht, wird die Weltkonjunktur zünden, das Wachstum anspringen, Deutschland auch in der nächsten Runde die Export-WM gewinnen. Die Metaphern riechen nach Mineralöl.
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„Wie lange wird das so weitergehen“, fragt der Weltökonom Wallerstein. „Keiner weiß es, aber wahrscheinlich noch einige Jahre. Regierungen werden mit Protektionismus, sozialdemokratischen Linderungen und vielleicht mit Bankenverstaatlichungen die Zeit überbrücken, so wie man bei einem Tornado in den Keller geht. Wir, das Volk, sollten nachdenken, was wir zu tun haben, wenn sie aus dem Keller kommen. Die Frage ist: Was werden wir danach aufbauen? Das erst wird die wirkliche politische Schlacht sein, denn draußen wird es ziemlich anders aussehen.“ Die Alternative heißt: „Überwachung und Lenkung“ der wirtschaftlichen Kräfte nach sozialen und ökologischen Kriterien – oder Überwachung und Lenkung der Kollateralschäden „freier Märkte“.
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Der Konjunktureinbruch wäre auch ohne den Crash der Finanzmärkte gekommen, schreibt der „linke“ Keynesianer Karl Georg Zinn. Vielleicht auch nicht. Das Wachstum der globalen Akteure hat sich von den Binnenwirtschaften abgekoppelt, man kann sich also auch eine Fortsetzung der Globalisierung vorstellen, bei der die Überflüssigen keine Rolle mehr spielen – mit Hartz IV, V, VI alimentiert, mit Nahrungshumanitarismus für den Süden, mit Söldnern an den Grenzen. Dann bestätigte sich, was Rosa Luxemburg vermutete: Es gibt keine inneren, nur äußere Schranken des Kapitalismus: zu wenig Energie und Wasser, zu viel CO2. Und das Ende einer Hochzivilisation, wie wir sie kennen.
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Es ist eine Illusion, die klimatische und soziale Überhitzung des Planeten ließe sich allein mit Technik vermeiden. Von dieser Erkenntnis geht die Studie „Zukunftsfähiges Deutschland“ (herausgegeben von Brot für die Welt, BUND und Wuppertaler Institut) aus – ein dickes „Drehbuch“ für ein neues Wohlstandsverständnis. Es setzt auf die drei Viertel der Bevölkerung, die sich für drastische Maßnahmen zur CO2-Minderung, eine Verdoppelung der Entwicklungshilfe und eine Vergesellschaftung der öffentlichen Güter aussprechen. Individuelle Selbstbegrenzung braucht Außenhalt, Garant des Wandels könne nur der Staat sein, schreiben die Autoren. „Unerwartete Brisanz“ gewinne in diesem Zusammenhang Artikel 14.2 des Grundgesetzes: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“
Die Illusion unendlichen Wachstums steckt nicht nur in den Modellen der Ökonomen, sie ist tief in die Wunschrinde der Gehirne gedrungen. Für ein Kilo Brot mussten wir 1960 20 Minuten arbeiten, jetzt sind es 10. Für Flaschenbier 15 respektive 3, für ein Hähnchen 133 gegenüber 12. Für den Fernseher sank der Wert von 351 auf 29 Stunden, von Textilien ganz zu schweigen. Wie realistisch wäre eine Politik, die den Bürgern des Westens zumutete, auf dem Niveau von 1970 oder 1990 zu leben, damit, sagen wir, eine Billion im Jahr als Investition in eine stabile Welt frei wird?
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Ein kapitalistischer Markt muss mindestens 1,8 Prozent im Jahr wachsen, sonst bricht er zusammen, hat Hans-Christoph Binswanger – der Erfinder der Ökosteuer – ausgerechnet. Über derlei Kalküle gibt es unter den Ökonomen nicht einmal eine Diskussion. Schon gar nicht darüber, dass uns die sozialen und ökologischen Schäden zwingen könnten, selbst dieses Minimalwachstum sukzessive abzubauen. Wie eine Wirtschaft ohne Wachstum funktionieren kann, „das ist die Jahrhundertfrage“, sagt Wolfgang Sachs, einer der Autoren der Zukunfts-Studie. „Es gibt Elemente einer Antwort, aber kein festes Konzept. Ich erwarte, dass sich darüber endlich mal die zuständige Wirtschaftswissenschaft den Kopf zerbricht. Wie kann eigentlich eine Wirtschaft aussehen, die nicht wachsen muss?“
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Die herrschende Theorie ist bis heute methodisch nicht in der Lage, diese Frage zu beantworten. Soziale oder ökologische Zielsetzungen gelten weithin als „externe“ Faktoren für Modelle, die von der prinzipiellen Verfügbarkeit von Ressourcen und der unendlichen Steigerung der Bedürfnisse ausgehen. Die seltenen Theoretiker einer „ökologischen Ökonomie“ wie Herman Daly erhalten allenfalls alternative Nobelpreise; sie thematisieren die Naturschranken, aber sagen wenig über die Technik des Schrumpfens. Die „Jahrhundertaufgabe“ für die Wirtschaftswissenschaft wäre eine „politische Ökonomie“. Zu ihr gibt es es kaum Überlegungen.
Grundlegend ist immer noch die von Adolph Lowe, der in den Zwanzigerjahren Forschungsdirektor am Kieler Institut für Weltwirtschaft war und 1933 emigrieren musste. In seiner „Politischen Ökonomik“ forderte er, ausgehend von der Erkenntnis, dass die Annahme selbststeuernder Märkte nur im Frühkapitalismus realistisch war, eine „Inversion“ der Volkswirtschaftslehre. Seine „instrumentale Analyse“ geht von politisch zu setzenden „Makrozielen“ (ökologische Notwendigkeiten oder soziale Wünschbarkeiten) aus; dann werden die Marktprozesse und die Verhaltensweisen ermittelt, die zur Erreichung dieser Ziele notwendig sind; in einem dritten Schritt bestimmt sie die wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die zur Motivierung und Stabilisierung dieser Verhaltensweisen erforderlich sind – vom sanften Mittel der Information bis zum extremen der Nationalisierung. Lowe machte sich keine Illusionen über die Akzeptanz in der ökonomischen Community. Seine Hoffnung war, „kleine Katastrophen“ könnten die Orthodoxie der Professoren und das Laissez-faire der Politik erschüttern. „Instrumentale Analyse“ wird angewandt – in den Planungsbüros der Konzerne, aber bis heute gibt es bei uns keine Regierungsstelle, die systematisch über alternative Zukünfte nachdächte.
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Sollte ich das Festgeldkonto und die Lebensversicherung auflösen, oder kommt die Inflation erst in zwei Jahren? Ist es sinnvoll, jetzt auf Kredit Gold zu kaufen oder eine Wohnung? Oder was? Kleine Fragen am Rande der Telefonate.
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Auf dem Schreibtisch des Sachbearbeiters liegt die FAZ. Auf einer ganzen Seite hochgestylte Politikerporträts: Baron zu Guttenberg hüpft in violetten Gucci-Wildlederschuhen die Stufen hinunter – Al Pacino auf dem Weg zum Rendezvous? Steinmeier bindet sich auf einem Nobelhotelbett, neben sich den einsatzbereiten Pilotenkoffer, die Krawatte – „Lost in Translation“? Guido Westerwelle im T-Shirt unterm Nadelstreifen, mit präpotent geballten Fäusten – Disco-Fever? Andrea Nahles rot romantisches Cape wallt wagnerisch vor nebligen Rheinfelsen; Gesine mit dem Schwan im Boot. So schlimm habe selbst Schröder es nicht mit sich treiben lassen, sagt der Sachbearbeiter. „Warum machen die das? Wo leben die? Wen vertreten die?“ Und dann verwickelt er mich in ein Gespräch über Artikel 14.2.
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„It’s good to change your lightbulbs; it’s more important to change your leaders“ (Thomas Friedman).
© Le Monde diplomatique, Berlin