03.04.2009

Erfassen, erfinden, erraten

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Erfassen, erfinden, erraten

Bevor man andere beobachtet, muss man erst sich selbst kennen von Germaine Tillion

Mir fehlte 1934 jede Erfahrung, das war mir durchaus bewusst. Um mir diese Erfahrung anzueignen und zu verstehen, was ich sah, musste ich zunächst viele Informationen sammeln. Denn um zu verstehen, muss man erst einmal möglichst systematisch lernen.

Soziologen und Historiker sind in der gleichen Lage: Sie haben die Fakten, sehen also die Folgen. Es kommt aber auf die Ursachen an. Wenn man die Ursachen für viele gesammelte Folgen finden oder erfinden will, muss man eine Auswahl treffen. Und was lenkt diese Auswahl, die man verstehen nennt? Nichts anderes als die selbst gemachten Erfahrungen.

Später sollte ich lernen, dass es für jeden von uns nur eine einzige gültige Erfahrung gibt: die Erfahrung, die wir mit eigenen Sinnen, am eigenen Leib verspürt haben. Die banalste Erfahrung, die jeder Mensch kennt oder zu kennen glaubt – zum Beispiel der Hunger –, lässt sich ebenso wenig erfinden wie jene quälenden Konflikte, an denen eine Persönlichkeit wächst. Erfassen, erfinden, erraten, also auf unendlich verschiedene Art und Weise die Empfindungen verknüpfen, die man durch Erfahrung und nur durch Erfahrung gewonnen hat.

Ich habe nur den Zugang eines Menschen – meiner selbst –, und es ist unmöglich, die anderen einzuordnen, wenn nicht auf der Grundlage dieser ursprünglichen Ordnung, die ich nur in mir selbst finden kann. Wenn man sich selbst nicht kennt, wird man niemals jemanden kennen. Und ich würde sogar sagen, man lernt auch sich selbst nur durch die Erfahrung kennen. Die Erfahrung mit mir selbst, die bei der Geburt beginnt. Bei den wenigen Menschen, die von Anfang an aus jeder Erfahrung lernen, mag es aussehen wie Intuition.

Nach vierzehn Monaten Gefängnis wurde ich im Oktober 1943 ins Konzentrationslager Ravensbrück deportiert. Dann, wirklich erst dann holte ich meine humanistische Bildung nach, erfuhr ich von Verbrechen und Verbrechern, vom Leid und den Leidenden, von Feigheit und den Feiglingen, von Angst, Hunger, Panik, Hass, von Dingen, ohne die man keinen Schlüssel zum Menschlichen hat.

Schon der Gedanke, diese Erfahrung in allen Einzelheiten zu schildern, ist eine Qual. Aber ich kann diese Erfahrung nicht beiseiteschieben, kann ihre Erwähnung nicht unterlassen und muss zugeben, dass es zwei Arten von Niederlage gibt – die der anderen und die, die uns selbst vernichtet, zwei Arten von Demütigung, zwei Arten von Entfremdung, zwei Arten von Folter – die, die wir erleiden, und die, die wir zufügen, zwei Arten von Rachsucht – die, die wir empfinden, und die, die wir anderen einflößen.

Natürlich hatte ich instinktiv erfasst und ganz selbstverständlich übernommen, mit wie viel Scham alle Riten um die Nahrung in Ländern mit chronischem Hunger verbunden sind. Aber wirklich verstanden habe ich es erst, als ich sah, wie sich schwankende Gespenster im eisigen Morgengrauen in einer gleichen Regung abwandten, um nicht dem Blick eines anderen Gespenstes zu begegnen, das – plötzlich von den anderen isoliert – etwas kaute, während man in der sich ausbreitenden Stille nichts anderes hörte als den dröhnenden Lärm der Zähne, die über etwas kratzten, der Lippen, die an etwas saugten, und des Kehlkopfes, der sich bewegte, um etwas zu schlucken.

Zwischen diesen beiden Erfahrungen habe ich viele Bekanntschaften gemacht, die meine wissenschaftliche Ausbildung mindestens ebenso gut fortsetzten, wie all die Jahre des Studiums im eigentlichen Sinne. Ich möchte betonen, dass wissenschaftliche Beziehungen, die auf der Beobachtung von anderen beruhen, falsch und künstlich sind. Um eine Bevölkerung kennenzulernen, muss man sie gleichzeitig erleben und betrachten.

1946, in der Zeit größter Erschöpfung nach meiner Gefangenschaft in Deutschland, bat mich ein internationales Institut um einen Bericht über die wissenschaftlichen Untersuchungen, die ich zwischen 1934 und 1940 in Algerien gemacht hatte. Doch meine drei wichtigsten Manuskripte waren verschwunden und meine Dokumentation zu detailliert, um sie aus der Erinnerung zu rekonstruieren.

Ich blätterte in den wenigen Seiten und Entwürfen, die die Katastrophe überstanden hatten und die ausschließlich von meiner ersten Forschungsreise stammten, nahm aber nur noch die Unzulänglichkeiten dieser Dokumente wahr, die ich in der Unordnung meines verwüsteten Hauses gefunden hatte. Doch ich fühlte mich moralisch in der Schuld gegenüber den wissenschaftlichen Einrichtungen, die mir vertraut hatten, und machte mich daran, die Werke zu rekonstruieren. Gleichzeitig war ich besessen von der Sorge um das Gemeinwohl: Nur das Gefühl einer objektiven Nützlichkeit half mir gegen die ständige körperliche Erschöpfung und das Desinteresse für das Leben selbst. Wozu aber sollte diese Rekonstruktion dienen, abgesehen von der rein formalen Rechtfertigung meiner Reisen?

Um der Erfahrung, die ich gewonnen hatte, eine Chance zu geben, nützlich zu sein, beschloss ich, den Text, den ich zu schreiben begann, „Methoden einer Sozialuntersuchung im Berberland“ zu nennen, um deutlich zu machen, dass ich ihm eine methodische Richtung geben wollte. Wie geht man vor, wenn man aus Paris direkt zu den afrikanischen Stämmen kommt, die man untersuchen soll?

Ich war bestrebt, einen ernsthaften, kompetenten und trockenen – in einem Wort wissenschaftlichen – Bericht über die materiellen und intellektuellen Probleme zu schreiben, denen ich begegnet war, über die Lösungen, für die ich mich entschieden hatte, und die Veränderungen, denen ich diese Lösungen später unterworfen hatte. Um aber meine Erinnerungen an Afrika wiederzufinden, musste ich zunächst mühsam das glühende Gestein der jüngsten Vergangenheit beiseiteräumen. Erst als ich die Mauern der früheren Vergangenheit berührte, ergossen sich daraus frische, stürmische, unwiderstehliche Quellen.

Ein paar Tage lang legte sich diese wieder aufgetauchte Vergangenheit wie ein Schirm vor die erstickende Gegenwart. In seinem Schutz holte ich tief Luft. Als ich jedoch meine Untersuchung schließlich zusammenfassen wollte, mischten sich die Fäden erneut: In einer Hand hielt ich den Faden der wissenschaftlichen Beobachtung, die objektiv sein wollte, in der anderen das erlebte und durchlittene Wissen um Menschen und Situationen.

Aus scholastischem Konformismus, um diejenigen zufriedenzustellen, für die mein Text bestimmt war, bemühte ich mich, gegen diese Interferenzen zu kämpfen. Ich konnte mich jedoch nicht durchringen, sie vollständig auszuklammern. Mir schien (und mir scheint mehr und mehr), dass für eine geisteswissenschaftliche Darlegung reine Gelehrsamkeit nicht ausreicht. Eine selbst erlebte, vielfältige Erfahrung bildet das unverzichtbare Substrat des authentischen Wissens um unsere Art. Nur wenn man es selbst erlebt, kann man sich davon überzeugen, dass die erlebten Ereignisse der Schlüssel für die beobachteten Ereignisse sind. Wenigen gequälten Seelen ist es zuweilen gegeben, ohne weiteres die Erfahrung der anderen zu verstehen, aber die meisten Menschen kennen und verstehen nur das, was sie persönlich und sehr gründlich getan, erlernt haben. Auch die Umkehr ist wahr und trifft auf jeden zu: Um sich gut zu kennen, muss man lernen, seine eigene Erfahrung mit fremden Augen zu sehen. Schmerzhafte Fehler könnten vermieden werden, wenn es gelingen würde, dieses System der doppelten Referenz etwas zu erweitern.

Als ich die letzte Seite meines Textes vollendet hatte, stellte ich nicht ohne Verdruss fest, dass er zwar dem entsprach, was ich vorgehabt hatte, nicht aber dem, worum man mich gebeten hatte: einem Bericht für eine internationale wissenschaftliche Zeitschrift. Nachdem ich die Passagen gestrichen hatte, die mir zu lebendig erschienen, brachte ich dennoch eine Kopie zur Post. Der Rest des Manuskripts verschwand in einer Schublade.

Eine Zivilisation zu beobachten und sich selbst zu beobachten, während man sie beobachtet, sind zwei ganz verschiedene Dinge. Zwischen 1934 und 1940 dachte ich nur an das, was ich sah, und die beste Art, es zu beschreiben. Ein paar Jahre später sah ich mich jedoch zu jener Selbstbesinnung gezwungen, ohne die es keine wahre Beobachtung gibt und zu der jeder Soziologe eines Tages gezwungen ist. Was ist Soziologie? Was ist Ethnologie? Das ist zunächst die absolute Infragestellung desjenigen, der sich mit ihr beschäftigt. Erst dann kann er beobachten, wie eine Zivilisation funktioniert, und erkennen, was in ihr den Erschütterungen des Lebens widerstehen kann.

Wenn man nach den Übergängen zwischen dem „wilden Denken“ (wie es Claude Lévi-Strauss beschrieben hat) und dem „modernen Denken“ sucht, stellt man fest, dass sich die sogenannten exakten Wissenschaften und die Geisteswissenschaften in genau entgegengesetzte Richtungen entwickelt haben. Der Wilde glaubte, er „nehme teil“ am Universum, dieser Stern, jenes Tier, jene Orientierung hätten Einfluss auf sein Leben, sein Sein, weshalb er zögerte, sich mit Gewissheit von ihnen abzugrenzen. Derselbe Mensch sah sich jedoch ohne zu zögern als ein anderes Wesen an als alle Individuen, die nicht unmittelbar zu seinem Clan gehörten.

Heute grenzen sich die Physiker, Chemiker und Astronomen ohne jedes Zögern vom Objekt ihrer Forschung ab, heute sind es die Humanisten, die teilnehmen: Wenn ein Naturwissenschaftler ein Phänomen durch das Mikroskop betrachtet, grenzt man das beobachtende Auge, das Instrument, dessen er sich bedient, und das Objekt, das er untersucht, voneinander ab, wobei eine edle Kälte (wissenschaftlich genannt) über dem Vorgang liegt. In den Geisteswissenschaften hingegen sind der Beobachter, das Vergrößerungsglas und die Mikrobe, die sich auf dem Glasträger bewegt, nur durch ungewisse Wände getrennt.

Diese grundlegende Solidarität zwischen Beobachter und Beobachtetem erklärt uns, warum die Geisteswissenschaften mehr als jede andere Wissenschaft so große Mühe hatten, ein präzises Vokabular zu entwickeln: Man kann sehr lange über Chemie oder Astronomie sprechen, ohne etwas von Alchimisten oder Astrologen zu wissen, aber ehe man das Wort „ethnologisch“ über eine Studie schreibt, muss man gut aufpassen und genau definieren, was man darunter versteht.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz Germaine Tillion (1907 bis 2008) war Ethnologin, Widerstandskämpferin in der Résistance und Schriftstellerin.

Le Monde diplomatique vom 03.04.2009, von Germaine Tillion