14.11.2003

Als könnte der Leopard seine Flecken ablegen

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Als könnte der Leopard seine Flecken ablegen

Von J. M. COETZEE

ES gibt bei dieser Preisvergabe von 1987 einen Widerspruch, mit dem ich Schwierigkeiten habe: Wie kommt es, dass einer, der aus einem so bemerkenswert unfreien Land wie dem meinen stammt und dort auch lebt, mit einem Freiheitspreis geehrt wird?

In einer Gesellschaft von Herren und Sklaven ist keiner frei. Der Sklave ist nicht frei, weil er nicht sein eigener Herr ist; der Herr ist nicht frei, weil er ohne den Sklaven nicht auskommt. Jahrhundertelang war Südafrika eine Gesellschaft von Herren und Knechten; jetzt ist es ein Land, wo die Knechte in offener Rebellion sind und die Herren im Zustand der Verwirrung.

In Südafrika bilden die Herren eine geschlossene Erbkaste. Jeder, der mit einer weißen Haut geboren wird, wird in diese Kaste hineingeboren. Weil es unmöglich ist, die Haut, mit der man geboren ist, zu wechseln (kann der Leopard seine Flecken ablegen?), kann man aus der Kaste nicht ausscheiden. Es ist zwar in der Fantasie vorstellbar, man kann symbolisch ausscheiden, aber es gibt keine Möglichkeit, es wirklich zu tun, wenn man nicht den Staub des Landes von den Füßen schütteln will.

Wie erleben die Herren Südafrikas heute ihre Unfreiheit? Absichtlich lasse ich mich hier nicht darauf ein, von unruhigem Schlaf zu reden, von Katastrophenahnung, von der Wiederkehr des Verdrängten in Gestalt von Albträumen. Ich lasse mich hier nicht darauf ein, weil die Menschen heutzutage – und besonders hier in Israel, mit dem Schatten des Holocaust hinter sich – wissen, dass es eine banale Art des Bösen gibt, das kein Gewissen kennt, keine Fantasie und vielleicht keine Träume, das gut isst und schläft und mit sich selbst im Reinen ist.

Stattdessen möchte ich in aller Kürze etwas über die Unfreiheit der Herrenkaste sagen, wie man sie im heutigen gesellschaftlichen Leben erfährt.

Anfang der Fünfzigerjahre, in den ungestümen Jahren, als der große Apartheidbau noch errichtet wurde, verabschiedete man ein Gesetz, das sexuelle Beziehungen zwischen Herren und Sklaven zu einer Straftat machte. Das war das drastischste in einer langen Reihe von Gesetzen, die alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens regelten. Mit ihm beabsichtigte man, die Formen des horizontalen Verkehrs zwischen Weiß und Schwarz zu verhindern. Der einzig erlaubte Verkehr sollte zukünftig vertikal sein; das heißt, er sollte im Erteilen und Entgegennehmen von Befehlen bestehen.

Was war die Bedeutung dieses zutiefst symbolischen Gesetzes? Seine Ursprünge liegen, so scheint mir, in Furcht und Verleugnung: Man verleugnet eine Begierde, die man sich nicht eingesteht, die Begierde, Afrika, den Körper Afrikas zu umarmen; man fürchtet sich davor, von Afrika im Gegenzug umarmt zu werden.

Das Gesetz, das die Liebe zwischen den Rassen verbietet, ist vor kurzem in einem weiteren zutiefst symbolischen Akt aufgehoben worden, als ob man anzeigen wolle, dass der Tag der Abrechnung, der von Alan Paton vor vierzig Jahren vorausgesagt wurde, da ist. „In meinem Herzen wohnt eine große Furcht“, sagt einer von Patons schwarzen Figuren, „die Furcht, dass wir eines Tages, wenn sie auf Liebe aus sind, merken, dass wir auf Hass aus sind.“

Im Zentrum der Unfreiheit der Erbherren Südafrikas steht der Mangel an Liebe. Um es rundheraus zu sagen: Ihre Liebe reicht heute nicht aus, und sie hat seit ihrer Ankunft auf dem Kontinent nicht ausgereicht; außerdem ist ihr Gerede, ihr übertriebenes Gerede, wie sehr sie Südafrika lieben, ständig auf das Land gerichtet gewesen, das heißt auf das, was am wenigsten Liebe erwidern kann: auf Berge und Wüsten, auf Vögel und Tiere und Blumen.

Wer die Bedeutung dieses Redens über Liebe nicht versteht, kann das Wort Liebe durch das Wort Brüderlichkeit ersetzen. Die verdeckte Unfreiheit des weißen Mannes in Südafrika hat sich stets am deutlichsten gezeigt, wenn er einen Augenblick von seinem einsamen Thron herabgestiegen ist, um einem völlig menschlichen und verständlichen Verlangen nach Brüderlichkeit mit den Menschen, unter denen er lebt, nachzugeben, und dabei erschüttert festgestellt hat, dass Brüderlichkeit isoliert nicht zu haben ist, ganz gleich wie stark die Regung auf beiden Seiten empfunden wird. Brüderlichkeit geht immer mit Freiheit und Gleichheit einher. Das vergebliche und im Grunde sentimentale Verlangen, das sich heute in Südafrika in der Reformbewegung äußert, ist ein Verlangen nach Brüderlichkeit, ohne dafür bezahlen zu wollen.

Was ist der Preis, der bezahlt werden muss? Der allergeringste Preis ist die Zerstörung der unnatürlichen Machtstrukturen, die den südafrikanischen Staat bestimmen. Über diese Machtstrukturen gibt es eine Menge zu sagen. Ich werde mich auf eine Bemerkung beschränken. Die deformierten und verkümmerten zwischenmenschlichen Beziehungen, die unter dem Kolonialismus geschaffen und unter dem System, das ungenau Apartheid genannt wird, verschärft wurden, finden ihre psychische Entsprechung in einem deformierten und verkümmerten Seelenleben. Alle Äußerungen dieses Seelenlebens, gleichgültig, wie intensiv, gleichgültig, wie sehr von Jubel oder Verzweiflung durchdrungen, leiden an der gleichen Verkümmerung und Deformation. Ich mache diese Bemerkung wohl überlegt und in vollem Bewusstsein, dass sie auf mich selbst und mein eigenes Schreiben genauso zutrifft wie auf jeden anderen. Die südafrikanische Literatur ist eine Literatur in Fesseln, wie sogar an ihren Höhepunkten offenbar wird, die durchsetzt sind von Gefühlen der Heimatlosigkeit und der Sehnsucht nach einer nebulösen Befreiung. Es ist eine Literatur, die nicht das volle Menschsein spiegelt, unnatürlich beschäftigt mit der Macht und den Verrenkungen der Macht, unfähig, sich von den elementaren Beziehungen Streit, Beherrschung und Unterdrückung wegzubewegen, hin zu der gewaltigen und vielschichtigen menschlichen Welt, die dahinter liegt. Es ist genau die Literatur, die man aus einem Gefängnis erwarten würde. Und ich spreche hier nicht nur vom südafrikanischen Gulag. Wie man das von einem Land von solcher Weite erwarten würde, gibt es eine südafrikanische Literatur der Weite. Aber sogar diese Literatur der Weite spiegelt, wenn man sie genau untersucht, Gefühle des Gefangenseins, des Gefangenseins in unendlichen Räumen.

Vor zwei Jahren stand Milan Kundera auf diesem Podium hier in Jerusalem und huldigte Miguel Cervantes, dem ersten aller Romanciers, auf dessen Riesenschultern wir Schriftsteller-Pygmäen eines späteren Zeitalters stehen. Wie gern würde ich mich dieser Huldigung anschließen, ich und so viele meiner Schriftstellerkollegen aus Südafrika! Wie sehr sehnen wir uns, eine Welt der pathologischen Bindungen und abstrakten Gewalten, eine Welt, geprägt von Zorn und Gewalt, zu verlassen und uns in einer Welt anzusiedeln, in der ein lebendiges Spiel der Gefühle und Ideen möglich ist, einer Welt, in der wir wirklich einen Beruf haben.

Aber wie kommen wir von unserer Welt der gewalttätigen Trugbilder zu einer wahrhaft lebendigen Welt? Das ist ein Rätsel, das Cervantes’ Don Quijote für sich ganz leicht löst. Er lässt das heiße, staubige, langweilige La Mancha hinter sich und betritt die Fabelwelt durch einen puren Willensakt der Fantasie. Was hindert den südafrikanischen Schriftsteller daran, einen ähnlichen Pfad einzuschlagen, sich aus einer Situation herauszuschreiben, wo seine Kunst, wie gut gemeint auch immer, zu langsam ist, zu altmodisch, zu indirekt – wir müssen hier ehrlich sein –, um mehr als eine äußerst geringfügige und verspätete Wirkung auf das Leben der Gemeinschaft oder den Gang der Geschichte zu haben?

Ihn hindert, was auch Don Quijote hindert: die Macht der Welt – in der sein Körper lebt –, sich ihm aufzudrängen, ihm und letztlich seiner Fantasie, die, ob ihm das nun gefällt oder nicht, seinem Körper innewohnt. Die Rohheit des Lebens in Südafrika, die nackte Gewalt seiner Anziehungskraft, nicht nur auf der körperlichen Ebene, sondern auch auf der moralischen, seine Fühllosigkeit und seine Brutalität, seine Begierden und Süchte, seine Habsucht und seine Lügen, machen es genauso unwiderstehlich wie unliebenswert. Die Geschichte von Alonso Quijana oder Don Quijote – obwohl nicht Cervantes’ kluges und rätselhaftes Buch, füge ich an – endet mit der Kapitulation der Fantasie vor der Realität, mit einer Rückkehr nach La Mancha und mit dem Tod. Wir haben die Kunst, sagte Nietzsche, damit wir nicht an der Wahrheit sterben. In Südafrika gibt es jetzt zu viel Wahrheit, als dass die Kunst sie fassen könnte, kübelweise Wahrheit, Wahrheit, die jeden Akt der Fantasie überwältigt und erdrückt.

Rede anlässlich der Entgegennahme des Jerusalem-Preises 1987; deutsch von Reinhild Böhnke

Le Monde diplomatique vom 14.11.2003, von J. M. COETZEE