14.11.2003

Schreiben gegen die Barbaren

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Schreiben gegen die Barbaren

Von MARIE LUISE KNOTT 

IM Mittelpunkt seiner Literatur, hat der Schriftsteller John Maxwell Coetzee einmal gesagt, stehe der Körper – der Körper mit seinen Schmerzen als „Gegengewicht zu den endlosen Prüfungen des Zweifels. Lassen Sie es mich unverblümt sagen: In Südafrika kann man die Autorität des Leidens nicht verleugnen, also die Autorität des Körpers. […] Der Körper fordert seine Macht.“

Coetzee stammt aus Kapstadt, wo er 1940 als Sohn von Buren geboren wurde und eine am britischen Kanon orientierte Schulbildung erhielt. 1961 ging er, im Alter von 21 Jahren, zunächst als Programmierer nach London und 1965 in die USA, wo er über Becketts frühen Prosastil promovierte und wo seine ersten Erzählungen entstanden. Während der Zeit des Vietnamkriegs trat ihm die Kolonialgeschichte Südafrikas neu ins Bewusstsein, und nachdem er 1973 bei einer Demonstration verhaftet worden war, entschloss er sich zur Rückkehr. In Kapstadt, wo er fortan als Literaturprofessor arbeitete, erschien 1974 sein erstes Buch, „Dusklands“. Es besteht aus zwei Erzählungen, zum einen dem Bericht eines US-Spezialisten für psychologische Kriegsführung in Vietnam, zum anderen dem Bericht von Jakobus Coetzee, einem burischen Vorfahren des Autors, der im 18. Jahrhundert während der Kolonisierung an der Ausrottung eines Hottentottenstamms mitgewirkt hatte. Wie kann ein Mensch sich derart über seine Mitmenschen erheben, dass er sich legitimiert glaubt, ihnen Gewalt anzutun, lautet seine Frage, die dem Leser umso mehr zusetzt, als der Autor die Grausamkeiten detailliert darstellt. Dieses Thema taucht bei Coetzee immer wieder auf. In seinem jüngsten Roman „Elizabeth Costello. Eight Lessons“ (2003) geht es um den Umgang mit Tieren.

Bereits die Figuren in Coetzees erstem Roman „Im Herzen des Landes“ (1977) sind ihrer Freiheit beraubt. Sie sind zarte Geschöpfe auf der Suche nach dem kleinen Glück, das ihnen jedoch verwehrt bleibt. Magda, die Tochter eines weißen Schafzüchters, denkt in 266 Eintragungen über ihr Leben nach. Das Apartheidsystem ist ihr Gefängnis. („Die Welt ist voll von Leuten, die sich ein eigenes Leben gestalten wollen, aber außerhalb der Wüste wird eine solche Freiheit nur wenigen gewährt.“) In das empfindungslose Universum der häuslichen Welt bringt der Vater eine schwarze Geliebte, die Frau eines Vorarbeiters. Der Körper fordert seine Macht – Begierde und Rache obsiegen. Der äußerliche Friede erweist sich als ein Netz aus Unterdrückung, Verdächtigung und Bespitzelung. Ob Magda tatsächlich von einem schwarzen Bediensteten vergewaltigt wird, ob sie tatsächlich ihren Vater umbringt oder das alles nur in ihrer Fantasie stattfindet, bleibt offen.

Der rasende, in unerbittlichem Präsens gehaltene Monolog der Farmerstochter zeigt die Grundzüge von Coetzees Prosa: Seine Spracharbeit, die im Wissen um die Korrosion der Sprache („Wo Worte unter den Füßen nachgeben wie morsche Bretter“) die Suche nach dem mot juste zur Erzählweise macht, zielt darauf ab, das lesende Auge und das innere Ohr, das Auge und Ohr des Geistes derart zu verlangsamen, dass das Unsichtbare Raum erhält. Das Beschriebene, dem diese Verlangsamungen dienen, ist vielfach die Marter des Körpers – die gebrochenen Knochen und blutigen Rücken in „Warten auf die Barbaren“ (1980), der Schmerz des Hungers bis hin zur Bewusstlosigkeit in „Leben und Zeit des Michael K.“ (1983), die Krebskrankheit in „Eiserne Zeit“ (1990) und die Knochenmühle für die toten Tiere in „Schande“ (1999).

Seine Prosa umkreist wiederkehrende Motive: Begierde, Liebe, Lust, Schmerz, Schuld, Verstrickung, Würde, Freiheit, Anstand – und Recht, das Recht auf Freiheit und auf Begierde. Unaufhörlich, in immer neuen Variationen, werden diese Begriffe in ihrer Tragweite durchmessen. Coetzees Romane sind weder realistisch, wie die von Nadine Gordimer, noch explizit politisch wie die von Breyten Breytenbach. Er beschreibt Menschen, die hilflos in ihrem inneren Gefängnis herumirren, das zugleich Abbild der äußeren Welt ist.

Um die Vertreibung aus dem Haus der eigenen Überzeugungen geht es in der Parabel „Warten auf die Barbaren“ (1980). In der Grenzstadt eines fiktiven Kolonialreiches wacht ein Richter im Auftrag der fernen Kolonialmacht über die Durchsetzung von Recht, die Wahrung von Anstand und Würde. Doch der fragile – und auch eingebildete, weil auf kolonialer Gewalt beruhende – Friede mit den benachbarten Nomaden bricht plötzlich weg, als eine aus der Hauptstadt entsandte Soldateska einen Rassenkrieg gegen die aus heiterem Himmel als „Barbaren“ verfemten Nomaden entfacht. Propaganda und Terror versetzen die Bewohner des Ortes in Angst und Schrecken. Höhepunkt ist die quälend detaillierte Beschreibung einer Folterung von vier Gefangenen, die derart die Lust der Zuschauer erregt, dass sie am Ende, als die Soldateska ihnen die Peitschen anbietet, die unschuldigen „Barbaren“ selbst auspeitschen. Fortan leben sie gefangen in der Erwartung der Rache der Barbaren, die ihnen nunmehr eine reale Bedrohung ist.

Einzig der Richter pocht auf Würde und Freiheit und widersetzt sich. Doch mit seinem Einwand, die angeblichen Feinde seien doch Menschen, setzt er sich der Lächerlichkeit aus. Nackt in einem Kellerloch inhaftiert und auf Hunger, Ausscheidung und Schmerz reduziert, wartet er in illusorischer Hoffnung auf einen fairen Prozess, in dem er sich und seine Prinzipien verteidigen kann. Die Frage des Richters: „Wie ist es Ihnen möglich zu essen, nachdem Sie die Menschen so bearbeitet haben?“ erreicht den Folterer nicht. Doch allein das Fragen hält die Sehnsucht nach der Freiheit, der Freiheit des Denkens und Redens, wach.

Um eine andere, geradezu körperliche Freiheit geht es in dem Roman, in „Leben und Zeit des Michael K.“ (1983). Es herrscht Ausnahmezustand: Michael K., ein schwarzer Hilfsarbeiter mit Hasenscharte (dessen Hautfarbe Coetzee wie bei allen seinen Figuren nicht benennt), der seine Arbeit im Gartenbauamt verliert, wird von der Gesellschaft – obwohl unschuldig – zum Illegalen gemacht, zum „asozialen Element“. Im Lande der Passierscheinregelungen und Arbeitslager verfolgt er beharrlich seine Sehnsucht nach der elementarsten aller Freiheiten, der Bewegungsfreiheit, doch es gibt keinen Ort in Freiheit, an dem er sich ungestraft aufhalten kann. Selbst in dem Bau, den er sich gräbt und in dem er dahinvegetiert, findet er seinen kleinen stillen Frieden nicht. Er wird aufgespürt von den Gesetzeshütern, die seine Höhle für einen Vorposten der Aufständischen halten, da es in ihren Augen ein Leben außerhalb des herrschenden Gedanken- und Gewaltgebäudes nicht geben kann.

Eine Welt à part

DIE Apartheid, in die hinein J. M. Coetzee aufwuchs, war der Versuch einer weißen Minderheit, sich durch gedankliche Konstruktionen (und tägliche strukturelle wie physische Gewalt) eine „heile Welt“ zurechtzulegen. Menschen verhungerten, doch dies geschah fernab im Busch, wo niemand ihre Leichen zu sehen bekam. Arbeitslose, Obdachlose, Bettler wurden aus den Städten verjagt oder in Gefängnissen und Lagern weggeschlossen. Nachrichten von Oppositionellen und Bilder von Aufständen wurden unterdrückt. An dieser brutalen Wirklichkeit dürften für viele Heranwachsende die erlernten Ideale früh und nachhaltig zerschellt sein. Doch die Möglichkeit, auf die „andere“, die schwarze Seite zu wechseln, tat sich ihnen als Weiße nicht auf. Wenn ein Weißer für den Umsturz des weißen Systems eintrete, sagte Coetzee einmal, sei das zumindest eigenartig, weil er sich nicht restlos sicher sein könne, dass er aufrichtig ist. Entsprechend erhält der Leser in „Warten auf die Barbaren“ keinen Einblick in Motive und Handlungsweisen der Barbaren. Und in dem Roman „Schande“, der Coetzee 1999 das zweite Mal den Booker Preis einbrachte und ein internationaler Bestseller wurde, bleibt Petrus, der ehemalige boy, der ein Farmer werden will, mit seinen Leuten Teil einer Welt à part: unverständlich und bedrohlich. Der Roman spielt in dem von der Apartheid verwüsteten neuen Südafrika. An der Person des Literaturprofessors wird gezeigt, dass die Gewissheiten des aufgeklärten (europäischen) Denkens ein unzulängliches Werkzeug sind, um die Gegenwart zu durchdringen. Wo die gemeinschaftsstiftenden Überzeugungen abhanden kommen, enthemmt sich die Gesellschaft, und die Barbarei der Gewalt formt nicht nur das öffentliche Leben, sondern dominiert auch den privaten, intimen Bereich jedes Einzelnen; die Menschen stehen bloß da, schutzlos ausgeliefert – inneren Phantasmen (Schuld, Angst, Mitleid) wie äußeren Gewalten (Ideologie und Terror).

Während der Professor in „Schande“ ähnlich wie der Richter in „Warten auf die Barbaren“ immer aussichtsloser versucht, seine Überzeugungen zu verteidigen, werden diese von der Tochter in Frage gestellt. Sie, die ursprünglich aus Opposition gegen ihre Eltern und das Apartheidregime aufs Land gezogen war, um mit den Schwarzen in Frieden zusammenzuleben, gerät in eine totalitäre Verstrickung: Sie wird von drei jungen Männern vergewaltigt, doch statt zu fliehen oder auf ihrer Würde und ihrem Recht zu pochen, wie der Vater ihr nahe legt, bekommt sie das Kind der „Schande“, überschreibt Petrus, dem Anstifter der Schandtat, ihr Stück Land und heiratet ihn. Schuld und schlechtes Gewissen machen sie zu einem willfährigen Objekt von Petrus’ Begierden. („Vielleicht muss ich das akzeptieren lernen“, sagt sie. „Von ganz unten anzufangen. Mit nichts. Nicht mit nichts als. Mit nichts. Ohne Papiere, ohne Waffen, ohne Besitz, ohne Rechte, ohne Würde. […] Ja, wie ein Hund.“)

In Südafrika war „Schande“ und somit Coetzee selber Gegenstand einer Parlamentsdebatte. Vertreter des ANC bezichtigten ihn des Rassismus, da die Schandtat offensichtlich von drei Schwarzen begangen wurde, auch wenn nirgends die Hautfarbe vorkommt. Ferner wurde ihm vorgeworfen, dass er den Versöhnungsprozess angreife, da er durch die Person des Literaturprofessors die Weißen auffordere, das Land zu verlassen.

Schreiben ist – so Coetzee – ein „Krieg“, bei dem Stimmen und Gegenstimmen aufeinandertreffen, die das Schreiben im Schreibenden zum Leben erweckt hat. Dabei treffen Stimmen aus Südafrika auf Personen aus seiner Wahlheimat, der Weltliteratur, auf Dostojewskis arme Leute, auf Kafkas K., auf Becketts Namenlose. In letzter Zeit mischen sich darunter immer wieder Tiere. So schaffen seine Romane gegen die Gewalt der Verhältnisse einen Raum für Freiheit und Würde aller Kreaturen – unerbittlich.

Le Monde diplomatique vom 14.11.2003, von MARIE LUISE KNOTT