Jetzt auch Bolivien
BOLIVIEN galt als perfekte Demokratie. Wurden dort nicht zwei wesentliche Grundrechte geachtet: die Pressefreiheit und die politischen Freiheiten? Dass das Recht auf Arbeit, das Recht, mit einem festen Dach über dem Kopf zu leben, das Recht auf Gesundheit und auf Bildung und viele andere ebenso grundlegende Menschenrechte systematisch mit Füßen getreten wurden, tat der „demokratischen Perfektion“ dieses Staats offenbar keinen Abbruch.
Bolivien ist mit seinen knapp 8,5 Millionen Einwohnern reich an Bodenschätzen, aber von diesem Reichtum, verknüpft mit der politischen Macht, profitieren seit 200 Jahren eine Hand voll wohlhabender Familien, während 60 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben. Die indigene Mehrheit wird nach wie vor diskriminiert, die Kindersterblichkeit ist erschreckend hoch, Arbeitslosigkeit ist ein Dauerzustand, Analphabetismus weit verbreitet, und über die Hälfte der Bevölkerung besitzt noch immer keinen Stromanschluss. All das ändert aber nichts am Wesentlichen: Bolivien gilt nun einmal als „Demokratie“.
Auch als Armeeangehörige am 11. und 12. Oktober auf Anordnung von Staatspräsident Gonzalo Sánchez de Losada mit Maschinengewehren auf die Demonstranten schossen, dabei mehr als zwanzig Menschen töteten und über hundert verletzten, erklärte Condoleezza Rice, die Sicherheitsberaterin von US-Präsident Bush, vor den in Chicago versammelten Mitgliedern der Inter American Press Association, Washington warne die Demonstranten davor, „eine demokratisch gewählte Regierung mit gewaltsamen Mitteln zu stürzen“ (AP und EFE am 13. Oktober 2003).
Als dagegen der demokratisch gewählte Präsident Venezuelas, Hugo Chávez, am 11. April 2002 von Militärs, die die Unterstützung der Arbeitgeber und der Medien genossen, vorübergehend aus dem Amt gejagt wurde, beeilte sich Washington, die Putschisten anzuerkennen, unter dem fadenscheinigen Vorwand, Chávez habe „gegen sein eigenes Volk Schießbefehl erteilt“.
„Der Mörder“ – wie die Bolivianer Sánchez de Losada nach dem Massaker an den Demonstranten von El Alto nannten, setzte sich am 17. Oktober mit größter Selbstverständlichkeit nach Miami ab. Die Vereinigten Staaten ziehen nicht einmal in Erwägung, ihn wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu belangen.
WARUM sollten sie es auch tun? Als Sánchez de Losada noch Planungsminister war und sein Land zwischen 1986 und 1989, ganz nach den Wünschen Washingtons und nach dem Ratschlag des Ökonomen Jeffrey Sachs, einer „Schocktherapie“ unterzog, verloren zehntausende von Staatsbediensteten ihren Arbeitsplatz. Während seiner ersten Amtszeit (1993–1997) als Staatspräsident – er war inzwischen zu einem der reichsten Männer Boliviens aufgestiegen – ordnete er – wieder einmal unter dem Druck aus Washington – die Vernichtung der Kokaplantagen an. Hunderttausende von Kokabauern verloren ihren Lebensunterhalt und proben seitdem – weil es für sie keine beruflichen Alternativen gibt – den permanenten Aufstand.
Des Weiteren ließ der ultraliberale Losada der Reihe nach sämtliche Staatsbetriebe zumeist an US-Firmen verkaufen – Eisenbahn, Bergwerke, Betriebe zur Erdölförderung, Wasser- und Stromwerke, Telefon- und Fluggesellschaften.
Der Verkauf der Wasserversorgungsbetriebe von Cochabamba an den US-Multi Bechtel, der derzeit zu den Hauptgewinnern der umfassenden Privatisierung des Irak durch die US-amerikanischen Besatzungsbehörden gehört, löste im April 2000 einen Aufstand aus, der Bechtel zum Rückzug und die Regierung zur Wiederverstaatlichung der Wasserversorgung zwang.
Im Laufe dieser beiden Konflikte trat mit Evo Morales ein außergewöhnlicher Politiker auf den Plan. Der 1959 geborene Autodidakt, Indio aus dem Chapare, führt als Vorsitzender der Kokabauern-Vereinigung seit zwanzig Jahren die kampfbereiteste Berufsgruppe des Landes an.
Für die Befürwortern einer anderen Globalisierung ist Evo Morales die Galionsfigur der Indigenen-Bewegungen in Ecuador, Peru, Chile und Paraguay und erfreut sich großer Beliebtheit. Er und seine Organisation „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS) standen gemeinsam mit der „Indigenenbewegung Pachakuti“ (MIP) unter Felipe Quispe an der Spitze der Offensive gegen die neoliberale Politik Sánchez de Losadas und seines sozialdemokratischen Verbündeten Jaime Paz Zamora – eine Politik, die die Erdgasreserven des Landes an ein internationales Konsortium verhökert hat und so das Fass zum Überlaufen brachte.
Jahrhundertelange Erfahrungen haben die Wut der bolivianischen Indigenas genährt. Von den Rohstoffexporten (Silber, Zinn, Erdöl) hat die Landbevölkerung noch nie profitiert; ebenso wenig kam es dadurch zu einer Modernisierung des Landes.
Im Januar 2000 stürzte der Staatspräsident von Ecuador, Jamil Mahuad, im November 2000 der peruanische Präsident Alberto Fujimori, im Dezember 2001 der argentinische Präsident Fernando de La Rúa. Mit dem Sturz von Sánchez de Losada zeigte nun auch die bolivianische Bevölkerung, dass sie ein Wirtschaftsmodell ablehnt, das überall in Lateinamerika zu verschärfter Korruption, Armut und sozialer Ausgrenzung führt.