Wer beerbt Arafat?
Von BERNARD WASSERSTEIN *
JASSIR Arafat hinterlässt nicht nur ein politisches Vakuum, sondern auch ein zwiespältiges Erbe. Als die zweite dominierende Figur der palästinensischen Nationalbewegung hat Arafat etliches mit Amin al-Husseini gemeinsam, dem Großmufti von Jerusalem, der sein Volk in die Katastrophe von 1948 führte. Beide haben fatale politische Fehler begangen wie auch bedeutsame historische Erfolge errungen. Und beide warfen mit ihren politischen Strategien ihr Volk um eine Generation zurück: Der Mufti blieb in der Mentalität der späten osmanischen Epoche stecken, Arafat in der Ideologie des antikolonialen Kampfes. Beiden gelang es nicht, die Mobilisierung der Massen in eine moderne politische Kraft umzusetzen. Arafats schwerster Fehler war sein personalisierter Führungsstil. Er benahm sich wie ein arabischer Wüstenscheich, der über einen Hofstaat scharwenzelnder Günstlinge gebietet. Er weigerte sich, Verantwortung zu delegieren, und er verkannte die Bedeutung von Institutionen, ohne die man einen Staat nicht aufbauen kann.
Und dennoch steht Jassir Arafat ein Platz im Pantheon des Nahen Ostens zu. So sehen es alle Palästinenser und die meisten Araber, und die übrige Welt sollte es ebenfalls tun. Arafats große Leistung ist es, dass er eine besiegte und zerschlagene Nation wieder aufzurichten vermochte. Als er die Fatah gründete, lebten die meisten Palästinenser im Exil – ein führungsloses, erniedrigtes, demoralisiertes Volk, das von niemandem anerkannt wurde. Es war das Verdienst der Fedajin, einen machtvollen Mythos des Widerstands zu schaffen und politischen Rückhalt für die palästinensische Sache zu gewinnen, nicht nur in der arabischen Welt. Arafats Führung gab dem palästinensischen Volk wieder Mut und Kraft, aus denen Selbstvertrauen und ein neuer Nationalstolz erwuchsen.
Mit jedem seiner politischen Schritte beflügelte er die Hoffnungen der Palästinenser: 1965 mit der Gründung der PLO, 1974 mit seinem theatralischen UN-Auftritt, 1982 mit der Niederlage in Beirut, die er in einen symbolischen Sieg ummünzte. Und 1993, als er auf dem Rasen des Weißen Hauses mit Jitzhak Rabin einen Händedruck tauschte, der den Aufbau der Palästinensischen Autonomiebehörde einleitete. Jede dieser Etappen auf dem Weg zurück ins Gelobte Land schien den Palästinenserstaat näher zu bringen. Doch Arafats langer Marsch mündete in eine bittere, demütigende Niederlage: zwei Jahre Hausarrest in den Ruinen von Ramallah und eine erneute Besetzung, die alle Hoffnungen der Palästinenser zunichte machte.
Die Führung der Palästinenser rekrutierte sich stets aus drei Gruppen: aus den alten Notabeln, aus der religiösen muslimischen Elite und aus den Milizenführern und Guerillahelden. Mahmud Abbas und Ahmed Kurei von der derzeitigen Interimsführung gehören zu keiner dieser Gruppen. Und sie haben das Vertrauen der Massen nicht, weil ihnen das Feuer der jungen Generation fehlt, die 1987 die erste und 2000 die zweite Intifada angestoßen hat. Nicht zuletzt deshalb bedrohen die Selbstmordattentäter und jugendlichen Eiferer von Hamas und Dschihad den Führungsanspruch der säkularen Nationalisten. Doch die religiösen Kräfte sind noch nicht stark genug, um die Palästinensische Autonomiebehörde zu erobern.
Um die Arafat-Nachfolge werden sich zwei jüngere Figuren der Fatah bewerben. Da ist erstens Mohammed Dahlan, einst Sicherheitschef im Gaza-Streifen, wo er auch eine bewaffnete Gefolgschaft hat. Er spricht Hebräisch und wird in Washington und London geschätzt. Die Israelis könnten geneigt sein, ihm nach ihrem Rückzug aus Gaza die Macht zu übergeben. Doch die Leute, die ihn als CIA-Marionette sehen, würden ihm erst recht nicht trauen.
Als Nachfolger weitaus plausibler wäre Marwan Barghuti, Chef der militanten Fatah-Miliz Tansim, der von den Israelis zu lebenslänglichem Gefängnis verurteilt wurde. In Westjordanland ist Barghuti die weitaus populärste Figur. Er kann so populistisch auftreten wie Arafat, aber viel geschickter und flexibler agieren. Die Israelis werfen ihm vor, Terroranschläge organisiert zu haben, aber immerhin war er früher ein Verfechter der Zweistaatenlösung. Und sein stolzes Auftreten vor israelischen Richtern hat ihm bei seinem Volk noch mehr Statur verschafft.
In den letzten Jahren stellten die Israelis Arafat als Haupthindernis für ernsthafte Verhandlungen mit den Palästinenser hin, um sich auf nichts einlassen zu müssen. Das Scharon-Lager könnte also versucht sein, auch Arafats Nachfolger zu demontieren und in Misskredit zu bringen. Doch die neue Situation bietet auch neue Chancen. Ohne Wahlen kann sich kein Nachfolger als legitimer Erbe Arafats darstellen. Nur eine legitime Palästinenserführung kann einen Unterhändler offerieren, den Israel zu fordern vorgibt – und tatsächlich auch braucht. Und nur ausgehandelte Vereinbarungen können den israelischen Rückzug aus Gaza – und am Ende aus Westjordanland – sicherstellen. Nur so lassen sich normale Beziehungen mit den Nachbarn herstellen, statt einen Ghettostaat zu schaffen, der sich hinter der großen palästinensischen Mauer duckt.
Obwohl Barghuti hinter israelischen Gittern sitzt, wäre kaum zu verhindern, dass er für die Nachfolge Arafats kandidiert. Und ein Wahlfeldzug aus dem Gefängnis heraus dürfte die Palästinenser sogar für ihn mobilisieren. Ein neuer Aufruf zum Frieden mit Israel könnte ihn zu einem zweiten Nelson Mandela machen, dessen Freilassung die ganze Welt fordert. Sollte Israel nicht das Interesse haben, dass Barghuti seine historische Rolle wahrnimmt?
deutsch von Niels Kadritzke
© Le Monde diplomatique, Berlin
* Historiker an der University of Chicago; Autor u. a. von „Israel und Palästina. Warum kämpfen sie und wie können sie aufhören?“, München (Beck) 2003.