Komplizen
Auszüge aus einer Rede von Hans Magnus Enzensberger, Juni 1961
„Meine Damen und Herren. Ich habe eine Einladung an Sie. Ich möchte Sie zu einer Sache einladen, von der Sie nichts wissen wollen, zu einer Sache, von der eigentlich niemand etwas wissen will. Es ist eine Sache, die alle angeht. Es ist eine Sache, die mehr als sechs Jahre alt ist. Sie heißt Algerien. Was wissen wir, und was wollen wir davon wissen? So gut wie nichts. […] Von dieser Ausstellung will unsere Regierung nichts wissen, unsere Presse nicht, […] die Antikommunisten nicht, die Kommunisten nicht, die französische Botschaft nicht und vermutlich nicht einmal die offiziellen Stellen der Algerier; denn auch die Verbrechen der FLN verschweigt diese Ausstellung nicht.
Wenn Sie unsere Kultur besichtigen wollen, gehen Sie nicht zu einem Kulturkongress, gehen Sie zu keiner Dichterlesung, gehen Sie in diese Ausstellung. Sie wird Ihnen keine Freude machen, denn was dort ausgestellt ist, das sind nicht die anderen, das sind wir selber. Die Leute in den Konzentrationslagern, die Hungernden, die Gefolterten, das sind wir – und wir sind die Henkersknechte, die Bombenwerfer und die Kapos. […]
Wir sind Komplizen. Algerien ist überall, es ist auch hier, wie Auschwitz, Hiroshima und Budapest. Ich will Ihnen erklären, warum. Der algerische Krieg wird in unserem Namen geführt. Er wird geführt mit den Truppen der Nato von den Stützpunkten der Nato aus, mit dem Kriegsmaterial und auf Kosten der Nato. Jeder Franc, mit dem die Napalmbomben und die Folterer bezahlt werden, erscheint auf der Zahlungsbilanz zur „gemeinsamen Verteidigung“ der Nato. Das Auswärtige Amt verlangt „Rücksicht und Verständnis gegenüber unseren Bündnispartnern“. Herr Jaeger, Vizepräsident des deutschen Bundestages, ist, wie er sagt, zu der Überzeugung gekommen, dass die Sache Frankreichs in Algerien die Sache Europas, der Vernunft und der Zivilisation ist. Ich fürchte, er hat Recht. Wir sind die Auftraggeber. In unserem Namen wird gehandelt, was auf den Papptafeln der Ausstellung zu sehen ist, dafür stehen wir ein. Wenn unsere Regierung Algerier an die Franzosen ausliefert, ihnen das Asylrecht verweigert, wenn unser Land keine algerischen Arbeiter aufnimmt, wenn es keine Hilfe leistet für die Kinder, die in den Lagern verhungern, dann unterbleibt all dies in unserem Auftrag. […] Wenn wir das Recht auf freie Selbstbestimmung für unsere Landsleute in der DDR verlangen, wenn wir gegen die Urteile Ulbrichts protestieren, wer wird uns glauben? Wer wird uns glauben, wenn wir von 800 000 Toten in Algerien nichts wissen wollen?“ Im Juni 1961 wurde in Frankfurt eine Wanderausstellung des SDS eröffnet. Sie berichtete auf zwei großen Stelltafeln mit Bildern, Dokumenten, Fotokopien, Zeitungsausschnitten, Briefen und Statistiken über den Algerienkrieg. Die Studentenbewegung hatte die Dritte Welt „entdeckt“. Aus: Claus Leggewie, „Die Kofferträger“, Berlin 1984.