12.11.2004

Dem Himmel ins Herz geschaut

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Dem Himmel ins Herz geschaut

Nach dem Ende der Apartheid hat in Südafrika mit den Wahrheitskommissionen ein schwieriger, aber offener Prozess der Versöhnung begonnen, der vielfach kritisiert wurde. Anders als in Simbabwe sind viele Weiße geblieben. Die südafrikanische Schriftstellerin Antjie Krog fordert den Westen auf, anzuerkennen, „dass wir es mit einer der größten moralischen Leistungen des 20. Jahrhunderts zu tun haben“.

Von ANTJIE KROG *

DIESES Jahr feiert Südafrika zehn Jahre Demokratie, und bei den vielen eifrigen Journalisten, Filmemachern, Wissenschaftlern und Autoren, die im Land unterwegs sind, könnte man leicht in Zynismus verfallen. Ein vermasseltes Wunder oder eine vorgetäuschte Versöhnung eignet sich natürlich immer gut, um empört auszurufen: Das muss aufgedeckt werden! Lasst uns zu den Ärmsten der Armen gehen und zeigen, wie doppelzüngig die neue schwarze Elite ist und mit ihr die miesen rassistischen Buren! Statt kritische Fragen zu den Vereinigten Staaten und der Europäische Union zu stellen, fliegt man lieber nach Afrika, wo die Guten immer noch gut und die Bösen böse sind – zumal wenn das Wetter schön warm und der Wein süß ist.

In diesem Jahr waren viele von uns Südafrikanern, wichtige und weniger wichtige, ausgebucht mit Terminen für Interviews und Diskussionsrunden. Ich weiß noch, wie ich einmal in einem schicken Hotel, in dem auch Bill Clinton gerade logierte, darauf wartete, für einen irischen Radiosender befragt zu werden. Das Team war soeben aus Houtbay zurückgekommen, einem Dorf am Meer, nicht weit von Kapstadt, in dem Luxusvillen mit atemberaubendem Meeresblick liegen und dicht daneben wilde Siedlungen von Landbesetzern. Der Interviewer sah wütend aus. Gereizt ging er auf und ab, während seine Helfer die Mikrofonanlage aufbauten. Schließlich blieb er vor mir stehen. „Wie ist so etwas möglich?“, brach es aus ihm heraus. „Eben sprach ich mit einer schwarzen Frau, die in einer Hütte unter erbärmlichen Bedingungen lebt, ohne jede Schulbildung und bitterarm, und fragte sie, was ihr Versöhnung und zehn Jahre Demokratie gebracht haben. ‚Frieden und Freiheit‘, sagt sie mir. ‚Aber ich bitte Sie‘, sage ich, ‚schauen Sie sich doch an, wie Sie leben: Sie haben nichts. Und da drüben, ein paar Yards entfernt, steht die Prachtvilla von reichen Weißen.‘ Und wissen Sie, was sie mir geantwortet hat? Sie blickte mich an und sagte: ‚Zehn Jahre Demokratie können nicht wieder gutmachen, was in dreihundert Jahren falsch gemacht worden ist.‘ Das hat sie gesagt. Ich fasse es einfach nicht. Ist sie verrückt? Ist sie bescheuert?“ Er sah mich vorwurfsvoll an, als wüsste ich, welche geheime böse Macht die arme Schwarze dazu bringt, kluge Antworten zu geben. Als er dann noch erwähnte, dass das nächste Rundfunkteam schon bereitstand, um dieselbe Frau wieder auszufragen, begann ich im Stillen zu überlegen, was ich wohl machen würde, wenn der vierte oder fünfte Weiße mir ein Mikrofon vors Gesicht hielte und mit unverhohlener Empörung wissen wollte, wie ich von Versöhnung sprechen kann, wo mir doch nach wie vor nichts gehört und den Weißen immer noch alles … Früher oder später würde ich bestimmt sagen: „Wissen Sie, ich schäme mich. Ich habe einen großen Fehler gemacht. Es war sehr dumm, zu vergeben! Wenn ich recht überlege, hasse ich die Weißen doch.“

Für die ausländischen Journalisten, die sich in der letzten Zeit durch unser Land bewegt haben, scheint die Friedlichkeit der Armut ein größerer Schock gewesen zu sein als die Armut selbst. Ihren Berichten nach zu urteilen, haben sie offenbar vielen Schwarzen das Gefühl vermittelt, sie sollten sich schämen, dass sie vergeben haben und sich um Versöhnung bemühen.

Dass die Weißen eine der ihren womöglich überlegene Weltsicht nicht anerkennen können, ist in Afrika nichts Neues. Erlauben Sie mir, Ihnen ein im 19. Jahrhundert aufgezeichnetes Gedicht der /Xam, einer Untergruppe der San oder Buschmänner, vorzutragen. Es besagt: So wie ihr Bücher lest, um etwas zu wissen, lesen wir unsere Körper. Wir spüren, wie der gesamte Kosmos in unseren Körpern pulsiert. Die Buschmänner oder San haben sich einst für eine andere Existenzweise entschieden. Sie haben sich dafür entschieden, leicht zu leben auf Erden. Sie haben nichts hinterlassen außer Geschichten und Liedern, Bildern und Schnitzereien von großer Schönheit, in denen Mensch und Erde, Regen und Tier zu Visionen einer verpflichtenden Verbundenheit verschmelzen. Dennoch wurden die Buschmänner von den Weißen wie Tiere gejagt.

vorahnungen der /Xam das alphabet der buschleute ist unseren körpern eingeschrieben / die buchstaben sprechen und vibrieren / die buchstaben bewegen den körper des buschmanns wenn deine rippen zu pochen beginnen / nimm deine pfeile / denn du hast den springbock schon mit deinem körper gesehen / du spürst das blut in deinen schenkeln und waden / als würdest du den springbock schon auf deinem rücken nach hause tragen / als würde der springbock schon deine schenkel hinabbluten daher warte ich immer ruhig auf die worte meines körpers / ich spüre auf meinem schädel, wenn sie die hörner der antilope absägen / ich spüre in meinen füßen, wenn sie um die hütte streichen wir legen uns vor unsere unterstände / wir legen uns auf die ausgestreckten hänge der hügel / es scheint, als würden wir schlafen / als würden wir ein nickerchen machen doch wir lesen unsere körper / wir lesen alles, was sich unten in den ebenen bewegt / die kehlen unserer knie kribbeln / und dann warten wir / und dann kommt alles zu uns

Die Vorstellung, dass Vergebung Schande sei, reicht bis zu den Anfängen des Aufarbeitungsprozesses in der Wahrheitskommission zurück. Ich weiß noch, wie mich eine australische Wissenschaftlerin auf einer der Anhörungen zu den Menschenrechtsverletzungen zornig fixierte: „Es ist unglaublich, welches Unrecht ihr Weißen den Schwarzen angetan habt, indem ihr sie gezwungen habt, diesen ganzen Wahrheits- und Versöhnungsmist zu schlucken! Was ihr jetzt macht, ist schlimmer als Apartheid. Durch Betrug und Manipulation habt ihr die Schwarzen dazu gebracht, diese Institution ohne einen einzigen Aufstand, ohne auch nur einen Akt des kollektiven Widerstands hinzunehmen.“ Dass sie damit vielleicht jene Menschen beleidigte, die gerade erst das übermächtige Apartheidregime zu Fall gebracht hatten, schien ihr gar nicht in den Sinn zu kommen.

Zur Behauptung von der herbeimanipulierten Versöhnung ist ein zweiter Standardkommentar hinzugekommen. So sagte ein Fernsehproduzent aus Tel Aviv letztes Jahr zu mir: „Ein wahrlich bemerkenswerter Vorgang. Ich bin eigens angereist, um eine Dokumentation darüber zu machen. Schade nur, dass so etwas in Israel nie funktionieren würde. Dazu muss man nämlich Christ sein.“ Zwei Jahre zuvor hatte mir ein irischer Journalist mit Tränen in den Augen bekannt: „Wahrhaftig, ein bemerkenswerter Vorgang. Ein Jammer, dass so etwas in Irland nie möglich wäre – zu viele Katholiken, verstehen Sie.“ Kürzlich sagte ein amerikanischer Journalist auf einer Konferenz über den Einfluss der Gewalt auf die Sprache: „Es ist wunderbar, dass die schwarzen Südafrikaner imstande waren zu verzeihen, doch als Weltmacht tragen wir Amerikaner die Verantwortung dafür, dass der Unterschied von Recht und Unrecht gewahrt bleibt.“ So hat sich jeder seine Begründung dafür zurechtgelegt, dass er andere töten muss: Die Wahrheits- und Versöhnungskiste ist gut für schwarze Menschen aus der Dritten Welt, aber wir Katholiken/Christen/Muslime/Amerikaner/Juden/Palästinenser lösen das Problem anders – und besser.

Die Liste derer, die den Vergebungs- und Versöhnungsprozess in Südafrika prinzipiell in Frage stellen, ist beeindruckend. Professor Mahmud Mamdani, der während der Zeit der Wahrheitskommission an der Universität von Kapstadt unterrichtete, äußerte damals die Ansicht, dass Versöhnung ein Pakt mit dem Bösen sei. Einer der wichtigsten holländischen Beobachter des Versöhnungsprozesses, Professor Afshin Ellian, schließt sich Nietzsches Auffassung an, wonach „es möglich [ist], fast ohne Erinnerung zu leben, ja glücklich zu leben, wie das Thier zeigt; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben“.

Bei Jacques Derrida heißt es: „Verzeihen ist also ein ver-rückter Akt, der – wenn auch in sich luzid – ins Dunkel des Unintelligiblen stürzen muss.“ In seinem Essay über das Verzeihen geht Derrida so weit zu sagen, dass Bischof Tutu „mit ebenso viel gutem Willen wie gedanklicher Konfusion […] das Vokabular von Reue und Vergebung“ in eine Institution eingeführt habe, die „ausschließlich zur Bearbeitung politisch motivierter Verbrechen bestimmt“ sei. Und während einer Vorlesung an der Universität des Westkaps sagte er, dass das Unverzeihliche zu verzeihen einem Wunder gleichkomme.

Ich möchte diese Position von einem anderen Blickwinkel aus aufgreifen. Der Individualismus ist ein zählebiger moderner Mythos. Wie schon in „Robinson Crusoe“ sucht die westliche Fantasie ein von aller Gemeinschaft unabhängiges Individuum zu erschaffen. Zwar muss auch Robinson eine neue Gemeinschaft gründen und zu diesem Zweck erst seinen Freitag finden. Der Mythos vom Individuum als wichtigster Bedingung für den Fortschritt blieb davon jedoch unangefochten. Ohne Individuum keine Entwicklung. Der französische Semiotiker Dany-Robert Dufour merkt hierzu an: „In unserer Zeit der liberalen Demokratie […] ist der Versuch, man selbst zu sein, allen zwanghaften Bekundungen von Selbstbewusstsein zum Trotz ungeheuer mühsam. Eine ganze Reihe von Symptomen bezeugt die ‚Behinderung des Individuums‘ in zeitgenössischen Gesellschaften. Psychische Störungen, das Unbehagen an der Kultur, die zunehmende Gewalt sowie die in großem Maßstab betriebene Ausbeutung sind allesamt Vektoren neuer Formen von Entfremdung und Ungleichheit.“ Das moderne Individuum ist nach Dufour nicht frei, sondern verlassen und verloren.

Im folgenden Gedicht aus der Sesotho-Sprache geht es darum, was es bedeutet, nur ein Einzelner zu sein. Es ist Teil eines Schauspiels über Senkatana, das auf ein bekanntes Basotho-Märchen zurückgeht. In ihm verschlingt der Drache Kodumodumo das gesamte Volk der Basotho und schwillt davon so gewaltig an, dass er schließlich in den Passstraßen des Hochgebirges stecken bleibt. Von allen Menschen überlebt einzig Senkatana. Er ist mutterseelenallein auf der Welt, kann tun, was er will, ist frei, und dennoch wehklagt er mit lauter Stimme:

ich kann mich selbst nicht finden / denn ich befinde mich nicht bei den anderen worüber soll ich mich freuen, wenn ich ganz allein bin? / wovon soll ich befreit werden, wenn nur ich da bin? warum sollte irgend etwas schön sein / wenn nur meine augen es sehen? ihr seid es, die mein ich hervorrufen / ich bin es, der sein ich durch euch denkt / ihr denkt mein ich aus ich wähle euch nicht / dass es euch gibt, erschafft mich wir sind gemacht, mit anderen zu sein / oder wir werden hungrig bleiben mitten im überfluss

Auf der einen Seite wirft man den Schwarzen Südafrikas also vor, sie hätten sich manipulieren lassen, erklärt ihre Vergebungs- und Versöhnungsbereitschaft für primitiv, inkonsequent, ahistorisch und verrückt. Und auf der anderen Seite werden sie ausgerechnet von solchen Völkern gelobt, bewundert und anerkannt, die ein ähnliches Verhalten für sich nie in Erwägung ziehen würden. Frankreich beispielsweise spendete Millionen an die südafrikanische Wahrheitskommission, während es zur gleichen Zeit den Kriegsverbrecher Maurice Papon vor Gericht stellte. Dasselbe Amerika, das unmittelbar nach dem 11. September 2001 Vergeltung übte, ließ der Wahrheitskommission ebenfalls mehrere Millionen zukommen.

Wie ist es zu erklären, dass der Versöhnungsprozess in Südafrika so viel Beifall und Unterstützung gerade bei Leuten findet, die selbst nicht im Traum an Versöhnung denken? Doch wohl nicht, weil sie es zu schwierig finden. Und bestimmt sind sie auch nicht ernsthaft der Meinung, die Schwarzen Südafrikas seien ihnen überlegen und wüssten, wie sie ihre Leute von der Gewaltspirale abhalten können, während die Westler selbst sich nicht einmal einen Versuch in diese Richtung zutrauen. Wie anders lässt sich das erklären als durch einen Hauch von Rassismus? Schwarze sollten vergeben, Weiße müssen Rache nehmen, Versöhnung ist etwas für „minderwertige“ Völker, Rache dagegen für die „richtigen“ Nationen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich ein Modell für den Umgang mit den Gräueltaten von Unrechtsregimen herausgebildet. Das starke neue Modell, das die Schwarzen Südafrikas ins Leben gerufen haben, ruht im Wesentlichen auf zwei Säulen: erstens auf der Gleichbehandlung aller Opfer (die Mutter, die ihren Sohn im Kampf für die Apartheid verloren hatte, sagte neben der Mutter aus, deren Sohn im Kampf gegen die Apartheid gefallen war, womit anerkannt ist, dass beide gleichermaßen litten); und zweitens auf einem gesamtgesellschaftlichen Versöhnungsprozess, der den Kreislauf der Gewalt unterbricht. Und es ist wichtig, festzuhalten, dass damit überhaupt zum ersten Mal eine echte Alternative gewagt wurde – die sich die Erste Welt aber, so groß Lob und Auszeichnung auch waren, nie als Beispiel nehmen wollte und will.

Wie der südafrikanische Journalist und Dichter Sandile Dikeni einmal bemerkte: „Was immer wir Schwarzen auch sagen, es hat keinen Wert, eben weil wir schwarz sind. Die Philosophien der Afrikaner werden behandelt wie ihre Masken – um als Exotika an Wänden zu hängen oder Reisebroschüren zu schmücken. Niemals aber begegnet man ihnen mit dem gleichen Respekt wie den westlichen Philosophien.“

Der Rassismus geht noch weiter: Staatsoberhäupter, die ohne Zögern in andere Länder einmarschieren, kommen von weit her angereist, um sich mit unserem ehemaligen Präsidenten Nelson Mandela ablichten zu lassen. In ihrem eigenen Land tun sie alles, um „Täter“ vor Gericht zu zerren, Mandela aber wird umarmt, weil er den Mördern seines Volkes vergeben hat. Warum? Es sei mit der angemessenen Scham bekannt: weil der Westen Wut versteht, weil ihn die Rache fasziniert und er den Hass aus tiefstem Herzen bewundert.

Während wir hier in dieser Stadt, in diesem Jahrhundert sitzen, durchrauscht uns so vieles, dass wir nicht mehr wissen, wie die Sterne sich anhören, wie der Stein schmeckt, die Luft sich anfühlt oder wie man dem Himmel ins Herz schaut. Die Buschmänner mit ihrer vieltausendjährigen Erfahrung als Sammler und Jäger kannten den Klang der Sterne. Der Westen weiß davon erst seit 1930 – oder spätestens 1967, als die Astronomin Jocelyn Bell in Cambridge ein riesiges Radioteleskop baute, um den Klängen aus dem All zu lauschen.

was die sterne sagen die sterne nehmen dein herz / denn sie sind nicht hungrig / die sterne tauschen dein herz mit einem sternenherzen aus / die sterne nehmen dein herz und geben dir dafür ein sternenherz / dann wirst du nie wieder hungrig sein denn die sterne sagen: „tsau! tsau!“ / und die buschleute sagen, dass die sterne die augen des springbocks verfluchen / die sterne sagen: „tsau!“ sie sagen: „tsau! tsau!“

Sind also 40 Millionen Menschen durch betrügerische Machenschaften auf einen Weg des Fortschritts bugsiert worden, oder zeigt sich hier eine so radikale Weisheit, dass der Westen Mühe hat, ihr zu folgen? Eines darf man wohl getrost annehmen: Was in Südafrika möglich war, hat nichts mit dem christlichen Glauben zu tun, denn sonst wäre das Gleiche auch in Irland oder in den USA möglich gewesen. Im Gegenteil scheinen gerade die protestantischen Fundamentalisten im amerikanischen Süden und Mittelwesten, im so genannten Bible Belt, besonders oft an vorderster Front zu stehen, wenn es gilt, Rache zu nehmen. Auch mit dem Einfluss der Weißen hat das Ganze nichts zu tun, denn die Weißen (speziell die Buren) glauben bis heute nicht an die Arbeit der Wahrheits- und Versöhnungskommission. Wenn sie unter sich sind, sagen sie eher: „Was ist nur los mit diesen Schwarzen, nicht einmal richtig hassen können sie, und mit denen müssen wir uns nun ein Land teilen.“

Im Übrigen ist es unwahrscheinlich, dass die vielen meist jungen Leute, die die zehnjährige Schule der Massenbewegung durchlaufen hatten, 1994 etwas akzeptiert hätten, was ihnen gegen den Strich ging, nur weil zwei alte Männer, Tutu und Mandela, oder irgendein Weißer es ihnen gesagt hätten. Und hier möchte ich folgendes sagen: Derrida verkennt Tutu, wenn er ihn lediglich als religiösen Führer begreift. Bush begeht einen Fehler, wenn er in Mandela bloß den außergewöhnlichen Staatsmann sieht. Tutu und Mandela würden immer darauf hinweisen, dass ihr Denken seine Wurzeln in der schwarzen Gemeinde Südafrikas hat. Das Wesen ihrer Existenz ist, dass sie Schwarze in Afrika sind. Die Mutter eines der Sieben von Guguletu, die von der Polizei brutal niedergeschossen worden waren – eine gebrochene Frau mit geringer Schulbildung –, hat den für das westliche Denken unverständlichen Versöhnungsgedanken verstanden und in Worte gefasst. Cynthia Ngewu, die Mutter von Christopher Piet, sagte: „Wenn ich das, was die Leute Versöhnung nennen, richtig verstehe […], wenn es bedeutet, dass der Täter, dieser Mann, der Christopher Piet erschossen hat […], wenn es bedeutet, dass dieser Mann wieder ein Mensch wird, sodass auch ich, dass wir alle unsere Menschlichkeit wiedererlangen […], dann bin ich einverstanden damit, dann unterstütze ich alles.“

Cynthia Ngewu hat gewusst – und George Bush nicht –, dass, wer den Sohn eines anderen tötet, dies tut, weil er seine Menschlichkeit verloren hat. Sie hat gewusst – und Bush nicht – dass es in ihrem (wie auch in seinem) Interesse liegt, dem Täter dabei zu helfen, seine Menschenwürde wiederzuerlangen. Cynthia Ngewu hat im Gegensatz zu Bush gewusst, dass die Chance, die eigene Menschlichkeit zurückzuerlangen, zerstört wird, wenn man den Täter mit dem Tode bestraft. Man friert dann gleichsam die Gesellschaft im Zustand der Unmenschlichkeit ein.

Die Frau in der Hütte in Houtbay hat also nicht vergeben, weil sie glaubte, sie werde nun endlich bekommen, was bisher den Weißen gehörte. Sie vergab aus der Einsicht heraus, dass die Weißen ihre Menschlichkeit verloren haben und ihre Unmenschlichkeit inmitten all ihres Reichtums auch verhindert, dass sie selbst, die schwarze Frau, ihre eigenen Möglichkeiten als Mensch voll ausschöpfen kann. Sie vergab, um die Weißen zu humanisieren. Zu befragen wären daher nicht die schwarzen Hüttenbewohner, zu befragen wären die Weißen in ihren Palästen: Was habt ihr getan, um euch erkenntlich zu zeigen für die überwältigende Güte, mit der euch verziehen worden ist? Und was tut ihr jetzt, um zu zeigen, dass ihr eure Menschlichkeit allmählich zurückgewinnt?

Diese Fragen richten sich natürlich auch an die Menschen im Westen insgesamt. An euren Händen klebt so viel Blut, die halbe Welt habt ihr geplündert und euch in eurem Wohlstand eingeigelt – ihr habt eure Menschlichkeit längst verloren. Weil ihr so unmenschlich seid, kämpfen wir darum, menschlich zu bleiben. Ihr braucht uns: nicht um uns auszubeuten, sondern damit ihr eure Menschlichkeit wiederfindet.

deutsch von Wolfgang Schlüterund Jürgen Brôcan (Gedichte)© internationales literaturfestival berlin

* Südafrikanische Schriftstellerin, 1952 geboren, studierte Afrikaans, Anglistik und Philosophie. Weltweit bekannt wurde sie mit ihrer Dokumentation über die Arbeit der Wahrheits- und Versöhnungskommissionen in Südafrika, „The Country of my Scull“. 1989 nahm sie an der Poetenkarawane von sieben afrikanischen Dichtern entlang der früheren Sklavenroute von Goa, Senegal, nach Timbuktu in Mali teil. Der vorliegende Text ist die Eröffnungsrede des diesjährigen internationalen literaturfestivals berlin. 2005 wird sie der Jury des literaturfestivals angehören.

Le Monde diplomatique vom 12.11.2004, von ANTJIE KROG