12.11.2004

Der blaue Dienstag

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Der blaue Dienstag

Von WENDY LESSER *

AM Tag nach der Präsidentenwahl schickten mir drei europäische Freunde per E-Mail ihre Beileidsbekundungen. Ein spanisch-schweizerischer Freund, der in Oxford lehrt, bot mir, falls ich stante pede auswandern wolle, eine Bleibe im geräumigen Gästehaus seines College an. Aus Berlin versicherte mir eine deutsche Freundin ihre herzliche Sympathie und das Mitgefühl ihrer ganzen Kollegenschaft, von Menschen also, denen ich nie begegnet bin. Und ein englischer Freund teilte mir mit, er wisse, wie ich mich fühle, denn genau so sei es für ihn gewesen, als Margaret Thatcher ihren zweiten Wahlsieg errungen hatte.

Dieser letzte Hinweis baut mich überhaupt nicht auf, denn obwohl er besagen soll, dass alles vorbeigeht und auch wir eines Tages einen Regierungswechsel erleben werden, erinnert er mich zugleich an die nachhaltigen Auswirkungen der Thatcher-Zeit auf die englische Gesellschaft. Für mein Empfinden hat Thatcher aus einem von Gemeinschaftsgeist geprägten England mit vernünftigen Zeitungen, anständigen Fernsehprogrammen und guten öffentlichen Verkehrsmitteln eine rein materialistische Gesellschaft gemacht, mit den schlechtesten Zeitungen der englischsprachigen Welt und öffentlichen Dienstleistungen, die als solche nicht mehr zu erkennen sind. Und jetzt überkommt mich das Gefühl, dass Bush mit Amerika etwas Ähnliches anstellen wird. Wir, die wir in den „blauen“ Staaten der Wahllandkarte leben, sind vor allem deshalb so deprimiert, weil die Auswirkungen dieser Wahl wohl noch jahrzehntelang anhalten werden, und für einige von uns heißt das: bis zum Ende unseres Lebens.

Ich weiß nicht, wer zuerst auf die Idee kam, die Staaten mit demokratischer Mehrheit blau und die mit republikanischer Mehrheit rot einzufärben, aber bei den Wahlen vor vier Jahren hatten auf einmal alle Fernsehsender diese Farbgebung übernommen. Und das Bild hat sich allen Zuschauern so stark eingeprägt, dass Rot und Blau zu politischen Etiketten wurden. Vielleicht hatten die Nachrichtenredakteure das Gefühl, wenn sie den Demokraten die rote Farbe zuordnen, könnte man den Verdacht bekommen, sie wollten sie in die Nähe von Kommunisten rücken. Vielleicht verpassten sie deshalb das aufrührerische Rot den Republikanern, deren antikommunistische Verdienste kein Mensch bezweifeln kann, nachdem sie schon „liberal“ zu einem unanständigen Wort gemacht haben. Oder vielleicht hat sich ein kluger Kopf hinter den Kulissen an die alten Karten mit den hellroten Territorien des britischen Empire erinnert – ein Bezug, den viele Republikaner sogar als angemessen empfinden würden.

Die meisten Amerikaner, die ich kenne, wachten am Dienstag des 3. November mit dem Gefühl auf, dass sie jetzt zu einem neuen Land gehören – dem Land der blauen Einzelstaaten. Von den Menschen, die in den roten Staaten leben, fühlen wir uns durch einen Graben getrennt – einen psychologischen Graben, den die Europäer wohl seit einiger Zeit wahrnehmen. Nur dass wir geografisch und politisch mit diesem anderen Amerika auf Gedeih und Verderb verbunden sind, an der Hüfte zusammengewachsen wie siamesische Zwillinge, die einander nicht ausstehen können.

In Europa heißt es oft, die beiden amerikanischen Parteien hätten keine unterscheidbaren Ideologien. Doch die intensiven Gefühle vor und bei diesen Wahlen sprechen eher gegen diese Behauptung. Mir war von vornherein klar, dass mein politisches Lager die von der anderen Seite hasst. Wir gingen davon aus, dass dies die wichtigsten Wahlen unseres Lebens sind und dass alles vorbei sein wird, wenn wir sie verlieren. Jetzt stellt sich heraus, dass die andere Seite es ebenso empfand, dass sie uns genauso hassten wie wir sie. Und am Ende waren sie mehr als wir.

Genau das ist es, was die meisten Demokraten jetzt so mutlos macht. Wir hatten immer das Gefühl, dass wir in einem Land leben, das von der Demokratischen Partei geprägt ist – auch wenn sie zuweilen Fehler gemacht und die falschen Leute ausgewählt hat. Doch jetzt tritt immer klarer zutage, dass wir in einem Land der Republikaner leben, mit dauerhaften republikanischen Mehrheiten im Senat wie im Repräsentantenhaus. Früher konnten wir uns darauf verlassen, dass die Leute in den Südstaaten die Demokraten wählen, auch wenn es konservative Demokraten waren. Aber das ist vorbei, jetzt hält es der Süden immer mit den Republikanern. Früher konnten wir uns auch darauf verlassen, dass die arbeitende Bevölkerung in den Demokraten ihre Partei sah – die Partei, die sich um ihre Belange kümmert.

Wie mich überhaupt am meisten überrascht und verstört, dass die Wähler in keiner Weise mehr so stimmen, wie es ihre ökonomischen Interessen verlangen würden. Ich vergleiche dabei nicht einfach unsere Gegenwart mit den fernen 1930er- und 1940er-Jahren, als der Fabrikarbeiter die Demokraten und der Fabrikbesitzer die Republikaner wählte. Die US-Amerikaner hatten immer Probleme, sich mit ihren Klasseninteressen zu identifizieren. Hier will niemand als Arbeiter gesehen werden, weil alle den Ehrgeiz haben, zur Mittelklasse zu zählen. Und doch haben viele Menschen nach ihrer Klassenzugehörigkeit abgestimmt, auch wenn sie es nicht so bezeichnet hätten. Und wenn die Mittelklasse und die Arbeiter und die Arbeitslosen und all die nicht ganz so Reichen bei diesen Wahlen nach ihrer ökonomischen Interessenlage gestimmt hätten, wäre Kerry sicher Sieger geworden. Doch bei diesen Wahlen spielten wirtschaftliche Fragen keine große Rolle. Nein, bei diesen Wahlen interessierte sich die Mehrheit der Wähler allein für Fragen des „persönlichen Charakters“ oder der so genannten moralischen Werte – beides Schlüsselbegriffe der christlichen Fundamentalisten.

Wir müssen leider zur Kenntnis nehmen, dass es sich bei den heutigen USA um ein tief religiöses Land handelt, in dem die Mehrheit der Bevölkerung das ehrliche Empfinden hat, ihr höchster Repräsentant solle die Regierungsgeschäfte in der persönlichen Kommunikation mit Gott betreiben. Eine Umfrage während des Wahlkampfs hat als ein Differenzkriterium zwischen den roten und den blauen Staaten ermittelt, dass in den roten Staaten über 60 Prozent der Bevölkerung die Bibel für eine „wörtliche Offenbarung Gottes“ halten, in den blauen sind es 40 Prozent. Seit dem Morgen des 3. November muss ich mich damit abfinden, in einer Gesellschaft zu leben, in der eine ultrakonservative christliche Lehre als akzeptables, ja löbliches politisches Bekenntnis gilt.

Die Verfassung der Vereinigten Staaten hat von jeher auf der strikten Trennung von Kirche und Staat bestanden. Mit dieser alten, uns vertrauten Verfassung haben wir es heute jedoch nicht mehr zu tun. Dabei habe ich nicht nur den Patriot Act im Auge, obwohl dieses Gesetz viele Rechte, die für uns den Kern der Demokratie darstellten, außer Kraft gesetzt hat. Nein, es geht viel weiter: Eine Regierung, die unmittelbar mit Gott kommuniziert, weiß natürlich genau, was „gut“ und was „böse“ ist, ohne sich mit rationalen Argumenten abgeben zu müssen. Sie wird deshalb nur solche Gesetze als bindend ansehen, die ihr ihn den Kram passen.

Nun ist es keineswegs so, dass ein Präsident Kerry all unsere Probleme gelöst hätte. Anders als der spanische Ministerpräsident, der seinem Land den Rückzug aus dem Irak versprochen und beschert hat, hätte auch Kerry diesen Krieg nicht beendet. Aber für die USA und die ganze Welt steht weit mehr auf dem Spiel als die Lage im Irak. In den nächsten vier Jahren wird Bush das ganze Land wahrscheinlich so tief in die Verschuldung treiben, dass die nächste Generation noch zwanzig, dreißig Jahre die finanzielle Belastung abzutragen hat. Bush dürfte auch nicht bereit sein, die Verträge über die Nichtverbreitung von Atomwaffen zu unterzeichnen, wie es der Rest der Welt von uns erwartet. Und er wird den Supreme Court personell so stark ummodeln, dass dieser nicht nur das Recht auf Abtreibung, sondern auch einige andere Rechte abschaffen wird, die man als US-Bürger bislang für unantastbar halten durfte. Wahrscheinlich wird er auch das Sozialversicherungssystem privatisieren, die reichsten Bürger steuerlich stark entlasten – und nichts gegen die Krise des Gesundheitswesens unternehmen.

Unter Bush werden die Armen ärmer und die Reichen reicher werden; die fundamentalistischen Christen werden lauter schreien und die liberalen Kräfte immer mehr verstummen, die Menschen in den blauen Staaten werden sich immer stärker von einem Land entfremden, das von den Roten regiert wird. Und natürlich wird dieses Amerika sich weiter von Europa entfernen.

Und am Ende womöglich zu einem fremden, unverstandenen Land werden, das niemand besuchen oder unterstützen oder auch nur verstehen will. Es ist leider wahr: Die Beileidsbekundungen, die mir nach dem Wahltag aus Europa zuteil wurden, sind eine angemessene Reaktion. Amerika hat sich den Hass der übrigen Welt immer wieder redlich verdient. Jetzt haben wir es geschafft, dass einige von uns auch das Mitleid dieser Welt verdienen.

deutsch von Niels Kadritzke © Le monde diplomatique, Berlin

* Herausgeberin der Threepenny Review, Berkeley, Kalifornien; zz. Senior Fellow am Remarque Institute, NY.

Le Monde diplomatique vom 12.11.2004, von WENDY LESSER