Die Türkei in Europa
Von IGNACIO RAMONET
DIE Debatte über den möglichen EU-Beitritt der Türkei zeugt von den Ängsten der westlichen Gesellschaften angesichts des Islam. Und offenbart damit die Islamfeindlichkeit, die sich in nahezu allen politischen Lagern eingenistet hat. Manche begründen ihre Ablehnung eines EU-Beitritts der Türkei mit „technischen“ Argumenten, wobei sie darauf setzen, dass ein großes Land mit mehrheitlich islamischer Bevölkerung instinktive Abwehrreflexe auslöst. So machen sie etwa die geografische Lage zum definitiven Ausschlusskriterium. Doch dieses Argument taugt nichts. Gehören Französisch-Guyana in Lateinamerika und die Réunion im Indischen Ozean etwa nicht zur Europäischen Union? Und wer wollte leugnen, dass die ägäische Küstenregion der Türkei, wo auch das alte Troja lag, die östliche Randzone des antiken Griechenland war, das wir als Wiege der europäischen Kultur bezeichnen? Man darf gespannt sein, mit welchen „technischen“ Argumenten man einst versuchen wird, den EU-Beitritt von Bosnien und Albanien hinauszuzögern, zwei weiteren mehrheitlich muslimischen Staaten, deren geografische Zugehörigkeit zu Europa wohl niemand bezweifeln wird.
Andere Skeptiker bemühen die Geschichte. EU-Kommissar Frits Bolkestein verstieg sich gar zu der Aussage, falls man die Türkei in die EU aufnehme, sei „die Befreiung Wiens 1683 umsonst gewesen“. Während der Belagerung durch die Türken mussten die für ihre Backwaren berühmten Wiener das Mehl rationieren. Sie begannen, kleine Brötchen zu backen, in der Form des osmanischen Emblems, des Halbmonds. So entstand dieses Wiener Feingebäck namens Croissant, das viele für eine französische Spezialität halten.
Als Nachfolger des Byzantinischen Reichs hatte das Osmanische Reich in der Tat den Ehrgeiz, den Mittelmeerraum und Europa in sein Herrschaftsgebiet einzugliedern. Doch auch Spanien, Frankreich und Deutschland versuchten, den Alten Kontinent zu unterwerfen, und dennoch bezweifelt niemand, dass sie zu Europa gehören. Nachdem das Osmanische Reich im Lauf des 19. Jahrhunderts seine Territorien auf dem Balkan und in der arabischen Welt eingebüßt hatte, verstand sich sein Nachfolger, die von Kemal Atatürk gegründete Türkei, als durch und durch europäischer Staat.
Kein anderes Land war je bereit, so viele Facetten seiner Kultur preiszugeben, um seine europäische Identität zu untermauern. Die moderne Türkei gab die alte Schrift – das Arabische – auf und übernahm das lateinische Alphabet. Die Bevölkerung musste ihre traditionellen Gewänder ablegen und westliche Kleidung tragen. Der Islam als Staatsreligion wurde abgeschafft und in Anlehnung an das französische Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat aus dem Jahr 1905 das Prinzip der Laizität eingeführt.
IM Laufe des vergangenen Jahrhunderts war die Türkei unablässig bemüht, ihren europäischen Charakter zu festigen. 1952 trat sie der Nato bei, seit 1949 war sie Mitglied im Europarat. Bereits 1963 äußerten sich de Gaulle und Adenauer positiv zum Beitritt der Türkei zur Europäischen Gemeinschaft. 1995 unterzeichnete Ankara mit der EU das Abkommen über die Zollunion. Und seit die EU-Ratsgipfel von Helsinki 1999 und Kopenhagen 2002 dem Land den offiziellen Status eines EU-Kandidaten zuerkannten, vollzog sich in Ankara eine Art „stiller Revolution“, um die Kopenhagener Kriterien zu erfüllen.
Gerade in jüngster Zeit macht die Türkei auf dem Weg demokratischer Reformen Fortschritte. Die Staatssicherheitsgerichte werden abgeschafft, die Todesstrafe ist es bereits, ebenso die Geltendmachung mildernder Umstände bei „Ehrverbrechen“ an Frauen. Den Gesetzentwurf zur Kriminalisierung von Ehebruch ließ man fallen. In den kurdischen Provinzen wurde der Ausnahmezustand aufgehoben, der Unterricht in Kurdisch wurde erlaubt, ein kurdischsprachiger Fernsehsender gegründet.
In Sachen Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte aber hat die Türkei einen langen Weg vor sich. Zudem muss Ankara den Völkermord an den Armeniern anerkennen und eine Amnestie für die Freilassung der 3 000 im Gefängnis sitzenden Exkombattanten der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) erlassen. Unbestreitbar ist, dass die Perspektive eines EU-Beitritts schon heute die Demokratisierung des Landes fördert, seine laizistische Ausrichtung festigt und die Verteidigung der Menschenrechte stärkt.