12.12.2003

Warum Scharon sich fürchtet

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Warum Scharon sich fürchtet

IN der israelischen Gesellschaft ist die Genfer Initiative äußerst zwiespältig aufgenommen worden. Alle Israelis hoffen auf Frieden, doch viele trauen dem Abkommen nicht. Bei einer Mehrheit dominiert die Furcht, zu viele Zugeständnisse gemacht zu haben. Daneben wird immer wieder kritisiert, dass wesentliche Fragen, wie die künftigen Wirtschaftsbeziehungen und die Aufteilung der Wasserrechte, nicht geregelt sind. Doch die israelischen Verhandler können stolz auf das Erreichte sein. Und zumindest darauf verweisen, dass es erstmals eine detaillierte Blaupause für den erhofften „historischen Kompromiss“ gibt.

Von AMRAM MITZNA *

Wenn der israelische Ministerpräsident beschließen sollte, die Genfer Initiative zu übernehmen, wird er als der Staatsmann in die Geschichte eingehen, dem es als Erstem gelungen ist, dem jüdischen demokratischen Staat die Basis eines einvernehmlichen Abkommens zu verschaffen. Das wäre ein noch größerer Schritt als die Staatsgründung 1948, denn diese war damals ein einseitiger Akt, der nur von wenigen Ländern der Welt anerkannt wurde.

Die Genfer Initiative zeigt, dass es durchaus einen Verhandlungspartner gibt und dass eine Alternative zum Blutvergießen möglich ist. Die Angriffe Scharons und seiner Minister gegen diese Initiative und ihre Initiatoren verraten vor allem eins: Angst. Bisher sind alle Versuche der Regierung und der Rechten gescheitert, die Anhänger der Genfer Initiative in Israel einzuschüchtern.

Anfänglich versuchte Scharon, uns als Politiker im Sold des Feindes darzustellen. Rechtsextreme Abgeordnete beschimpften uns als Verräter. Einige forderten sogar – wenn auch vergeblich – den Staatsanwalt auf, uns vor Gericht zu stellen. Am 13. November nahm der staatliche Rundfunk nach massivem Druck aus der Kanzlei des Ministerpräsidenten einen Werbespot aus dem Programm, der den Bürgern ankündigen sollte, dass der Text des Genfer Dokuments ab Mitte November an alle Haushalte versandt wird. Unsere Klage gegen diesen Akt politischer Zensur ist derzeit beim Obersten Gericht anhängig.

Doch wir lassen uns weder durch Zensur noch durch Drohungen einschüchtern. Wir verfolgen beharrlich unsere Sache, zumal die Initiative bei immer mehr Palästinensern und Israelis auf Zustimmung stößt – als sinnvolle Alternative zur katastrophalen Politik der Scharon-Regierung, die sich zunehmend als Sackgasse erweist und beiden Völkern so ungeheure Opfer aufnötigt. Dass ein Großteil der Israelis eine Alternative sucht, zeigen nicht zuletzt die zahlreichen Aktionen zum achten Jahrestag der Ermordung von Jitzhak Rabin im November dieses Jahres.

Gegen die Genfer Initiative machen die Rechten und Rechtsextremen durch Provokationen und Einschüchterungen mobil, denn sie fürchten nichts so sehr wie den Frieden. Und vor allem fürchten sie, dass immer mehr Israelis erkennen, wie man in den letzten drei Jahren Schindluder mit ihnen getrieben hat.

Drei Jahre lang hat der Ministerpräsident dem Volk erfolgreich eingeredet, auf der Gegenseite gebe es keine Gesprächspartner, nur die Gewalt werde den Sieg bringen und die Palästinenser brechen und nur mit den Waffen der Tsahal, der israelischen Armee, werde es gelingen, den Feind zu besiegen. Scharon hat unser Volk immer wieder zum Durchhalten aufgerufen, denn nur so könne der Terror bezwungen werden.

Doch die Situation wurde ständig schlimmer. Die Politik der Eliminierung palästinensischer Führer, die den Terror beenden sollte, droht aufzulösen, was von diesem Land übrig geblieben ist. Der Terror wächst, die Wirtschaft bricht zusammen, die Gesellschaft verliert ihren Zusammenhalt, und die demografische Entwicklung bedroht die Existenz des Staates Israels als einen jüdischen Staat. Doch trotz alledem hält die Regierung an ihrer politischen Linie fest.

Nach monatelanger intensiver Arbeit haben wir die Genfer Initiative zustande gebracht. Natürlich hat niemand von uns erwartet, ein solches Abkommen könne von heute auf morgen Gestalt annehmen. Wir haben vielmehr um jedes Detail und um jeden Zentimeter Land gerungen, als handele es sich um ein echtes Abkommen.

Ein Kampf ohne Uniform

ES war eine Schlacht, aber ohne Sieger und Besiegte. Wir haben gekämpft, aber ohne Uniformen. Wir haben um Jerusalem, um den Tempelberg und um die Siedlungen bei Gusch Etzion gekämpft. Wir haben um die endgültigen Staatsgrenzen Israels gerungen und sogar um die Grundlagen des Staates selbst. Die Ergebnisse können sich sehen lassen.

Zum ersten Mal in der Geschichte haben die Palästinenser offiziell erklärt, dass sie den Staat Israel als Staat des jüdischen Volkes anerkennen – und das für immer. Sie haben auf ihr Rückkehrrecht nach Israel verzichtet, womit gesichert ist, dass unser Staat eine stabile, feste jüdische Mehrheit behalten kann. Die Klagemauer, das jüdische Viertel und der Davidsturm bleiben in unseren Händen. Die jüdischen Ortschaften rings um Jerusalem – Givat Zeev, Givon (das alte und das neue), Maale Adumin, Gusch Etzion, Neve Yaakov, Pisgat Zeev, Hagiva Atsarfatit, Ramot, Gilo und Armon Anatsiv –, sie alle werden für immer zum Großraum Jerusalem gehören. Kein einziger der Bewohner dieser Dörfer wird sein Haus verlassen müssen.

Es ist ein Leichtes, die Ergebnisse zu kritisieren. Leicht ist es auch, zu provozieren, was allerdings nur ein Zeichen von Panik ist. Aber endlich ist klar, dass es einen Partner für Gespräche gibt, und wenn die Regierung dazu bereit wäre, könnte unsere Wirklichkeit schon morgen anders aussehen.

Das Problem besteht darin, dass Scharon gar keine Einigung will. Was ihm fehlt, ist der Mut, der jeden wahren Politiker auszeichnet, der Mut nämlich, in die Zukunft zu blicken. Scharon entscheidet nach rein parteipolitischen Erwägungen und unterwirft sich dem Willen der Extremisten. Der einzige „Mut“, den der Ministerpräsident und seine Regierung haben, ist der Mut zur Lüge, zu der Behauptung, es gäbe keinen anderen Weg. Woher nehmen sie den Mut, Soldaten in den Tod zu schicken, in einem Krieg, der keinen Bezug zur Wirklichkeit hat?

Die Genfer Initiatoren ähneln dem kleinen Jungen, der schreit, dass der Kaiser nackt ist. Die Regierung führt uns in den Untergang. Ihre heftigen Reaktionen beweisen es: Sie gerät in Panik – und das zu Recht. Denn ein Staatschef, der sein Volk in vollem Bewusstsein in den Krieg treibt und völlig unnötiges Blutvergießen riskiert, hat seinen Auftrag verwirkt. Das wird heute allen klar.

Anstatt zu erklären, warum ein derartiges Abkommen bislang nicht zustande gekommen ist, flüchtet sich Scharon wie vor acht Jahren auf dem Zionsplatz in die Provokation, die er hervorragend beherrscht. Die Genfer Initiative ist ein Modell, kein offizielles Dokument zweier Regierungen. Sie ist ein Vorschlag für eine endgültige Einigung, die beide Seiten akzeptieren können. Sie ist in zwei Punkten bemerkenswert: Erstens verheißt sie das Ende der Auseinandersetzungen, zweitens lässt sie keinen Punkt im Unklaren. Alle Einzelheiten wurden bis ins Detail diskutiert und beschlossen, ohne mögliche Ausflüchte für die betroffenen Parteien.

Ein weiterer Vorteil liegt darin, dass die führenden Politiker der Autonomiebehörde und der Kämpfer vor Ort auf eine breite Unterstützung der Initiative rechnen können. Auch die israelische Regierung kann diese Initiative so, wie sie ist, schon morgen übernehmen. Sie kann sie auch eingehend prüfen und in Verhandlungen mit den Palästinensern Änderungen erwirken.

Ich hoffe sehr, dass sich die israelischen Bürger, wenn sie das Abkommen in allen Einzelheiten kennen, nicht länger missbrauchen oder in die Irre führen lassen. Denn wenn die Regierung dieses Abkommen nicht übernimmt und keine andere Lösung vorschlägt, werden wir weiter leben wie bisher, mit dem Damoklesschwert über unseren Köpfen. Es ist an uns, endlich eine Entscheidung zu treffen.

deutsch von Claudia Steinitz

* Geboren 1945, Offizierslaufbahn, General. Nach dem Abschied aus der Armee 1993 zum Bürgermeister von Haifa gewählt, November 2002 Vorsitzender der Arbeitspartei und Gegenkandidat Scharons bei der Ministerpräsidentenwahl im Januar 2003. Rücktritt vom Parteivorsitz im Mai 2003.

Le Monde diplomatique vom 12.12.2003, von AMRAM MITZNA