12.12.2003

Die Opposition

zurück

Die Opposition

NACH den offiziellen Verlautbarungen der USA besteht die bewaffnete Opposition im Irak nur aus den letzten Bataillonen des Baath-Regimes, die inzwischen Verstärkung durch „ausländische Terroristen“ bekommen haben. Hunderte solcher Freiwilliger kämen regelmäßig über die Landesgrenzen, erklärte der US-amerikanische Zivilverwalter Paul Bremer. Doch wenn man sich einen – auch nur begrenzten – Einblick in die oppositionellen Zirkel verschafft, erhält man ein differenzierteres und komplexeres Bild.

Es besteht kein Zweifel, dass Anhänger des alten Regimes ihre familiären und beruflichen Beziehungen zum Aufbau kleiner Widerstandsgruppen genutzt haben. Einige konnten sich durch ihre frühere Funktion innerhalb des Sicherheitsapparates mit militärischem und technischem Gerät versorgen und außerdem auf versteckte Waffenlager zugreifen, die das Regime überall im Lande angelegt hatte. Aber das heißt nicht, dass sie nun eine von Saddam Hussein entworfene Strategie umsetzen – von einem Diktator also, der überhaupt nicht imstande war, seinen eigenen Sturz zu antizipieren.

Die ersten Zellen des Widerstands entstanden zunächst in den Reihen der gestürzten Machtelite. Diese zunächst informellen Gruppen formierten sich nach und nach zu einer Struktur, die sich an der alten Vorkriegshierarchie orientiert. Zwar wäre die Annahme verfehlt, dass im „sunnitischen Dreieck“ die Republikanischen Garden und die Sonderabteilungen des Geheimdienstes neu aufgestellt wurden, um den Krieg fortzusetzen, richtig ist jedoch, dass es in Städten wie Tikrit, Beidschi und Schergat besonders viele aktive Anhänger des alten Regimes gibt. Die meisten haben sich allerdings angepasst und verfolgen ihre persönlichen Vorteile unter den neuen Bedingungen auf dieselbe Weise wie schon unter den alten Machthabern.

Dass auch Kämpfer aus anderen Ländern im Einsatz sind, ist freilich kaum mehr zu übersehen. Aber dass kann auch nicht weiter verwundern, denn schließlich haben sich die irakischen Sicherheitsdienste aufgelöst und die Grenzen des Landes werden seit nunmehr sechs Monaten nicht mehr bewacht. Die Anwesenheit dieser ausländischen Elemente ist auch allgemein bekannt. In den Wohnvierteln fallen die Fremden natürlich auf, man erkennt sie an ihrem Akzent oder ihrem auffällig unauffälligen Verhalten. Die Nachbarn registrieren natürlich auch, wenn zu später Stunde gelegentlich ein Pickup vorfährt, um diese Leute abzuholen, die im übrigen bei Irakern, insbesondere bei reichen Geschäftsleuten oder Imamen, Unterschlupf finden. Dabei kommt ihnen die Mischung aus Furcht, Gleichgültigkeit und Sympathie zugute, die auch durch das politische Vakuum begünstigt wird und dafür sorgt, dass ihre Anwesenheit nicht sehr oft den Behörden gemeldet wird.

Dennoch kann von einer ganzen „Armee“ potenzieller Selbstmordattentäter nicht die Rede sein. Zunächst gilt es, eine Unterscheidung zu treffen zwischen den Glaubenskriegern, die notfalls ihr Leben im Kampf gegen die USA aufs Spiel setzen würden, und den Gruppen, die Freiwillige für Selbstmordattentate in mit Sprengstoff beladenen Fahrzeugen rekrutieren können. Dass solche Anschläge nur in größeren Abständen erfolgen, spricht gegen die westliche Vorstellung, es gebe hier ein unerschöpfliches Reservoir an Menschen, die bereit sind, sich in die Luft zu jagen.

Während des Krieges führte der Zustrom von Fedajin jedenfalls nicht zu einer Welle von Selbstmordattentaten. Bei den Anschlägen gegen das Hotel Bagdad und die Polizeizentralen der Hauptstadt spielten Widerstandszellen der Saddam-Anhänger vermutlich keine wesentliche Rolle – diese Terrorakte trugen eher die Handschrift einer bewährten und gut eingespielten Organisation. Aber würde zum Beispiel al-Qaida hunderte von Terroristen einschleusen, also eine fünfte Kolonne, die ein Sicherheitsrisiko bedeuten und sich schon bald als überflüssig erweisen dürften?

ES sind eben noch andere Interessen im Spiel, und das macht die Lage so unübersichtlich. Die irakischen Islamisten verfügen natürlich über gute Kontakte zu ihren Gesinnungsgenossen im Ausland, weshalb es auch zu einer überraschenden Allianz zwischen Islamisten und Baathisten kommen konnte: Die Anhänger Saddams stellen die Logistik und Kommandostruktur für die zugereisten islamistischen Kämpfer. Daneben gibt es ein paar reiche Iraker, die bestimmte Einsätze finanzieren oder gewöhnliche Kriminelle für Anschläge anheuern. Und nicht zuletzt motivieren die Übergriffe und die Ungeschicklichkeit der Besatzer einzelne Leute zu Vergeltungsaktionen. Dass die Attacken von Saddam Hussein oder seinem alten und kranken Intimus, dem früheren Vizepräsidenten Issat al-Duri, gesteuert seien, ist jedenfalls eine ziemlich abwegige Vorstellung der Amerikaner.

Für die Anschläge und bewaffneten Aktionen gibt es demnach erstaunlich unterschiedliche Motive. Selbst unter den angeblichen „Baathisten“ finden sich nicht nur Anhänger Saddams. Manche ehemaligen Funktionäre des Sicherheitsapparats begründen ihre Widerstandsaktivitäten mit einer Mischung aus Patriotismus und religiöser Überzeugung. Es geht ihnen nicht um die Rückeroberung der Macht. Sie scharen sich nur um Saddam Hussein, weil er in ihrem aussichtslosen Kampf als Symbolfigur dient, die für die glorreiche Vergangenheit wie für den neuen Heldenmut steht. Diese Kämpfer würde die Verhaftung oder Liquidierung Saddams sicher hart treffen, doch als Einsatzleiter brauchen sie ihn wirklich nicht.

Auch die Gewaltakte selbst weisen große Unterschiede auf. Insgesamt lassen sich die Anschläge und Attentate auf Personen kaum einer geschlossenen politischen Opposition gegen die Besatzungsmacht zuordnen. Manchmal fällt der Verdacht auf bestimmte Parteien oder Politiker, zuweilen halten sich auch hartnäckig Gerüchte, die CIA, der israelische oder der iranische Geheimdienst hätte die Hand im Spiel gehabt. Washington möchte natürlich möglichst alle Anschläge den Baathisten und islamistischen Terroristen zuschreiben, und von Fall zu Fall kursieren die aberwitzigsten Theorien.

Sicher ist allerdings, dass die Anschläge, jedenfalls bisher – entgegen der US-Propaganda – nicht auf die Zivilbevölkerung zielen, auch wenn es häufig zu tragischen Verlusten unter der Irakern kommt. Insgesamt aber ist die bewaffnete Opposition nur schwer zu fassen. Sechs Monate nach der Auflösung des irakischen Sicherheitsapparats verfügt die Besatzungsmacht noch über keinen funktionierenden Nachrichtendienst. Die verschiedenen Gruppen hatten also Zeit, sich zu formieren und neue Bündnisse zu gründen. Jedenfalls müssen die Besatzer sich auf eine Reihe neuer und andauernder Bedrohungen unterschiedlicher Art einstellen, gegen die auch ihre groß angelegten Razzien nichts ausrichten konnten. Inzwischen sind US-Fahrzeugkonvois nicht mehr ohne Luftunterstützung unterwegs, und die besonders gefährlichen Routen werden aufwendig gesichert. Auch die Sicherheitsmaßnahmen rund um die Stützpunkte wurden verstärkt, immer häufiger finden Durchsuchungen in den irakischen Wohnvierteln statt.

Die Gegner reagieren natürlich auf solche Maßnahmen, indem sie neue Angriffsmethoden und neue Ziele ersinnen. Alles scheint denkbar, sogar der Beschuss von US-Truppen mit Chemiewaffen aus den alten Arsenalen. Für die USA hat ein Kampf gegen die Zeit begonnen, und gegen einen Gegner, über den sie wenig wissen. In Washington ist man sich dieser Schwächen bewusst und versucht daher verstärkt, lokale Verbündete zu gewinnen: ausgewählte Informanten, reaktivierte Geheimdienstleute und alle möglichen Gruppen, die ein Interesse an der Verfolgung der gestürzten Baathisten haben – von den Kurdenparteien DPK und PUK bis zu den Schiiten der al-Daua oder des Obersten Rats der Islamischen Revolution (Sciri).

Die Truppen der USA werden gewiss noch einige Verluste erleiden, aber sie dürften der Herausforderung am Ende doch gewachsen sein. Schließlich fehlt dem bewaffneten Untergrund die Unterstützung aus der Bevölkerung. Viele Iraker sind durchaus für eine Demütigung der Besatzer. Davon zeugt unter anderem, dass Gerüchte über die Vergewaltigung amerikanischer Soldatinnen oft freudig weitererzählt werden. Und etliche von ihnen sind auch stolz auf spektakuläre Einzelaktion wie ein paar Raketen auf das Hotel Raschid oder den Abschuss eines Hubschraubers. Doch solche Reaktionen stehen vor allem für das verständliche Gefühl der verletzten Würde. Im Übrigen aber verhält sich die Mehrheit der Iraker durchaus passiv. Und die oppositionellen Gruppen haben nichts anzubieten, was die Bevölkerung mobilisieren könnte. Denn ihr einziges Ziel ist der sofortige Abzug der Okkupanten.

Le Monde diplomatique vom 12.12.2003