10.12.2004

Vom Schaden des Hungers

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Vom Schaden des Hungers

DIE Verheerungen, die Unterernährung anrichtet, lassen sich wirtschaftlich beschreiben: Hunger senkt die Produktivität und mindert das Volkseinkommen. Die schwachen Staaten, besonders in Afrika, sind wiederum nicht in der Lage, genug Lebensmittel zu importieren, um ihren Bevölkerungen zu helfen – ein tödlicher Kreislauf. Die internationale Entwicklungshilfe schrumpft, aber auch viele Regierungen der Hungerländer sind nicht so aktiv, wie es zur Bekämpfung der Unterernährung nötig wäre. Würden sie mehr Geld in die Entwicklung des Agrarsektors stecken, könnte dieser zum Motor des sozialen Fortschritts werden.

Von JACQUES DIOUF *

Nach einem Wort des griechischen Philosophen Xenophon ist „die Landwirtschaft die Mutter aller Künste. Wird sie gut geführt, gedeihen alle anderen Künste; aber wenn sie vernachlässigt wird, verfallen alle anderen Künste, auf dem Land wie zur See.“ Da wir die Landwirtschaft heutzutage vernachlässigen, leiden weltweit noch immer 852 Millionen Menschen an Unterernährung, davon allein 200 Millionen in Afrika. Hunger ist allerdings nicht etwa deshalb ein anhaltendes Problem, weil nicht genügend Nahrungsmittel produziert würden, um die Bevölkerung der ganzen Erde zu ernähren, sondern weil die Bedürftigsten nicht über die Mittel verfügen, das Nötige zu kaufen oder selbst zu erzeugen.

Bei ihrem Gipfeltreffen 1996 in Rom haben sich die Staats- und Regierungschefs verpflichtet, die Zahl der unter Hunger oder Fehlernährung leidenden Menschen bis 2015 zu halbieren. Mehrere Entwicklungsländer hielten sich an ihre Zusage und initiierten groß angelegte Nahrungsprogramme. Andere hingegen unternahmen keine Schritte in diese Richtung. Deshalb hat sich die Ernährungslage in manchen Ländern sogar verschlechtert.

Wenn man auf die ökonomischen Vorteile verweist, die sich aus der Beseitigung des Hungers ergeben würden, stößt man häufig auf Gleichgültigkeit. Dabei ist der Kampf gegen den Hunger nicht nur ein moralischer oder ethischer Imperativ, sondern auch eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Unterernährung schwächt die körperlichen und kognitiven Fähigkeiten, begünstigt die Ausbreitung von Krankheiten und führt zu hohen Produktivitätseinbußen. Nach einer Studie der Welternährungsorganisation (FAO), die für 110 Länder die Entwicklung im Zeitraum 1960 bis 1999 untersucht, hätte das jährliche Pro-Kopf-Einkommen in der südlichen Sahara im Jahr 1990 zwischen 1.000 und 3.500 Dollar erreichen können, wenn es dort keine Unterernährung gäbe. Heute liegt es bei nur 800 Dollar. Welch enormen Nutzen es Produzenten und Dienstleistungsunternehmen bringen würde, wenn 200 Millionen Hungernde Konsumenten sein könnten, ist leicht einzusehen.

Afrika ist der einzige Kontinent, auf dem die Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse pro Kopf in den vergangenen 25 Jahren zurückgegangen ist. Afrika ist auch ein Kontinent, wo eine verfehlte Wirtschaftspolitik während der kolonialen wie postkolonialen Epoche in der Landwirtschaft zu gewaltigen Rückschlägen führte. Die Favorisierung von Industrialisierung und Monokultur hat den Agrarsektor aus dem Gleichgewicht gebracht und immer weiter geschwächt. Und da ausländische Hilfsgelder häufig in die falschen Kanäle gelangten, konnten sie nicht die erwarteten Resultate erzielen. Überdies sank die Auslandshilfe pro Kopf zwischen 1983 und 1999 von 43 Dollar auf nur noch 30 Dollar.

43 der 53 Länder Afrikas weisen ein geringes Pro-Kopf-Einkommen und zugleich Nahrungsdefizite auf. Damit sind sie nicht nur außerstande, die Bevölkerung zu ernähren, sie verfügen auch nicht über die nötigen Ressourcen, um den Mangel durch Importe auszugleichen.

Heute sind 45 Prozent der afrikanischen Bevölkerung unter 15 Jahre alt. Insgesamt leben auf dem schwarzen Kontinent 832 Millionen Menschen (Stand 2002); bis 2050 dürfte diese Zahl auf 1,8 Milliarden ansteigen. Um diese Gesamtbevölkerung zu ernähren, muss die Nahrungsmittelerzeugung und damit auch die landwirtschaftliche Produktivität zunehmen. Derzeit beschäftigt der Agrarsektor 57 Prozent der afrikanischen Bevölkerung, zugleich erwirtschaftet er 17 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und 11 Prozent der Exporteinnahmen.

Würden die afrikanischen Länder einen größeren Teil ihres Staatshaushalts in die Landwirtschaft investieren, könnte dieser Sektor zum Motor der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung werden. Auf ihrem Gipfeltreffen in Maputo im Juli 2003 verpflichteten sich die Staats- und Regierungschefs der Afrikanischen Union, ihre Agrarbudgets in den kommenden fünf Jahren immerhin auf 10 Prozent der gesamten Staatsausgaben zu verdoppeln. Damit ließe sich das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts beschleunigen und ein positiver Impuls für den industriellen und den Dienstleistungssektor auslösen.

Wesentliche Voraussetzung für eine solche Entwicklungsstrategie ist ein effizientes Wassermanagement, denn die Bewässerungslandwirtschaft erbringt dreimal so hohe Erträge wie die Regenlandwirtschaft. Derzeit nutzt Afrika aber nur 4 Prozent der verfügbaren Wasserressourcen. Südlich der Sahara sind es gar nur 1,6 Prozent, und nur 7 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche sind bewässert. Zum Vergleich ein Blick auf Asien: Hier werden 17 Prozent der Wasserreserven genutzt und 40 Prozent des bewirtschafteten Landes bewässert.

Daher wäre es dringend geboten, das Bohren von Brunnen und den Bau von kleinen Be- und Entwässerungskanälen und einfachen Staudämmen auf Dorfebene zu fördern. Die Perspektivplanung der FAO sieht vor, die bewässerte Nutzfläche möglichst rasch und zu vernünftigen Kosten – vor allem durch die Mobilisierung ländlicher Arbeitskräfte – von 7 auf 14 Prozent zu verdoppeln. Damit ließen sich viele der durch Dürreperioden verursachten Hungersnöte vermeiden.

Effizientes Wassermanagement als eine wesentliche Vorbedingung für die Schaffung gesicherter und ganzjähriger Arbeitsplätze und Einkünfte – dies ist ein Hauptziel des FAO-Sonderprogramms für Ernährungssicherheit (SPFS), das in nunmehr 101 Länder, darunter 42 afrikanischen, zur Anwendung kommt. Bis zum 1. November 2004 wurden für dieses Programm insgesamt 766 Millionen Dollar aufgebracht, wovon 67 Prozent aus dem Staatshaushalt der Entwicklungsländer stammten. Das Programm fördert unter anderem die Einführung von Hochertragssorten im Getreide-, Gemüse- und Obstanbau, den Aufbau kleiner Viehzuchtbetriebe mit Geflügel, Schafen, Ziegen und Schweinen sowie kleinere Fischereibetriebe und Fischfarmen.

Schädlinge und Krankheiten verursachen im Ackerbau und in der Viehzucht hohe Verluste. Die FAO initiierte 1994 daher das weltweite „Programm zur Bekämpfung von grenzüberschreitenden Tierkrankheiten und Schädlingsplagen“ (Empres). Das Programm zielt darauf, die Gefahren frühzeitig zu erkennen und rasch auf sie zu reagieren, die nationalen Kapazitäten in diesem Bereich zu stärken sowie Forschungsnetzwerke zur Entwicklung effektiver und umweltschonender Gegenmaßnahmen zu organisieren.

Höchste Priorität beim Pflanzenschutz hat die Bekämpfung von Wanderheuschreckenplagen. Das entsprechende Programm, das seit 1997 betrieben wird, hat dank kontinuierlicher Finanzierung vor allem im zentralen Verbreitungsgebiet der Wanderheuschrecke rings ums Rote Meer gute Wirkungen erzielt. In Westafrika kam es hingegen mangels finanzieller Ressourcen nie richtig aus den Startlöchern. Obwohl die Welternährungsorganisation bereits im Oktober 2003 entsprechende Warnungen verbreitete, hat die Heuschreckenplage im westlichen und nordwestlichen Afrika alarmierende Ausmaße erreicht. Ausgiebige Niederschläge schufen günstige Voraussetzungen dafür, dass sich der Schädling rasch vermehren konnte.

Infolge der verspäteten Reaktion der Geldgeber und der multilateralen Hilfsorganisationen hat sich die Situation vor allem seit dem Sommer dieses Jahres dramatisch verschärft. Eine erfolgreiche Bekämpfung der Wanderheuschrecke setzt voraus, dass die betroffenen Länder und die internationale Gemeinschaft ihre gemeinsame Verantwortung wahrnehmen.

Die Ernährungssicherheit und die Ausrottung des Hungers haben für Afrika nach wie vor oberste Priorität. Gleichwohl können auch diese Länder nicht auf Dauer von den weltwirtschaftlichen Kreisläufen ausgeschlossen bleiben. Sie müssen sich also den geltenden Qualitätsnormen und lebensmittelrechtlichen Sicherheitsstandards anpassen, um ihre Erzeugnisse auf den internationalen Märkten absetzen zu können. Hier hilft die FAO vor allem, die einschlägigen Gesetze und Durchführungsbestimmungen zu formulieren, die Institutionen zu festigen, das erforderliche Personal auszubilden und die wissenschaftliche Infrastruktur zu stärken.

Eine weitere – und nicht die geringste – Herausforderung liegt im Ausbau der ländlichen Infrastruktur: von Straßen, Lagerhallen, Märkten und Anlagen zur Lebensmittelverarbeitung. Nur so können die Landwirte Zugang zu modernen Rohstoffen erlangen und ihre Erzeugnisse zu wettbewerbsfähigen Preisen vermarkten. In Europa gab es nach dem Zweiten Weltkrieg den Marshallplan, mit dessen Geldern die Infrastruktur wiederaufgebaut werden konnte. Und auch die EU verfolgt ganz offiziell das Ziel, den Rückstand der neuen Mitgliedsstaaten in diesem Bereich aufzuholen. Es kann also nicht sein, dass Afrika ohne den Ausbau von See- und Flughäfen, ohne neue Straßen und Eisenbahnen und ohne eine zuverlässige Stromversorgung vorankommen soll.

Festzuhalten bleibt auch, dass die immer wiederkehrenden Hungersnöte nicht nur durch Dürreperioden verursacht wurden. Die bewaffneten Konflikte, die das subsaharische Afrika zwischen 1970 und 1997 (in dem Untersuchungszeitraum der jüngsten Studie) erlebte, haben der Landwirtschaft Verluste von schätzungsweise 52 Milliarden Dollar zugefügt. Das entspricht etwa 75 Prozent der gesamten staatlichen Entwicklungshilfe, die in diesem Zeitraum geleistet wurde.

Die Benachteiligung, unter der Afrika leidet, zeigt sich in vielen Bereichen. Der Anteil am Welthandel liegt infolge des eingeschränkten Zugangs zu den Agrarmärkten der Industrieländer unter 2 Prozent. Die Bevölkerung wächst schneller als die Wirtschaft. Die staatliche Auslandsverschuldung ist noch immer erdrückend. Die Entwicklung wird durch gravierende Gesundheitsprobleme (Schlafkrankheit, Durchfallkrankheiten, Aids) behindert. Doch wir dürfen auch nicht vergessen, dass Afrika über immense Ressourcen verfügt, also zum Beispiel über riesige Rohstoffvorkommen und einen Binnenmarkt, der in fünfzig Jahren etwa 2 Milliarden Menschen umfassen wird.

In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts waren Europa und Amerika in zwei verheerende Weltkriege verwickelt. Anschließend wurde die Auseinandersetzung nach Asien verlagert, nach Korea, Indochina und Indonesien. Danach kam es zu Bürgerkriegen in Zentral- und Südamerika, die der Bevölkerung große Opfer abforderten. Heute, knapp 50 Jahre nach dem Erlangen ihrer Souveränität, durchleben die Staaten Afrikas die typischen Kinderkrankheiten, die mit dem Aufbau von Nationalstaaten und der Konsolidierung nationaler Gesellschaften einhergehen.

Diese Aufgaben werden durch ethnische Konflikte und die Interessen internationaler Finanzkreise nicht gerade erleichtert. Nur sollte man darüber nicht vergessen, mit welchem Eifer die afrikanische Jugend nach Wissen und Bildung strebt, wie hart die afrikanischen Bauern und Arbeiter arbeiten, wie beharrlich die Emigranten versuchen, die Lebensbedingungen ihrer im Land gebliebenen Verwandten zu verbessern. Es ist dieses Afrika, auf das sich unser Optimismus und unsere Hoffnungen stützen.

deutsch von Bodo Schulze

* Generaldirektor der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO).

Le Monde diplomatique vom 10.12.2004, von JACQUES DIOUF