Die Türken vor Brüssel
Am 17. Dezember wird auf dem EU-Gipfel in Brüssel entschieden, wann die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beginnen und ob sie „ergebnisoffen“ geführt werden sollen. Doch die Gegner einer Vollmitgliedschaft verabsolutieren geografische Kriterien und nehmen die Geschichte der europäisch-türkischen Beziehungen selektiv wahr.
Von NIELS KADRITZKE
DER Eroberer ritt auf einem Schimmel in die Stadt. Seine Truppen übernahmen die Kontrolle über den Hafen, über Kasernen, Polizeistationen und das Straßenbahnnetz. Es war der 8. Februar 1919, der Feldherr war der französische General Franchet d’Espère, die Stadt war Istanbul. Der Einzug der britisch-französischen Truppen in die Metropole, die über Jahrtausende als Brücke zwischen Europa und Asien galt, zelebrierte den Untergang des Osmanischen Reiches. Die Inszenierung sollte an die Eroberung Konstantinopels durch Mehmed II. erinnern. Der war 1453 in die byzantinische Hauptstadt eingezogen, auf einem weißen Pferd. Der Schimmel, auf dem d’Espère 466 Jahre später in die osmanische Metropole einritt, war ein Geschenk der Istanbuler Griechen. Sie sahen, wie ihre Landsleute im Königreich Griechenland, die Besetzung Istanbuls als Auftakt zur Realisierung ihres vermessenen Projekts: eines großgriechischen Reiches in der Nachfolge von Byzanz.
Wer über das Verhältnis der modernen Türkei zum modernen Europa nachdenkt, darf diese Szene nicht vergessen. Es gibt ja nicht nur den historischen Vormarsch der Osmanen in Europa, der mit der Erinnerung an die „Türken vor Wien“ gerade jetzt wieder beschworen wird. Viel kontinuierlicher, massiver und folgenreicher war die Rolle, die Europa und die europäischen Mächte auf dem Gebiet der heutigen Türkei gespielt haben.
Die „orientalische Frage“ war eines der zentralen Probleme, das die Großmächte seit Beginn des 19. Jahrhunderts beschäftigte. Man wollte dem „kranken Mann am Bosporus“ seine europäischen Territorien und die Kontrolle über die Meerengen zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer abnehmen. Ökonomisch stand das überdehnte Reich unter Aufsicht europäischer Banken. Das europäische Kapital betrieb die Durchdringung Anatoliens, entlang den von ihm finanzierten Eisenbahnlinien.
Wäre dieses Konzept aufgegangen, würde Kleinasien schon lange als Quasikolonie zum europäischen Wirtschaftsraum gehören. Doch im Ersten Weltkrieg setzte das jungtürkische Regime auf die Mittelmächte; damit fand es sich 1918 auf Seiten der Verlierer wieder. In Versailles sollte das Osmanische Reich unter den Hammer kommen. Dabei sollte es nicht nur seine letzten europäischen und arabischen Territorien abtreten, auch sein kleinasiatisches Kerngebiet sollte zerstückelt werden. Istanbul und die Meerengenzone wurden von alliierten Truppen besetzt, die Italiener standen in Antalya, die Franzosen in Adana. Im Mai 1919 nahmen die Griechen Smyrna ein. Die europäischen Mächte hatten ihnen eine breite Zone um den wichtigsten Hafen Kleinasiens zugesprochen. Im August 1920 wurde die Zerstückelung Kleinasiens im Vertrag von Sèvres besiegelt. Der Westen sollte griechisch werden, im Osten ein armenischer Staat entstehen. Nur Zentralanatolien wäre als türkischer Rumpfstaat verblieben.
Seitdem ist Sèvres für die Türken ein traumatischer Begriff. Wäre der Vertrag umgesetzt worden, gäbe es heute keine Türkei. Der griechische Subimperialismus hätte den Westen Kleinasiens nicht nur erobert, sondern auch ökonomisch durchdrungen. Falls die Griechen auf ethnische Vertreibungen verzichtet hätten, wäre die muslimische Bevölkerung zur Bauern- und Dienstklasse eines von europäischem Kapital dominierten levantinischen Staats geworden, der sich auch den Osten Anatoliens – zumindest ökonomisch – einverleibt hätte.
Wäre die „orientalische Frage“ in einer dieser Varianten – quasikoloniale Durchdringung oder Hellenisierung – beantwortet worden, hätte sich die Frage, ob Kleinasien zu Europa gehört, nie gestellt. Die heutige Türkei wäre die südöstliche Peripherie des Alten Kontinents. Das geografische Kriterium, die Kontinentalgrenze am Bosporus, wäre geopolitisch hinfällig geworden. Und die Muslime Kleinasiens hätten natürlich zu Europa gehört. Zumal eine halbe Million Balkantürken, die im Zuge des griechisch-türkischen Bevölkerungsaustauschs nach Anatolien umgesiedelt wurden, in Südosteuropa geblieben wären. Kleinasien und der Balkan hätten eine Großregion gebildet, deren christlich-muslimische Prägung nichts an ihrem europäischen Charakter geändert hätte.
In der Debatte über den EU-Beitritt der Türkei sind solche kontrafaktischen Überlegungen eine nützliche Lektion. Wichtiger noch ist aber die Erinnerung an die reale Geschichte. Am 19. Mai 1919, vier Tage nach dem Einzug der Griechen in Izmir/Smyrna, rief Mustafa Kemal den nationalen Befreiungskrieg aus. Im August 1922 war die griechische Invasion zurückgeschlagen. Die Zeche zahlten die Griechen Kleinasiens, sie wurden mit dem griechischen Heer nach Westen übers Meer vertrieben. Der Vertrag von Lausanne besiegelte im Juli 1923 einen fast kompletten griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch, die erste zwischen zwei Staaten vereinbarte Zwangsumsiedlung der Geschichte.
Damit hatte sich die Türkei in Abwehr europäisch inspirierter und lizenzierter Eroberungspläne die Voraussetzungen für den Aufbau einer „modernen“ Nation geschaffen. Und auch der Nationalismus, den Atatürk als „Vater der Nation“ im Krieg gegen die existenzielle Bedrohung mobilisierte und der zum ideologischen Kitt der neuen Nation wurde, war ein Rückgriff auf europäische Modelle. Die kemalistische „Erfindung der Nation“ erinnert an die Konstituierung anderer Nationalstaaten in Südosteuropa. Um aus einer national indifferenten muslimischen Bevölkerung „stolze Türken“ zu machen, bedurfte es einer Kombination von sozialer Mobilisierung, Erziehungsdiktatur und brachialer Austreibung partikularer Identitäten. Auch dieses Rezept war den Europäern nicht fremd.
Die besondere patriarchalische Färbung des Kemalismus erklärt sich aus dem Rückstand der gesellschaftlichen Entwicklung. Aber sie geht auch auf das Vorbild anderer verspäteter Nationen zurück: Die ideologische Blaupause des türkischen Projekts ist durch die „Epoche des Faschismus“ geprägt. Auch ein entscheidendes Merkmal des kemalistischen Nationenbegriffs, die panische Negation aller religiös-ethnischen Untergruppen und Minderheiten, hatte einen historischen Grund: Die mit dem Bevölkerungsaustausch abgeschobenen europäischen Muslime sollten sich im neuen Vaterland nicht ausgegrenzt, sondern als gleichberechtigte „Türken“ heimisch fühlen.
Die wichtigsten Weichen für die Geschichte, an deren Ende die moderne Türkei als Erbe des Osmanischen Reiches steht, wurden also im Zuge der europäischen „Ostpolitik“ gestellt. Es wäre deshalb nicht nur „ungerecht“, sondern historisch unklug und perspektivlos, die heutige Türkei auf ihrem von Europa geprägten und aufgezwungenen Sonderweg allein zu lassen. Statt ihr zu helfen, den Weg nach Europa zu vollenden, und das heißt vor allem: das kemalistische Modell zu liberalisieren und eine demokratische Zivilgesellschaft herauszubilden.
Das bedeutet allerdings auch für die heutige Türkei einige Einsichten, mit denen sich auch die politischen Eliten noch schwer tun. Zum einen die Einsicht, dass die türkische Gesellschaft keineswegs schon durch den Kemalismus gründlich und irreversibel „europäisiert“ wurde, wie es die kemalistische Ideologie behauptet. Zwar hat Atatürk eine konsequente „Verwestlichung“ eingeleitet und wichtige Reformen durchgesetzt (Sprachreform und Alphabetisierung, Abschaffung des Kalifats und Neutralisierung der Religion durch den Staat). Doch eine väterliche Erziehungsdiktatur führt selten zu demokratischen Verhältnissen. Atatürk hat sich auch nie als „Demokrat“ definiert. Die ideologische Kombination von „Etatismus“ und „Nationalismus“ ließ keinen Raum für die „westliche“ Grundidee, dass Staat und Nation der Entfaltung des Individuums dienen sollen und nicht umgekehrt.
Die Entstehungsbedingungen des Kemalismus sind also ein Handikap, das volle demokratische Verhältnisse in der Türkei bis heute verhindert hat. Das erklärt auch, warum eine islamisch und nicht kemalistisch geprägte AKP-Regierung in Ankara das Reformprogramm, das der EU-Beitritt erfordert, konsequenter vorangebracht hat als die kemalistischen Politiker vor Erdogan. Es erklärt auch, warum zu den härtesten Gegnern einer konsequenten Demokratisierung die Teile der politischen Elite gehören, die Murat Belge als Hardcore-Kemalisten bezeichnet. Ihre Machtpositionen haben sie in den Bürokratien, in der Justiz und im Militär; ihr wirksamstes Instrument ist der „tiefe Staat“, der sich um den vom Militär kontrollierten Geheimdienst MIT kristallisiert.
Die beiden politischen Pole, die sich heute in der Türkei am Eingangstor zur EU gegenüberstehen, sind also nicht einfach die „islamischen Kräfte“ Anatoliens und ein „westlich orientiertes“ Lager. In der Frage, wie rasch und radikal die (Kopenhagener) Kriterien der EU zu erfüllen seien, verlaufen die Fronten ganz anders. Ihr Verlauf zeigte sich bei einer Konferenz der Grünen-Fraktion des Europäischen Parlaments, die Ende Oktober in Istanbul stattfand. Auf einem Panel über die Zukunft der türkischen Demokratie kritisierten Intellektuelle wie der Schriftsteller Orhan Pamuk und Murat Bilge, Vorsitzender der Helsinki Citizens Assembly in der Türkei, ihre eigene Gesellschaft und ihre politische Klasse. Orhan Pamuk meinte, für vieles, was man auf diesem Podium fordere, wäre man noch vor kurzem ins Gefängnis gewandert. Er fühle sich als türkischer Bürger sicherer, seitdem er unter dem Schutz Europas stehe. Die kemalistische Reaktion kam aus dem Publikum: „Herr Pamuk, warum hassen Sie die Türkei? Warum lieben Sie Ihr Vaterland nicht?“, empörte sich eine Disputantin.
Der Schriftsteller antwortete ruhig: „Wissen Sie, es gibt Leute, die lieben ihr Vaterland, indem sie foltern. Ich liebe mein Land, indem ich meinen Staat kritisiere.“ Mit dieser Antwort verletzte Pamuk gleich zwei Tabus der harten Kemalisten: Er sprach vor internationalem Publikum das Thema Folter an, das bis vor kurzem als legitimes Instrument zur Verteidigung des türkischen Staates galt. Und er verwarf die Gleichsetzung von Staat und Nation, die das Kernstück der kemalistischen Konfession darstellt.
Die Einheit von Staat und Nation war eine historisch unvermeidliche Doktrin, das ideologische Fundament, auf dem die moderne Türkei errichtet wurde. Dass diese Einheit in einem Abwehrkrieg erkämpft werden musste, hatte freilich die fatale Folge, dass sich die Armee als Garant des Staates legitimieren konnte: Die Gleichsetzung von Staat und Nation erweiterte sich zur Einheit von Staat, Nation und Armee. Mit der Einführung des Mehrparteiensystems nach 1945 hat das Gewicht der türkischen Armee in dieser Gleichung noch zugenommen. Das Offizierscorps sah sich als Hüter des kemalistischen Erbes gegen die Gefahren des politischen Pluralismus bestätigt. Das äußerte sich unter anderem in den Militärcoups zwischen 1960 und 1981 und erneut 1997 in dem „weichen Putsch“, der die islamistisch orientierte Regierung Erbakan demontierte.
Die politische Rolle der Armee ist sogar in der türkischen Verfassung kodifiziert, die die Armee nicht nur mit der Landesverteidigung betraut, sondern auch mit der „rechtzeitigen und korrekten Identifizierung von Gefahren für die Einheit des Landes und der Nation“. Und sie darf gegen jeden „offenen oder verdeckten Versuch“ vorgehen, „die unteilbare Integrität der türkischen Nation zu zerstören, von wo immer diese Bedrohung ausgeht“.
Zweifellos sehen Hardcore-Kemalisten eine solche Bedrohung auch in den Zumutungen, die ein EU-Beitritt für die Türkei mit sich bringt. Am heftigsten polemisierten sie auf der Grünen-Konferenz gegen die Forderungen aus Brüssel, die verbrieften Rechte von ethnischen und religiösen Minderheiten zu garantieren. Selbstverständliche EU-Konzepte wie „Föderalismus“ und „Europa der Regionen“ sind in dieser Wahrnehmung gleichbedeutend mit „Separatismus“, also Staatsgefährdung. Der Sèvres-Komplex sitzt tief. Und das Misstrauen, Europa wolle die Türkei womöglich aufteilen oder schwächen, sitzt auch bei vielen EU-Befürwortern dicht unter der Haut.
Die Perspektive Europa ist der entscheidende Katalysator für die demokratische Entwicklung der Türkei. Der entscheidende Maßstab ist die Herausbildung und Festigung der Zivilgesellschaft. Nur wenn diese sich mehr Raum erkämpft, wird sich die Türkei für eine EU-Mitgliedschaft tatsächlich qualifizieren können. Und nur wenn das Individuum als Staatsbürger – und auch als Mitglied einer „Minderheit“ – sich vom totalen Verfügungsanspruch „der Nation“ emanzipieren kann, wird sich die Türkei zu einer vollen Demokratie entwickeln.
Ob es so kommt, wird in der Türkei entschieden, vor allem im Streit zwischen Etatisten und Demokraten. Dieser Streit wird eine heftige Dynamik freisetzen, und sein Ausgang ist offen. Die Hüter des erstarrten Kemalismus werden versuchen, ihre Machtpositionen zu behaupten. Gegenüber dem traditionellen Lager haben die demokratischen Kräfte umso bessere Chancen, je eher die Beitrittsverhandlungen beginnen und je klarer ihre Ziel definiert werden. Umgekehrt wirken einschränkende Bedingungen, die von der türkischen Öffentlichkeit als „diskriminierend“ empfunden werden, wie Knüppel zwischen die Beine der demokratischen Kräfte. Zum Beispiel wäre es ein fataler Fehler, wenn der EU-Gipfel am 17. Dezember pompös deklarierte, dass die Verhandlungen mit der Türkei „ergebnisoffen“ geführt werden. Denn es wäre das erste Mal, dass die Möglichkeit des Scheiterns einem EU-Kandidaten mahnend ins Stammbuch geschrieben wird.
Dabei wissen alle politischen Akteure in der Türkei, dass der Ausgang des Verhandlungsprozesses insofern natürlich „offen“ ist, als er von den politischen Kräfteverhältnissen abhängt, die sich in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren im Lande entwickeln werden.
Dabei müssen sich alle Akteure über eines im Klaren sein: Als EU-Vollmitglied wird die Türkei nicht dasselbe Land sein wie der Kandidatenstaat von heute. Die Hardcore-Kemalisten werfen ihren Kritikern vor, sie wollten im Grunde eine „Zweite Republik“. Dieser Vorwurf des „Hochverrats“ drückt nur die bange Ahnung aus, dass eine erstarrte Ideologie in einer europäischen Türkei keine Zukunft hat. Aber die Transformation wird sich nicht als Bruch vollziehen, sondern als offener demokratischer Prozess, also über Konflikte und Kompromisse.
Am Ende dieses Prozesses wird zum Beispiel die türkische Armee nicht mehr ein „Staat im Staate“ sein, dessen Budget parlamentarischer Kontrolle entzogen ist. Das Justizpersonal wird nach europäischen Standards ausgebildet sein. Religiöse und ethnische Gruppen werden zum Beispiel das Recht genießen, sich zu der Identität zu bekennen, die sie selbst empfinden. Und in der Öffentlichkeit wird man die eigene Geschichte unbefangen diskutieren können, also auch Fragen wie die nach dem Schicksal der Armenier am Ende des Osmanischen Reichs.
Die Regierung Erdogan hat auf legislativer Ebene die Basis für solche Entwicklungen geschaffen. Wie diese vorankommen, wird sich zeigen müssen. Aber die EU sollte alles vermeiden, was den falschen Kräften in die Hände spielt. Gerade in diesen Zeiten sollte es sich Europa nicht leisten, eine große Chance zur Befriedung einer konfliktträchtigen Region an ihrer Peripherie zu verspielen. Sahin Alpay, einer der klügsten türkischen Kommentatoren, hat diese Chance so beschrieben: „Während die harte Macht der USA den Irak zerstört, kann die weiche Macht Europas die Türkei transformieren.“
© Le Monde diplomatique, Berlin