10.12.2004

Wo Glaube vor Recht geht

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Wo Glaube vor Recht geht

Von TAHAR BEN JELLOUN *

DIE frühen Immigranten, die damasl als Gastarbeiter ins Land geholt wurden, sind von der derzeitigen Debatte über Integration nicht betroffen. Sie sind alt, ihr Leben hat sich hier abgespielt. Viele hatten geglaubt, sie würden eines Tages zurückgehen, viele Europäer glaubten das ebenfalls. Doch dies hat sich als Illusion erwiesen, denn die Rückkehr ist schwieriger als angenommen. Einige sind allein, ohne Familie, in die Heimat zurückgekehrt. Denn ihre Kinder hatten nicht die geringste Lust, mitzukommen. Ihre Heimat ist nicht die der Eltern. Diese in Europa geborenen Kinder haben ihren Platz in der europäischen Gesellschaft nicht gefunden. Die Kultur der Eltern hat die Reise schlecht überstanden, sie ist verarmt zu ein paar Traditionen und Ritualen, die über Sprache und religiöse Bräuche an die Kinder weitergegeben werden. Der neue Ort hat diese Kultur nicht angenommen. Das Bild des Vaters wird nicht anerkannt, das der Mutter überbewertet.

Die Kultur des Gastlandes, in das diese Kinder hineingeboren wurden, ist dominant, saugt alles auf und bleibt doch unverdaut. Die jungen Leute finden in diesem Gegenüber der Kulturen mit den verschiedenen Wertesystemen kein Gleichgewicht. „Identität“ und „kulturelle Wurzeln“ sind für sie nebulöse Begriffe. Diese Unsicherheit fördert irrationale Bedürfnisse, die dann häufig von Leuten ausgenutzt werden, die sich auf den Islam berufen und dabei ein präzises ideologisches Ziel oder ein konkretes politisches Projekt verfolgen.

Holland und Deutschland sind in Marokko sehr populär. Mehrere hunderttausend Marokkaner vor allem aus dem Norden des Landes sind dorthin ausgewandert. Im Sommer machen sie Urlaub in der alten Heimat, reisen in schicken Autos an und nähren so die Träume ihrer Mitbürger, die sehnsüchtig auf ein Visum hoffen. Oft werden die Niederlande und Deutschland als Musterländer genannt, im Gegensatz etwa zu Belgien, das die Einwanderer schlechter behandelt.

In den Niederlanden hat man lange geglaubt, dass man mit den anderen Kulturen und Religionen von selbst friedlich zusammenleben könne. Das war gut gemeint, doch die Wirklichkeit ist komplexer. Die von vielen Europäern an den Tag gelegte Toleranz mag bewusst oder unbewusst der Überzeugung entsprungen sein, dass das westliche humanistisch-laizistische Wertesystem sich ohnehin durchsetzen werde. Solche Erwartungen, sollte es sie gegeben haben, haben sich als Irrtum erwiesen; zurückgeblieben ist ein Vakuum. Man hätte die Kinder der Einwanderer gerade fördern und nicht nur integrieren müssen, wenn man sie zu handlungsfähigen, zu niederländischen Staatsbürgern hätte machen wollen – eine lange, schwierige Aufgabe, die spätestens in der Schule ansetzen muss.

Die Niederländer jedoch taten das Gegenteil. Sie finanzierten mit öffentlichen Geldern religiöse Schulen, die in der Regel von Einzelpersonen oder privaten Organisationen getragen werden. Die islamischen Vereine setzten durch, dass sie die Imame stellen, die sie mit Genehmigung der Behörden aus Marokko einfliegen. Diese Männer kennen die Niederlande nicht, sie sprechen die Sprache nicht und tun so, als lebten sie immer noch in einer Gesellschaft, die nicht auf den Rechten des Individuums basiert. Um die islamische Gemeinschaft nicht vor den Kopf zu stoßen, hat Holland so letztlich Ghettos geschaffen, in denen der Glaube vor Recht geht. Das Land wollte sich gastfreundlich zeigen – es hat sich verschätzt.

Letztes Jahr wurde ich nach Amsterdam eingeladen, um an einer islamischen Schule über Rassismus zu diskutieren. Anfangs war ich unentschlossen, doch dann dachte ich mir, dass man sich auch mit Schülern solcher Institutionen unterhalten muss. Ich hatte die Schule für eine private gehalten und gemeint, sie habe nichts mit dem Staat zu tun. Doch über dem Eingang stand: „Islamische Schule von Amsterdam“. Als ich hineinging, traf mich fast der Schlag: Alle Mädchen trugen ein Kopftuch, die Lehrerinnen ebenfalls. Eine marokkanische Lehrerin erklärte mir, sie würde sonst ihren Job verlieren: Kopftuch oder Arbeitslosigkeit. In den Klassenzimmern saßen die Jungen auf der einen, die Mädchen auf der anderen Seite – Koedukation unter strenger Überwachung.

Die meisten Schüler waren marokkanischer, einige türkischer Herkunft. Anfangs sprach ich Französisch, das ins Niederländische übersetzt wurde. Dann wechselte ich ins Arabische: Erleichterung und Lachen. Plötzlich herrschte Einverständnis. Das Gespräch ging über Rassismus und Islam. Als ich die Koransuren erwähnte, in denen die Frau als minderwertiges Wesen dargestellt wird, rief eine Mädchenstimme auf Arabisch sogleich „Molheid“ (Ungläubiger, woraufhin ich über Toleranz und Meinungsfreiheit auch in Bezug auf die Auslegung des Korans sprach. Doch ich stieß auf taube Ohren.

Nach der Stunde unterhielt ich mich mit einigen Schülerinnen über ihre Lebensweise. Ich fragte eines der Mädchen, wo sie ihre Ferien verbringt. „In Tanger“, lautete die Antwort. „Und gehst du dort an den Strand?“ – „Klar, aber mein Vater weiß nichts davon. Ich trage einen Badeanzug und amüsiere mich. Aber zu Hause tue ich, was mein Vater verlangt.“ Diese Jugendlichen sind zwischen den Kulturen hin- und hergerissen; sie lernen, sich zu verstellen und sich zu fügen.

Nach diesen Erfahrungen hatte ich mir den Direktor als bärtigen Dschellabaträger vorgestellt. Doch der Mann, dem ich dann gegenüberstand, war ein niederländischer Staatsbediensteter mit Anzug und Krawatte, der weder Arabisch noch Türkisch sprach. Auf meine Frage, warum die Mädchen alle Kopftuch trugen, erklärte er, an dieser Schule sei dies Pflicht. Das sei so festgelegt. Von wem, konnte er mir nicht sagen. Als ich aus dem Gebäude trat, sah ich auf der Straße etwa dreißig traditionell gekleidete Jungen mit rasierten Köpfen. Es waren türkische Kinder, die aus der ebenfalls staatlich geförderten Koranschule kamen.

Die Niederlande lebten lange Zeit in einem künstlichen Frieden. So konnte sich auch eine rechtsextreme Partei entwickeln. Ihre Galionsfigur, Pim Fortuyn, der überall kundtat, das Boot sei voll, wurde vor zwei Jahren von einem Niederländer umgebracht, der niederländischer Herkunft war, Tiere fanatisch liebte und Homosexuelle verabscheute. Vielleicht hat der Mörder des Filmemachers Theo van Gogh sich von dem Mord an Fortuyn inspirieren lassen. Jedenfalls hat van Gogh aus seinem Hass auf die Religionen nie einen Hehl gemacht, Muslime als „Ziegenficker“ bezeichnet und in seinem letzten Film eine nackte Frau gezeigt, deren Körper misshandelt und mit Koranversen kalligrafiert war. Der Antiklerikalismus von Buñuel oder Pasolini war niemals derart aggressiv.

Heute fühlen sich die Einwanderer und ihre niederländischen Kinder durch solche Provokationen angegriffen. Die Gesellschaft, die sie so freundlich aufgenommen hat, wird ihrer überdrüssig. Deshalb hat sie eine neue, restriktivere Einwanderungspolitik verabschiedet. Mischehen zwischen Niederländern und Ausländern werden schwieriger, der Rassismus traut sich offen hervor, in Taten und in Worten. Als am 8. November in Eindhoven eine Bombe in einer islamischen Schule explodierte, formulierte einer der führenden Köpfe der rechtsliberalen Regierungspartei VVD die verbreitete Stimmung: „Das ist der Dschihad in den Niederlanden!“

In Europa leben fast zwölf Millionen Muslime. Ihre Integration ist dringend vonnöten, auch wenn der deutsche Innenminister Otto Schily neuerdings von einem „dumpfen, naiven Multikulturalismus“ spricht und Kanzler Schröder eindeutig erklärt hat, er werde keine „Parallelgesellschaften“ dulden. Das Projekt einiger europäischer Innenminister, im Maghreb „Auffanglager“ für Asylbewerber einzurichten, ist beunruhigend. Schon der Begriff „Lager“ lässt Unheil ahnen. Von solchen Ideen wissen die Menschen in Marokko bislang noch nichts.

Ein falsch ausgelegter Islam bringt Hassgefühle hervor. Theo van Goghs Mörder wollte mit seiner Tat wahrscheinlich einen Filmemacher bestrafen, dessen Werk er als Gotteslästerung betrachtete. Dieser Muslim hat den Geist der Freiheit und der Demokratie – wozu auch das Recht auf freie Meinungsäußerung gehört – nicht in sein eigenes Denken integriert. 1993 war Theo van Gogh wegen Antisemitismus zu zwanzig Tagen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Sobald er Juden verunglimpfte, wurde er von antirassistischen Organisationen zur Rechenschaft gezogen. Daraufhin hatte er seinen Hass auf die Muslime verlagert. Doch niemand hat einen Prozess gegen ihn angestrengt. Stattdessen hat ihn ein Verbrecher umgebracht.

Sicher ist Theo van Gogh kein Salman Rushdie, doch die Fatwa von Chomeini wirkt weiter und hat „das Blut des Renegaten vergossen“, wie es in ihrem Text heißt. Sie hat jungen fanatischen Muslimen das Prinzip eingebläut, dass man einen Menschen wegen seiner Ideen umbringen kann und soll. Nun wurde ein solcher Mord erstmals in Europa begangen. Deshalb betrifft er alle europäischen Länder.

deutsch von Christiane Kayser

© Le Monde diplomatique, Berlin

* Marokkanischer Schriftsteller, lebt in Paris.

Le Monde diplomatique vom 10.12.2004, von TAHAR BEN JELLOUN