10.12.2004

Die zweite Amtszeit

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Die zweite Amtszeit

DIE Wiederwahl von George W. Bush stellt für die älteste Demokratie der Welt eine schwere moralische Kränkung dar. Rein technisch ist an dieser Wahl nichts auszusetzen: Niemand wird ihren rechtmäßigen Verlauf in Zweifel ziehen können. Die Wähler haben von ihrem Recht Gebrauch gemacht und ihre Entscheidung aus freien Stücken getroffen, auch wenn sie zuvor durch Marketingstrategen und Propagandaspezialisten heftig bearbeitet wurden.

Diese Wiederwahl ist ein beunruhigender, ja schockierender Vorgang. Sie bestätigt, dass die Demokratie – die am wenigsten unvollkommene Regierungsform, die wir kennen – die Machtübernahme gefährlicher Demagogen nicht verhindern kann. Beunruhigend ist vor allem, dass ausgerechnet George W. Bush, dessen religiöser Fundamentalismus, intellektuelle Mittelmäßigkeit und mangelhafte Bildung kein Geheimnis sind, von allen Präsidentschaftskandidaten der US-amerikanischen Wahlgeschichte das beste Ergebnis erzielte. Und dies, obwohl er sein Volk getäuscht und den Kongress belogen hat, um einen von der UNO nicht autorisierten „Präventivkrieg“ führen und den Irak besetzen zu können. Dieser Präsident hat seine Streitkräfte zu unverhältnismäßigem Gewalteinsatz angehalten und damit den Tod von tausenden unschuldigen irakischen Zivilisten verursacht.

Wie Seymour Hersh in seinem Buch „Die Befehlskette“ herausarbeitet, hat sich Präsident Bush über die nach wie vor gültige Executive Order von Expräsident Gerald Ford aus dem Jahr 1976 hinweggesetzt, die den Geheimdiensten die Ermordung ausländischer Führungspersönlichkeiten untersagt, und die Exekution mutmaßlicher Terroristen angeordnet. Er hat gegen die Genfer Kriegsgefangenenkonvention verstoßen und das Foltern von irakischen Gefangenen im Gefängnis von Abu Ghraib und anderen Gefangenenlagern gestattet. Und er hat den Geist des McCarthyismus wieder aufleben lassen, insofern heutzutage schon der Verdacht, irgendwelche Verbindungen zu einer terroristischen Vereinigung zu unterhalten, einem Schuldspruch gleichkommt.

Jeder andere Staatsführer mit einer solchen „Erfolgsbilanz“ würde in der zivilisierten Welt als nicht gesellschaftsfähig gelten. Nicht so George W. Bush. Und allem Anschein nach wird er diese Richtung in seiner zweiten Amtszeit bruchlos fortsetzen. Schon die ersten beiden wichtigen Personalentscheidungen lassen erkennen, dass Bush seinen Wahlsieg als Plebiszit für seine Politik interpretiert. Die Nominierung von Alberto Gonzales zum Justizminister etwa erteilt allen Kritiker eine Abfuhr, die das Foltern mutmaßlicher Terroristen kritisiert haben. Als juristischer Berater des Präsidenten zeichnet Gonzales für die gesetzlichen Bestimmungen verantwortlich, die mit dem begrifflichen Konstrukt des „feindlichen Kombattanten“ die Umgehung der Genfer Konventionen erlaubt und damit das Gefangenenlager Guantánamo möglich gemacht haben. Derselbe Gonzales hob unter Missachtung geltender US-Gesetze und internationaler Verträge das Verbot auf, Kriegsgefangene „körperlichen Belastungen“ auszusetzen, und legitimierte dies mit dem Satz: „In Kriegszeiten ist die Autorität des Präsidenten total.“ Und was die Ernennung von Condoleezza Rice zur Außenministerin anbelangt, kommt man wohl kaum umhin, darin eine Bekräftigung des bereits praktizierten Unilateralismus zu erblicken.

Die Unfähigkeit des US-Militärs, die Aufständischen im Irak niederzuhalten, verweist allerdings auch auf die Grenzen militärischer Macht. Ein Sachverhalt, den im Moment des Todes von Jassir Arafat auch Ariel Scharon, Bushs Hauptverbündeter im Nahen Osten, bestätigen kann. Der israelische Ministerpräsident beginnt einzusehen, dass die Leidensfähigkeit der Palästinenser größer ist als das Zerstörungspotenzial seiner Armee. Ob er wohl die nötigen Konsequenzen daraus ziehen wird?

Was Bush betrifft: Wird er sich zu der Einsicht durchringen, dass die Globalisierung zu einer gewaltigen Konfrontation führen kann, wenn man diese Probleme nicht mit multilateralen Konzepten und Bündnissen angeht? Wird er einsehen, dass keine Macht den Anspruch erheben kann, das Gesetz allein in die Hand zu nehmen?

Le Monde diplomatique vom 10.12.2004, von IGNACIO RAMONET