10.12.2004

Das Wort, als Fleisch verkleidet

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Das Wort, als Fleisch verkleidet

Am 10. Dezember findet in Stockholm die Verleihung des Literaturnobelpreises an Elfriede Jelinek statt. Sie selbst wird nicht dabei sein. „Ich kann nicht reisen. Allein die Vorstellung, daß sich in Stockholm die Türen schließen und ich in einem Raum eingesperrt bin mit lauter so bedeutenden Leuten, macht mir Angst.“ In ihrer Dankesrede für den Lessingpreis, die sie am 2. Mai 2004 in Wolfenbüttel gehalten hat, plädiert sie für den Eigensinn und die Unverbindlichkeit der Dichtkunst.

Von ELFRIEDE JELINEK

SOLL man flüchtig zornig werden, daß so viele einen Gott zu brauchen scheinen, oder soll man gleich vor ihnen flüchten, weil sie dann gefährlich werden? Von welcher Menschen-Erziehung sollen wir Kenntnis nehmen, damit kein Blut von Märtyrern mehr aus dem Sand quillt? Warum glauben die Selbstopferer alle, daß sie das Kostbarste sind, was sie geben könnten, um ihrem Gott eine Freude zu machen, und welche „Aussichten auf ewige Belohnungen“ sollen ihnen dabei helfen? Vor welchen verheißenen Strafen soll man sich in Sicherheit bringen? Warum braucht man die angekündigten Strafen und Belohnungen überhaupt, nur um gleich danach im Paradies, zu dessen Wundern man nichts beitragen mußte, das als fertig gedeckter Tisch bereits dasteht, wiederzukommen, weil man natürlich die Mühe scheut, auf der Erde wiederzukommen? Es ist einem natürlich gesagt worden, daß man nur dann auf die Erde zurückdarf, wenn man vergißt, daß man schon einmal dagewesen ist.

Was bringt das also? Da bleibt man lieber im Paradies bei den Jungfrauen, die vielleicht nur weiße Trauben sind! Ich lasse kein Blut, ich lasse natürlich lieber Worte aus mir hervorquellen, aber wer braucht sie, so sehr sie sich anstrengen, zeitgemäß zu sein, wer braucht sie überhaupt? Da habe ich an mir herumgehobelt und herumgefeilt, damit die Worte immer besser werden und hierbleiben dürfen, und das alles nur, damit es vergessen wird, sogar von mir selbst, und ich kann mich nicht in eine Ewigkeit katapultieren, um mir einreden zu können, alles, was ich derzeit (auf itzt) „vergessen muß“, wäre nicht „auf ewig vergessen“, wie Lessing den Menschen ins Abstammbuch schreibt. Was nützt es, wenn mir da ganze Heere entgegenkommen, die in die andre Richtung rennen und mich überfahren würden wie nichts? Wohin soll ich meine Worte hauchen, wo andre ihr Leben nur aushauchen wollen für ihr Ziel, zu dem sie der Instinkt einer Wahrheit treibt und nicht eine Leere, die sie in sich selbst haben, ein Mangel an Instinkt, dafür ein Übermaß an einer Art Ehre oder wie man es nennen will, so daß sie ihr Leben wegwerfen wollen? Ich selbst zum Beispiel habe ja nicht einmal ein Ziel. Das heißt, ich habe schon einmal geglaubt, mit dem Schreiben ein Ziel zu haben, nicht um einen bestimmten Eindruck zu hinterlassen, nicht um das Menschengeschlecht zu erziehen, von Erziehung hatte ich selbst mehr als genug, und sie ist mir nicht gut genug bekommen, als daß ich sie jemand zum Gedeihen angedeihen hätte lassen wollen wie einen Maßanzug, der den Menschen aber auch nicht gedeihen, nicht einmal größer werden läßt, egal mit wieviel und womit man ihn täglich überschüttet. Nein, auch Düngen bringt nichts. Da hätte ich ja erst Maß nehmen müssen, aber die Menschen sind oft so furchtbar maßlos. Allerdings passen sie oft nicht einmal in mein Maß hinein, obwohl das recht klein ist. Es paßt genau zwischen zwei Buchdeckel. Die Leute wollen sich aber immer in größere Massen hineinbegeben, wo sie jubelnd die Arme in die Luft werfen und zur Musik mitklatschen können. Und sie wollen sich in immer größere Maße einpassen, in denen sie dann zuckend herumstrampeln – wozu hätten sie sich denn so aufgebläht? –, ohne die Grenzen überhaupt zu berühren, geschweige denn zu finden. Sie schauen, wo das Maß endet. Es endet nicht, weil die Massen eben ihren eigenen Maßstab an sich selbst anlegen. Vielleicht werden sie erfahren, wo sie enden, wenn sie mit sich werfen.

Statt ihr Licht unter den Scheffel zu stellen, reißen sie es also darunter heraus und werfen es in die Luft. Sie werfen es weg. Davor löschen sie es brav aus, es könnte ja einen Brand geben, wenn sie ihr brennendes Licht wegschmeißen, aber nein, ich sehe, viele vergessen schon, diese Sicherheitsmaßnahme einzuhalten, sie haben ja auch die Maßnahme vergessen, auch an den Menschen, die sie töten oder töten wollen, vorher das genaue Maß zu nehmen, damit sie nicht die Falschen mit dem falschen Maß und in falschem Ausmaß töten. Es ist ihnen egal. Möglichst viele sollen es sein! Sie tun es für ihre Sache, das Zerfetzen von Fleisch und Knochen andrer Menschen, und sie glauben, es sei eine Ehre, dafür mit dem eigenen Leben bezahlen zu dürfen. Aber, was sagt uns Nietzsche? Ein Irrtum, der ehrenhaft wird, ist ein Irrtum, der eine Verführungskraft mehr besitzt! Und diese sogenannten Märtyrer werden nicht von ihren Verfolgern dazu gemacht, sie werden von ihren Gesinnungsgenossen und von sich selbst dazu bestimmt! Fleisch für Fleisch, Fleisch gegen Fleisch. Dagegen: Die Brille. Das Buch. Angeblich die letzten Worte Heiner Müllers.

Mir war lange Zeit nicht egal, was ich schreibe und für wen und warum. Inzwischen ist es mir auch egal geworden. Es hat keinerlei Folgen, wie auch das sogenannte Engagement keinerlei Folgen hatte, höchstens für mich. Es ist mir inzwischen egal, weil es ohnehin nichts nützt, was man sagt. Und es hat mich ziemlich aufgerieben, und mit diesem Abrieb kann ich nichts anfangen (Freuds Mutter hat ihrem Sohn das gezeigt, woraus die Welt ist, indem sie ihre Hände gegeneinander gerieben und ihm gezeigt hat, was dabei rauskommt. Hautschuppen, Schmutz …). Es hört einem vielleicht einer zu, vielleicht auch keiner, egal, man muß es halt trotzdem sagen. Bitte um Entschuldigung. Man kann auch „Halt!“ sagen, es ist alles eins. Und ich sage immer noch etwas, aber inzwischen weiß ich, daß es ein Zufall ist, wer zuhört. Und auch das ist egal. Denn es muß einem beim Schreiben egal sein, für wen und warum. Im Gegenteil: Es darf keine Auswirkung haben, was man sagt, auf Wirkung muß man sogar ganz besonders verzichten, freiwillig, man muß beim Schreiben auf jede Wirkungsmächtigkeit überhaupt total verzichten. Es darf keiner vor keinem, zuallerletzt vor mir, auf den Knien liegen, und ich liege vor keinem auf den Knien, ich liege höchstens ruhig im Bett, neben mir schwächere wie stärkere Mitschüler, die auch lesen, nur lesen, und damit zu ewigen Elementarschülern werden, ein Zustand, den sie eigentlich überwinden sollten.

Nein, fürs Fleisch haben wir jetzt keine Zeit, obwohl wir praktischerweise bereits im Bett liegen! Das Menschenfleisch lehnen wir prinzipiell ab, obwohl es immer interessant anzuschauen ist: Da hängt zum Beispiel schon einer, und der blutet ganz schön, das ist doch spannend, wittern wir, ich und meine Mitschüler. Es ist in letzter Zeit sogar ein aufregender Film darüber gedreht worden! Sehen wir jetzt schon das, was übers Buch hinausgeht, dieses Fleisch, das uns in jeder Form so interessiert? Das Fleisch Gottes, des Märtyrers am Kreuz? Nein, vor einer Lehre knien wir auch nicht, bitte, das Wort Gottes, egal welchen Gottes, ist inzwischen so bekannt geworden, daß es schon wieder vergessen ist. Es hatte seine Zeit, es hatte seine Chance, Das Wort, aber jetzt ist sie vorbeigegangen. Hat uns nicht einmal gestreift. Entweder das Fleisch oder das Bild hat gesiegt, das Wort kann nicht siegen, auch wenn es noch so berühmt geworden ist, seit wir es zuletzt gesehen und gehört haben. Ja, auch dieses Wort in dieser Schrift namens Koran, das „bei jeder Seite den gesunden Menschenverstand erbeben läßt!“, wie Voltaire polemisiert.

Die Einbildungskraft wird im Körperofen sehr hoch erhitzt, bis alles mögliche geglaubt und alles bisher Unmögliche getan wird. Und da dreht Lessing das alles um, nachdem er sich vorher gründlich angeschaut hat, ob auch die Rückseite präsentabel ist, und auf einmal wird der Islam die vernünftigste Religion und das Christentum eine Lehre, die an die unvernünftigsten Dinge glauben läßt. Egal woran jemand glaubt, nur um recht zu behalten, ich trample darauf herum und lasse es dann ohne Erste Hilfe liegen. Ich brauche so was nicht. Die eine Religion braucht Wunder, um an sich selbst glauben zu machen und andre an sich glauben zu machen, die andre braucht die Wunder nicht; sie braucht nicht das Unbegreifliche mit einem anderen Unbegreiflichen glauben zu machen. Sie trägt Lehren vor, die sie in einem Buch mit sich führt, das ihr genügt? Aber Die Brille, Das Buch, mehr Licht, das genügt so manchem leider nicht.

Unbekanntere Worte unbekannterer Propheten oder Götter sind inzwischen viel berühmter geworden, als sie es je waren oder auch nur gedacht hätten, das freut viele, andre weniger, so bekannt wird mein Wort oder das andrer, die keine Männer, also teilweise Götter, sind, zum Glück niemals werden können. Darüber bin ich froh. Ich strebe das nicht an, ich will doch kein Götze sein oder so was Ähnliches! Wenn es ums Fleisch geht, so will ich das nicht gehört haben. Ich will auch nicht gehört werden. Es ist mir ein entsetzlicher Schrecken, mir vorzustellen, auch nur annähernd so sehr gehört zu werden wie ein Gott. Wie gesagt, ich lehne jede Auswirkung meiner Schrift jetzt ausdrücklich ab. Zum Glück wirkt sie ohnedies nicht sehr. Ich will nicht wirksam sein wie die Schrift eines Propheten, den jeder verstehen kann, der will. Eine vernünftige Schrift, meinetwegen, aber nicht meine. Vernünftiger wäre es allerdings, die Toten wiederzubeleben, dieses schöne Wunder des Herrn Jesus, nicht sie in großer Zahl herzustellen. Wenn Sie mich fragen, und das tun Sie ja. Ich soll antworten, weiß aber nicht, was und worauf. Habe aber nichts dagegen, daß die Heilung von Kranken und die Wiederbelebung und die Wiederauferstehung von den Toten von einem Gott gewünscht und erwartet werden, das muß ich zugeben.

Das Alte Buch, das Neue Buch, Der Koran, gar kein Buch, meine paar armseligen Bücher, letztere zum Glück nicht einmal der Abschaum auf den Wellen in meinem kleinen Gartenteich, wenn ein Gewitter aufzieht, das Gewitter hat keine Fahne mitgebracht, es kommt einfach daher, man kann nichts dagegen tun. Wo sind die Kinder, die jetzt in ihre Elementarbücher schauen, die Kinder des Menschengeschlechts in die Bücher des Menschengeschlechts (zum Glück sind es nicht meine!), die sie zu verstehen glauben, die sie zu brauchen glauben? Das Alte Testament ist das Kindheitsbuch, das Elementar-Klassenbuch, für das Kleinkind das richtige Element, aber das Kind müsse sich davon fortentwickeln, meint Lessing. Wer kann so weit denken, wie das Kind sich entwickeln soll? Und hat es sich dann entwickelt, ist es nur bei sich selbst angekommen und hat immer noch nicht mehr zu verlieren als sich selbst und nicht mehr zu versäumen als die Ewigkeit. Kaum jemand kann weiter denken, als er einen Stein werfen kann, ja, wie das Kind, das sich derzeit gerade irgendwo entwickelt. Kaum entwickelt, wirft es schon. Andre wieder, die sich Sprengstoff um den Körper geschnallt haben, denken umso weiter, sie denken weiter, als ihre eigenen Körperfetzen und die von anderen fliegen können, sie denken an das Alles in seiner Allesheit. Sie sind jederzeit bereit, im Diesseits einzugehen, um in die Ewigkeit eingehen zu können. Ich liebe Kalauer. Dagegen können Sie nichts machen, das sage ich Ihnen gleich, da müssen Sie bei mir durch! Denn durch Kalauer verliert man rapide an Wirkung, und das wird von mir schließlich angestrebt. Trotzdem dürfen Sie mir jetzt nicht ins Wort fallen, solange ich es habe, passen Sie doch auf! Sie könnten sich was tun, wenn Sie in mein Wort hineinfallen, auch wenn Ihnen das Wort zufällig gefällt! Und es ist immer besser, nichts zu tun. Schreiben ist sowieso besser, als etwas zu tun. Von meinen blöden Witzen, meinen müden Scherzen können Sie mich nicht abbringen, nicht einmal mit Gewalt, na ja, mit Gewalt wahrscheinlich schon. Wenn ich etwas sagen will, dann sage ich es, wie ich will. Wenigstens diese Gratifikation will ich haben, wenn schon sonst nichts […].

Jedes Elementarbuch ist für ein gewisses Alter, sagt Lessing. Jetzt heißt es also, mehr hineinzupressen, als in das Kind überhaupt hineingeht, in das Buch muß mehr hineingepreßt werden, ja, und früher hat man ja wirklich Druckerpressen verwendet, heute nur manchmal noch, wenn das Buch besonders schön werden soll. Das ganze Kind muß gepreßt werden wie ein Heuballen, damit es zu Gott kommen kann. Und wenn man Geheimnisse, die niemand lösen kann, in das Kind hineinstopft – wie nennt Lessing den Verstand des Kindes? Kleinlich, schief, spitzfindig. Schön gesagt! Das macht es geheimnisreich, abergläubisch, voll Verachtung gegen alles Faßliche und Leichte. Der Rabbi erzieht seine Kinder mit der Schrift, er stopft in sie, diese Kinder des Menschengeschlechts, rein, was reingeht, und der Charakter des dermaßen erzogenen Volkes wird genauso, er wird wie das, was in die Schrift hineingeht, das heißt: auch wieder herauskommt, aber es bleibt Schrift. Es bleibt Schrift. Es bleibt die wunderbare folgenlose Schrift, der man folgen kann oder auch nicht. Meiner bitte nicht folgen, bleiben Sie zurück! Treten Sie mir nicht zu nahe! Schrift kann hetzen und toben und bohren, aber sie kann nicht töten, und sie kann nicht getötet werden. Sie kann vernünftig sein, aber die größte Unvernunft hervorrufen, gerade dort, wo sie am vernünftigsten ist. Es ist alles möglich. Die Lehre macht das eine Kind klug, weil es an Wunder glaubt, und so kann ihm im Grunde nichts passieren, die andre Lehre macht das andre Kind leider dumm, weil es nicht an Wunder glaubt, und so kann ihm alles passieren. Es kann allen anderen alles antun. Das Vaterland kann töten, die Wissenschaft kann töten, der Krieg kann das natürlich schon längst, Jesus ist selbst getötet worden, damit andre in seinem Namen, der nicht nur einfach so dahingestellt und dahingeschrieben ist, töten können. Aber die Schrift selbst, als Schrift, die tötet nicht. Klugheit und Wahrheit, ja, Worte sind nötig, das glaub ich auch, denn wer aufhört zu reden, der mordet vielleicht im nächsten Moment schon. Daher: Ein besserer Pädagoge muß her und dem Kind „das erschöpfte Elementarbuch“ endlich aus den Händen reißen.

Christus kam und zerriß selbst. Der Tempelvorhang zerriß, und Christus zerriß auch, buchstäblich, und eine neue Zeit der Unsterblichkeit begann, aber einer Unsterblichkeit, für die man erst mal sterben mußte. Umgekehrt geht nicht, da wird nicht einmal ein Schuh draus, der Schuh liegt dort ganz allein, und ein Stück zerfetzter Fuß steckt noch drin. Da hätte man ihn doch gleich ganz lassen können, den Menschen. Da hätte man den Menschen doch gleich im Ganzen erhalten können, statt ihn erst mal in den Tod zu schicken. Das Lamm Gottes hat seine Scharen zum Zerreißen angeregt, und was sie zerrissen haben, das war kein Papier. Das Lamm wußte, was es heißt, ein Opfer zu sein. Andre sollen das auch genießen können. Was ist dagegen bloße Schrift! Da hätten sie sich doch lieber selber verbrennen sollen, als es mit andren zu tun! Oder noch besser: das Papier verbrennen, denn das bliebe folgenlos. Ja. Ich glaube wirklich, es soll Papier verbrennen. Ich wandle jetzt ein wenig ab vom bekannten Text: Bevor Menschen verbrennen, soll lieber das ganze Papier verbrennen. […]

Christus kam also, der ich nicht gewesen sein möchte, wenn Sie mich fragen: lieber millionenmal folgenlos und ungehört bleiben, als ein Christus werden! In seiner Kindheit hat er Vernunftwahrheiten offenbart, aber die Kindheit ist jetzt vorbei, jetzt öffnet Gott sich selbst, und sogar seine Seite wird geöffnet, damit man sieht, was im Menschenfleisch alles drinnen ist: Blut. Und wenn es tot ist, Blut und Wasser. In meiner Kindheit hat er oft zu mir gesprochen, Gott, und ich habe mich lange sogar gefürchtet, stigmatisiert zu werden, so sehr habe ich damals geglaubt, was ich alles von ihm gehört hatte. „Was macht es, was alle Philosophen bestimmt, ihre Überzeugungen für Wahrheiten zu halten? Ihr Vortheil, ihre praktische Vernunft?“ fragt Nietzsche. Ich weiß es nicht. Aber ich ahne etwas von dieser Aufgeblähtheit, die auch ich einmal hatte, ohne daß ich je Philosophin hätte sein können, das ist ohnehin kein Platz für eine Frau, da zieht es so, da wird man immer weniger anziehend, je länger man denkt, da fängt die Frau, die ohnehin nichts als Fleisch und daher besonders verderblich ist, nix Auferstehung, nur für Herren, in der Damenabteilung: Schmutz, Staub und Blut und Scheiße in den Windeln, gehen Sie also in die Herrenabteilung dort drüben, wenn Sie was erleben wollen; hier, wo ich mich befinde, fängt nämlich die Frau gleich damit an, eine Dichtung ins Poesiealbum hineinzukleben, damit es nicht mehr so zieht.

Die Frau ist ja praktisch. Sie hat früher auf jede Macht gern verzichtet. Inzwischen sprengt sich aber auch die Frau in die Luft für ihr Anliegen, daß danach möglichst viele Tote herumliegen sollen. Es ist grauenhaft. Ich kann es nur sagen, wie ich es sagen kann, und das Wort Grauen liebe ich sehr, allerdings eher in Gruselgeschichten, nicht in der Wirklichkeit. Leider ist die Wirklichkeit keine Gruselgeschichte, sie wird bloß immer nur Geschichte. Den Grusel stiften andre, nicht die Dichter, die haben so gut gedichtet, wie sie gekonnt haben, aber es hat ihnen nicht gereicht. Mir reicht es schon. Ich wollte etwas für wahr halten, und das wollte ich möglichst vielen sagen. Daß etwas wie größere Gerechtigkeit herrschen soll, ja, ich glaube, das war der Schwung, mit dem ich das alles angegangen bin, aber in Österreich, wo ich lebe, zählen die Schwünge viel mehr, die man in den Schnee schreibt (und Schnee fällt nachher frisch und neu drauf, fördert den Fremdenverkehr und löscht immer wieder alles aus) – und dieses Schreiben hat dort immer schon mehr gezählt als alles übrige, was man auf Papier – wie lächerlich, man sagt „bannen“ könnte, denn was auf Papier angeblich gebannt wird, hat in diesem Land ja oft zur Verbannung geführt, also sagt man besser gar nichts. Das hat man mir schon oft geraten. Im guten, zum Glück. Jetzt will ich es nicht mehr versuchen, das Wirken, nein, ich stricke und wirke nicht, und ich kann keine Wunder bewirken. Wenn es dieser Märtyrer am Kreuz nicht geschafft hat, mit seinem ganzen Körper, wie soll ich das mit meiner lächerlichen Papierverbanntheit schaffen? Oder gebe ich etwas als Verbanntheit, als unausweichlich aus, was nur Papierverliebtheit war? Habe ich etwas einfach nur gern gemacht, weil ich nichts andres konnte? Und habe ich das Gemachte dann, um es angeberisch als Zwang zur Erziehung dieses Menschengeschlechts ausgeben zu können, so groß gemacht, bis es von selber nicht mehr stehen konnte, weil die Schwerkraft es wieder dorthin geholt hat, wo es hingehört: auf den Boden, wenn auch nicht den der Tatsachen, die ich leider nicht persönlich kenne, weil ich gar nichts kenne und nur selten rausgehe, um jemanden kennenzulernen?

Ist es ein Vorteil, sich selbst zu belügen, daß man ein hohes Ziel hat mit dem, was man da macht, und worin unterscheidet sich das Pathos dieser Selbst-Belogenheit vom Pathos der Überzeugung, würde Nietzsche fragen. Alles in Büchern, alles in Butter, und die Butter in dichtem Papier, nein, nicht im Dichterpapier, damit nichts in ihrer Umgebung Fettflecke bekommt und damit durchsichtig wird. Papier verliert gewohnheitsmäßig seine absolute Blickdichte, wenn man einen Fettfleck draufmacht. Oft versucht – immer erreicht. Alles in Butter? In bester Butter sogar?

Wir verlassen nun das Fett und wenden uns Gesünderem zu, der Erziehung, die das Fett des Gehirns abbaut und in Kraft, in Energie umwandelt, in Muskelmasse. Ich persönlich habe das Erziehenwollen aufgegeben, aber andre wollen sich vielleicht noch weiterbilden. Danke, ich für meinen Teil verzichte, aber nicht auf meinen Anteil. Gott habe einen Erziehungsplan für uns ausgearbeitet, sagt Lessing. Es muß jedoch der zweite große Schritt der Erziehung folgen, sobald das Volk eben reif dafür ist. Denn das Alte Testament hatte ja nur denjenigen in Einen fassen wollen, „der durch Sprache, durch Handlung, durch Regierung, durch andre natürliche und politische Verhältnisse in sich bereits verbunden war“. Was Gott verbunden hat, das soll der Mensch nicht trennen, weil Gott sich doch zu sich selber verbunden haben könnte. Die Körper, die Gott verbunden hat, sollen Menschen gefälligst nicht auseinanderteilen, auch wenn es nur der eigene ist. Man sollte sich nicht ans Kreuz nageln lassen, auch wenn das vordergründig als ein Fortschritt, gemessen am Lesen Des Buches des Alten Bundes erscheinen mag. „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Werdet ihr nicht essen das Fleisch des Menschensohnes und trinken sein Blut, so habt ihr kein Leben in euch.“ Da ist auch noch ein Anderes Buch, da sind andre Bücher, aber das sollten Sie besser nicht lesen! Die sind auch alle nicht wahr! Das sage ich Ihnen. Nur das Eine ist wahr. Und es ist nicht das Meine. Das ist nicht wahr. So, bitte, da erscheint Gott auch schon selbst, der wird Ihnen das bestätigen, und der hat auch selber seine eigenen Erscheinungen. Sein Vater kommt zum Beispiel, er wird gebeten, diesen Kelch am Sohn vorbeigehen zu lassen, doch der Vater sagt nein, denn der Vater sagt ja immer Nein. Der Vater ist der Neinsager. Die Mutter ist gar nichts, bestenfalls die Einsagerin, die die Sprache lehrt, aber ihre Sprache ist nicht Jaja und Neinnein, denn sie darf ja selber nicht sprechen. Sie darf sich inzwischen, wir haben jetzt Heute, in die Luft sprengen, aber sprechen darf sie nicht, nicht einmal unverhüllt in der Öffentlichkeit erscheinen darf sie an manchen Orten. Mein Gott, ich rufe dich, wie schön ist doch die Unverbindlichkeit des Schreibens, und wie froh bin ich, diese Unverbindlichkeit der Kindlichkeit endlich erreicht zu haben, nachdem ich mich so lange bemüht hatte, verbindlich zu werden, ja, überspitzt formuliert: das Menschengeschlecht, natürlich das ganze, darunter hätt ich’s früher nicht getan, zu erziehen. Ihm zumindest etwas zu erklären. Das ist inzwischen ganz vorbei. Es ist an mir vorbeigegangen, wenn auch nicht spurlos. Ich kann auch Lessing als Worte auf Papier lesen, und es tut gar nicht weh. Es tut niemandem weh. Ich könnte sogar die Worte des Propheten lesen, und ich schwöre, auch die würden mir überhaupt nicht weh tun. Ich selbst würde sowieso niemandem weh tun, das ist ja klar. Das muß nicht eigens betont werden. Meine edlen, würdigen Beweggründe, Hauptsache, man bewegt sich überhaupt, nicht wahr, auch ohne Grund ist es gesund, also meine Beweggründe, denen ich Edelnis, Edelweiß und Würde unterschoben hatte, die konnte ich gut brauchen für meinen Erziehungsplan, der allerdings weder zeitliche noch endlose Belohnungen und Strafen vorgesehen hat. Alles geht vorbei, für Jehova geht alles an den Menschen vorbei, und es geht mit ihnen vorbei, man leitet an, das ist aufgeschrieben, wie man das Anleiten macht, aber was der Mensch dann daraus erzeugt, Mord oder Windenergie, alles eins, alles dasselbe: Es endet mit ihm. Das Kind wird Knabe (das Mädchen gibt es nicht, es ist zweckgebunden und zum Verzehr bestimmt), und jeder Knabe will glücklich werden, das steht ihm zu, das ist sein verbrieftes, verschriftlichtes Recht. Aber über diese Verschriftlichung ist er ja längst hinaus, er wird neuerdings halt so gern Märtyrer. Inzwischen allerdings auch in kleinen Größen, für Mädchen, erhältlich, das Märtyrertum. Das ist schön für mich und zahllose andere. Will Christus Klugheit und Wahrheit zur Herrschaft bringen, oder was will er sonst? Ist die Schrift ein Schatten des Wollens? Oder ruft die Unsichtbarkeit der Vernunft-Schrift unter der Quarzlampe, der Quatschlampe? das Wollen hervor, macht sie das Wollen sichtbar? Schon die Schatten edler Beweggründe können regieren, während, was für ein Fortschritt, wirklich, das Regieren inzwischen durch Menschenopfer erzwungen oder verhindert werden soll.

Die Seele ist unsterblich, aber auch sie muß natürlich belehrt werden, was sollte sie denn sonst die ganze Zeit anfangen; und da sie unsterblich ist, geht unmäßig viel, eigentlich alles in sie hinein, man sieht sie ja nicht, sie hat keine Grenzen, und so muß, wie Lessing sagt, „ein anderes wahres nach diesem Leben zu gewärtigendes Leben Einfluß auf seine Handlungen“ gewinnen. So wird Christus der praktische Lehrer der Seele und der erste zuverlässige Lehrer. So wird das gequälte Fleisch der Lehrer. Sobald man aber vom Fleisch nur schreibt, solange man ihm nichts antut, bleibt alles möglich, bleibt alles offen. Gott selbst, in seiner Dreieinigkeit, muß wenigstens die vollständigste Vorstellung von sich selbst haben, ja: Vorstellung. Es geht nicht um die Vorstellungen, die Priester geben, es geht um die eine Vorstellung, in der der Gott sich selber faßt, und auf Papier kann man alles fassen, was man fassen kann. Ist Gott Papier oder ein andrer Datenträger? Der alles umfaßt, was in ihm ist? Ist Gott wieder, wie im Buch der Kindheit, das allumfassende Schreiben selbst? Nein, das geht nicht. Er kann, wie Lessing schreibt (ja, keine Angst – bloß schreibt, auch er kocht nur mit Wasser!), entweder keine vollständige Vorstellung von sich haben: oder diese vollständige Vorstellung ist ebenso notwendig wirklich, wie er es selbst ist. Vom Buch der Kindheit, der Alten Schrift, ins Fleisch des Geopferten und Sichopfernden, zurück ins Leere der Vorstellung, und die Leere ist das Grenzenloseste, wie das Schreiben.

Wie schön es Lessing beschreibt, wenn er vom Spiegel spricht, der das Bild des Sichbetrachtenden zurückwirft, aber nur das von ihm hat, wovon Lichtstrahlen auf seine Fläche fallen. In der Schrift fallen die Zeichen wie Mikadostäbe auf eine öde Fläche, früher noch bleischwer, wie nach mühsamem Aufstehen, von Hand sortiert, jeder einzelne dünne Knochen, jetzt durch das Licht des Fotosatzes, Abbilder von Licht-Zeichen, die jemand auf einem Berg gibt, auf eine Fläche geworfen, Bilder von Allem, aber es geht in die Schrift nur hinein, was man in sich hat. Entweder eine leere Vorstellung, die Vorstellung absoluter Leere, oder die Verdoppelung des eigenen Selbst, das sich betrachtet. Die Verdoppelung der Leere bleibt Leere, die Verdoppelung des eigenen Selbst, nur seitenverkehrt, im Spiegel, bleibt auch leer.

Die Sprache krümmt sich verzweifelt unter ihren eigenen Begriffen, weil sie sich selbst auch einmal im Spiegel anschauen möchte, vielleicht wird sie dann wieder Fleisch werden, eine Person sogar, etwas Angreifbares, das natürlich auch prompt angegriffen werden wird, denn alles, was machbar ist, wird auch gemacht werden, früher oder später, und da unterliegt die Sprache auch schon, sie unterliegt eben genau den Begriffen, die, ja, die auch ich ihr gebe, es sind diejenigen, die ich habe, über andre verfüge ich nicht, ich will ja auch nicht, daß über mich verfügt wird, aber da bleiben Widersprüche. In der Schrift bleiben die Widersprüche, das Fleisch widerspricht auch oft, aber es hält sich bedeckt (manchmal muß es das sogar, vor allem das Haar, auch das Gesicht sogar!), und es hält sich der Widerspruch, daß es so leicht kaputtgemacht werden kann und auch selber kaputtgeht.

Dieser Widerspruch bleibt, während den Widersprüchen auf Papier oder einem anderen Medium jederzeit widersprochen werden kann. Und dadurch leben sie mehr als das Fleisch, sie leben heftiger, die geschriebenen Widersprüche, je geschriebener, um so lebendiger, je toter, um so lebender, so funktioniert mein Gott, ohne daß er von Ewigkeit zu Ewigkeit einen Sohn zeugen müßte. Ich erzeuge selber. Stellen Sie sich das vor! Ich habe niemand anderen erzeugt, ich habe nicht einmal mich selber erzeugt, ich will nichts erzeugen, das weiter gehen kann als ich, aber ich habe doch eine kleine Manufaktur am Laufen, das können Sie sich gar nicht vorstellen, wie klein die ist! Sie wirft nicht, sie schießt nicht, sie sprengt nicht, bitte, sie beleidigt vielleicht, aber sie läuft, das ist gesund. Ich verwende die Begriffe, um mir meinen eigenen Gott zu machen oder von was auch immer, auch von der Natur, egal wovon ich mir Begriffe mache, ich bin es jedenfalls, die sie macht. Und wenn Sie wissen wollen, wovon ich mir einen Begriff machen kann, dann müssen Sie eben lesen, mehr müssen Sie nicht.

Ich bin mein eigener winzig kleiner Gott, ich bemühe mich, etwas aufzuschreiben, geschickter zu werden, aber ich bestimme keine Geschicke, darauf kann ich verzichten. Dafür habe ich ein bißchen Schicksal gespielt, ohne viel Geschick aufzuwenden, sozusagen als eine Art Mini-Midas habe ich literarische Arbeit in Geld verwandelt, eigentlich ein recht natürlicher Vorgang, der Tausch des Symbolischen gegen das Reale: Ich habe mir als Förderpreisträger einen Autor, Antonio Fian, ausgesucht, obwohl mir das Recht der Auswahl höchstens bei meinen Kleidern zusteht, nicht aber bei Menschen. Das ist im Grund schon eine Überschreitung, was ich hier mit diesem Autor mache, aber man hat mich dazu ausdrücklich aufgefordert, daß ich einen Menschen für Geld anfordere. Daß ich Geld für einen Menschen anfordere. Ich habe Antonio Fian diesen Förderpreis zugesprochen, weil er offenbar schon viel früher als ich gewußt und auch ausgesprochen hat, daß man sich beim Schreiben nicht das Blut unter den Nägeln herauspressen muß, auch wenn es einem dort noch so brennt, daß man die Nägel am liebsten ganz wegwerfen möchte, wie Jesus das sicher auch gern getan hätte, nur konnte der nicht, er hatte keine Zange. Fian wieder, der keine Zange braucht, weil er auch nichts aus Eisen irgendwo hineintreiben muß und auch niemanden heraustreiben will, Fian also sagt alles mit größter Leichtigkeit, in seinen Dramoletten, in seiner Prosa, da geht nichts fort von seinem Herzen, da spricht er einfach nur. Er muß nicht pressen oder drücken, er muß nur Achsen in sein Geschriebenes einziehen, und es werden immer mehr Achsen, und scheinbar stürzen sie ineinander, auch genau wie die Mikadostäbe, von denen ich gesprochen habe, sie fallen auch bei diesem Autor übereinander, aber nie übereinander her, ich weiß nicht, wie er es macht, möchte es aber so gern nachmachen können, es ist wie eine Mütze, die einen Kopf bedeckt: man kann sie mit Leichtigkeit, sogar Lässigkeit anheben und wieder aufsetzen, darunter bleibt der Kopf an seinem Platz.

Es wird von Fian Kritik geübt – er würde es vielleicht nicht einmal so nennen, sogar dieses Benennen würde er wahrscheinlich scheuen, obwohl er hier jetzt diesen Preis für Kritik bekommt –, aber es bleibt in eine Art Rätselhaftigkeit getaucht, wie diese Kritik funktioniert. Ich verstehe, was er kritisiert, aber ich kann nicht nachmachen, wie er seinen Gegenstand anspringt, nein, nicht einmal anspringt, er hat so gar nichts Raubtierhaftes an sich, höchstens die Trägheit des Löwen, und für den jagen bekanntlich die Weibchen. Für Antonio Fian gehen die Worte jagen, und er scheint sie noch nicht einmal zum Jagen zu schicken (nein, zu tragen auch nicht, die rennen schon von allein, keine Sorge, aber sie rennen ihm nicht davon, sie folgen ihm brav!), er faßt die Dinge, indem er sie beim Wort nimmt, ja, in diesem Punkt ist er mir sogar ähnlich, aber er muß sich dabei nicht anstrengen. Und ich glaube immer, ich muß mich dermaßen anstrengen, daß mir der Schädel zerspringt. Das ist der Unterschied zwischen uns. Er läßt zum Beispiel nackte Kleinkinder, die eine rechtsextreme österreichische Partei, ja, es ist genau die, die Sie überall auf der Welt kennen, denn sie ist eins unserer erfolgreichsten Exportprodukte; die weltbekannte Partei also läßt diese Babypopos für den von ihr eingeführten sogenannten Kinderscheck in bewährtem Populismus Werbung machen, denn: wer kann kleinen Kindern schon widerstehen? (Nur wer dem Führer widerstehen kann, kann auch kleinen Kindern widerstehen, oder? Und sogar der Führer braucht sie manchmal! Sie sind ja auch zum Küssen!) Die Babys werden in Fians Dramolett also fürs Plakatfoto gecastet, es wird alles ganz super für die Mama und eine Erleichterung von was auch immer, wenn der Scheck erst eingeführt wird, und das andre nackte Baby oder Kleinkind sagt zum ersten: „Deine Mama! Dann soll sie einmal zu uns kommen, deine Mama, wenn meine Mama kegeln ist, dann kann sie statt mit mir mit dem Papa Kinderscheck-Einführen spielen, dann wird sie schon sehen, wie super das ist.“ So leicht und so tief kann es sein, was und wie man etwas sagt. So tief. Und wenn man in Österreich tief sagt, dann meint man das Gegenteil davon: seicht, aber so wahr, daß man darin ertrinken könnte! Unter der Gürtellinie erwischt, aber immerhin erwischt. Dort, wo es weh tut. Und das wird dann alles in eine Junior-Tüte gestopft, auch wenn die Menschheit sich gar nicht mehr in ihrer Kindheit befindet, sondern vielleicht bald tot sein wird, möglich ist das immer, aber davon würde Fian nicht sprechen, wenn eine davon spricht, dann bin das immer ich. „Wenn wir Models sind, können wir uns die Junior-Tüten selber kaufen. Hoffentlich werden wir genommen“, ja, hoffentlich werden wir genommen. Antonio Fian würde es nicht so tragisch sehen, wenn ja, und auch nicht, wenn nein; ich sehe es halt tragischer, aber ich würde es viel lieber so sehen wie er. Wo ist der Onkel mit dem Fotoapparat, der das alles abbildet? Man muß nur draufdrücken, und fertig. Ich strenge mich noch viel zu sehr an, das muß aufhören. Erste Stufe: sich nicht so anstrengen, zweite Stufe: nicht wirken wollen! Antonio Fian muß sich nicht anstrengen, irgendwas in Rätselhaftigkeit zu tauchen, er sagt es einfach, und aus. Es ist ihm auch egal, ob es wirkt oder nicht. Vielleicht ist das sein Geheimnis, daß er sich gegen das Geliebtwerden nicht wehren muß und nicht irgendwelche Tiefen aufwühlen muß, weil alles schon heraufgekommen ist, an die Oberfläche, und daß man geliebt wird, das kommt nicht in die Tüte! Auch nicht in die Junior-Tüte.

So eine Belohnung, so ein schöner Preis wie der heute, die helfen mir sehr (und Antonio Fian hoffentlich auch ein wenig!), daß ich irgendwann mal, wie Gott, auf einmal so viel wegbringe, daß es der Mühe wiederzukommen nicht mehr lohnt und ich mich endlich ausruhen kann.

Le Monde diplomatique vom 10.12.2004, von ELFRIEDE JELINEK