08.05.2009

Brief aus Budapest

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Brief aus Budapest

von Gábor Papp

Lieber Freund,

Musils „Mann ohne Eigenschaften“ wurde vor rund hundert Jahren geschrieben. Darin ist Kakanien, die als Fantasiereich maskierte, aber ganz und gar reale Österreichisch-Ungarische Monarchie, anlässlich der Vorbereitung auf ein besonderes Ereignis, das siebzigjährige Regierungsjubiläum des Kaisers, auf der Suche nach sich selbst.

Wenn Du Dir die Chronologie der jüngsten Geschichte meiner Heimat ansiehst, könntest Du denken, dass auch in Ungarn Feiern bevorstehen und 2009 im Zeichen einer ganzjährigen, schwungvollen Festlichkeit und feierlicher Jubiläumsveranstaltungen stehen wird. Was für ein Jahr: Ein Jubiläum jagt das andere! Im März gab es den zehnten Jahrestag unseres Nato-Beitritts, am ersten Mai folgte der fünfte Jahrestag der Verwirklichung eines Traums, unserer EU-Mitgliedschaft, und im Oktober feiert die Dritte Ungarische Republik ihren 20. Geburtstag. Und was waren das obendrein für Akte gewesen! Immer hatten wir in vorderster Front gestanden. Wir haben die Grenze zwischen Ost und West beseitigt – und uns damit ein für allemal in die – auch deutsche – Geschichte eingeschrieben – und wir sind bei beiden Integrationen in der ersten Erweiterungsrunde dabeigewesen.

Nun, nicht nur dass keine Spur von Feiern zu bemerken ist, auch bei der Einschätzung der Bedeutung der erwähnten Daten ist die Gesellschaft ziemlich geteilt. Eine der Parteien der Wende, die Fidesz, die sich gegenwärtig in Opposition befindet, aber die Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni sowie die nächsten Parlamentswahlen aller Wahrscheinlichkeit nach mit überwältigender Mehrheit gewinnen wird, zieht sogar in Zweifel, dass überhaupt eine Wende stattgefunden hat; laut Umfragen ist der Anteil der Euroskeptiker drastisch gestiegen; und die Nato-Mitgliedschaft ist so selbstverständlich, dass sie im öffentlichen Diskurs keinerlei Spuren hinterlässt.

Stolz? Wohltuende Erinnerung? Genau das Gegenteil. Heute ist nur in einer einzigen Frage ein dem Konsens ähnlicher Standpunkt möglich: Ungarn ist Nachzügler. Seine Leistung der letzten zwanzig Jahre ist eine der schwächsten der neuen Demokratien, und es gehört zu den von der Wirtschaftskrise am schwersten betroffenen Ländern: Eben heute hat der Ministerpräsident für das laufende Jahr einen sechsprozentigen BIP-Rückgang prognostiziert, doch diese Zahl ändert sich täglich wie die Temperatur in der Wettervorhersage.

Du fragst, mein lieber Freund, wie ich und meine Familie in diesen Tagen die Krise spüren? Wie die Mehrzahl der Familien mit laufenden Krediten direkt. Hunderttausende Familien in Ungarn haben einen Fremdwährungskredit aufgenommen, denn jede Logik empfahl das als sicherste Konstruktion: Jahrelang verweilte der Euro bei 250 Forint, und im Vorjahr sprachen alle davon, dass der Forintkurs langfristig steigen wird, also tilge deinen Kredit auf der Basis von Euro oder Schweizer Franken. Noch im August wurde ich von Anlageberatern mit Anrufen bombardiert, ich solle meine Schulden in einen Devisenkredit umwandeln, denn sämtliche Londoner Analysten prophezeiten für Ende 2008 einen Kurs von 220 Forint zum Euro, statt der damaligen 240. Da der Kursanstieg des Forint schon das ganze Jahr andauerte, folgten viele dem Rat der Fachleute. Nun, während ich diesen Brief schreibe, steht der Kurs bei etwa 300 Forint, und damit muss man noch zufrieden sein, nachdem er wochenlang bei 310 Forint war. Kannst Du Dir in Friedenszeiten ein drastischeres Krisensymptom vorstellen als den Anstieg Deiner Tilgungsraten um 40 Prozent, innerhalb von vier, fünf Monaten?!

Attilas Autobarometer

Mein Freund Attila ist Wirtschaftstheoretiker und fährt seit Jahren immer die gleiche Strecke von seiner Wohnung am Stadtrand zum Arbeitsplatz in der Innenstadt. Allmorgendlich kann er sich vom aktuellen Stand der Krise ein Bild machen. Bei ihrem Bekanntwerden im Oktober verringerte sich die Fahrzeit von 45 auf 25 Minuten! Als Ungarn den IWF-Kredit aufnahm und in den Medien das Ausbleiben des Staatsbankrotts gefeiert wurde, musste er wieder zur gewohnten Zeit losfahren. Im Februar, als der steile Absturz der Börsen sich fortsetzte, verbrachte er wieder nur halb so viel Zeit im Auto. Sein privates Krisenbarometer zeigte auch politische Schwankungen genau an: Im April, als sich die Übergangsregierung bildete, näherte sich die Verkehrsdichte dem Wert vor der Krise an.

Wann wird Attila erneut in 25 Minuten durch die Stadt fegen? Ich habe keine Zweifel: innerhalb von Tagen. Schon haben mehrere Gewerkschaften für das Ende der Woche Streiks ausgerufen, und die sogenannte Expertenregierung versucht die Gemüter zu beruhigen, indem sie möglichst schnelle Sparmaßnahmen von noch nie da gewesener Härte verspricht, unter Berufung auf eine Stabilisierung, die irgendwann, aber keineswegs bald erfolgen wird.

Den letzten, eine Woche alten Umfragen zufolge würden heute 70 Prozent der Wahlberechtigten die Fidesz wählen und nicht mehr als 18 Prozent die an der Macht befindliche Sozialistische Partei. Der für die Übergangszeit nominierte Ministerpräsident wird selbst bei der sozialistischen Wählerschaft nur von 28 Prozent als für seinen Posten geeignet gehalten, und immer mehr linksgerichtete Wähler schließen sich der Mehrheit an, jenen 60 Prozent, die vorgezogene Neuwahlen unterstützen.

Wenn Du neugierig bist auf die Meinung meiner Freunde und meiner Familie: Die Mehrzahl – wie auch ich – fühlt sich nach Kakanien versetzt, in eine Welt der Unlogik. In der niemand am richtigen Platz ist. In der die Regierungsmehrheit, die aus diesem und jenem Grund die Unterstützung der Bevölkerung verloren hat, ihr Scheitern eingestehen muss, jedoch ein knappes Jahr vor den turnusmäßigen, in ihrem Ausgang völlig vorhersehbaren Wahlen nicht abdankt. Warum bloß nicht? Und warum spekuliert die Opposition darauf, dass die Wirtschaft und die in den letzten drei Jahren erheblich geschwächten demokratischen Institutionen weiter von der Straße her destabilisiert werden? Wo sie doch den Schlüssel zur Zukunft hat. Warum begnügt sie sich nicht damit, die Notwendigkeit von Neuwahlen „sanft“ zu betonen, warum verspielt sie die Chance, dass eine Linksregierung mit jenen radikalen Reformen beginnt, die seit 20 Jahren auf sich warten lassen und die alle anderen neuen Demokratien bereits durchgeführt oder in Angriff genommen haben? Wenn die Sozialisten nicht mit dem Rücktritt ihres Ministerpräsidenten auf die Regierungsmacht verzichten wollten, warum unternimmt die Opposition dann keinen Versuch, die Erosion von Recht und Ordnung aufzuhalten?

In Kakanien ist die Lage nun zum Zerreißen gespannt. Nicht nur immer wieder auf der Straße, auf dem Platz vor dem Parlament, Schauplatz Nummer eins für Demonstrationen; und nicht nur zwischen den Parteien, die keine Gegner, sondern nur Feinde kennen. Wenn prominente Vertreter der zweitgrößten Partei ihre Widersacher seit Jahren als vaterlandslos oder Landesverräter titulieren, was ist dann von der außerparlamentarischen extremen Rechten auf der Straße zu erwarten? Die jäh von ihrer Einparteienstaatsvergangenheit befreite politische Klasse hatte 1990 die Grenzen der Meinungsfreiheit großzügig gezogen, daher lässt die heutige Verfassung Ungarns Antisemitismus, Rassismus und Volksverhetzung größten Raum. Das leistet natürlich der Intoleranz Vorschub. Doch die Spannung pulsiert in Gesellschaft und Wirtschaft als Ganzes. Es gibt bedrohliche Beispiele in der Welt. Wie etwa Argentinien. Wie leicht man aus dem Mittelpunkt an die Peripherie rutschen kann, von wo der Weg zurück bitter lang ist.

Ich bin nicht erfreut, eine Übergangsregierung zu haben, doch da es nun mal so gekommen ist, halte ich ihr jedenfalls die Daumen, dass sie bis zum Frühling durchhält und genügend Schonungslosigkeit aufbringt, ihr Werk zu vollenden. Damit Ungarn nicht mehr die graueste Wirtschaft der Union hat, wo zwei Millionen Steuerzahler zehn Millionen Menschen erhalten! Kein anderes der 27 Mitgliedsländer hat einen so niedrigen Anteil an Steuerzahlern, und auch im ehemaligen Ostblock gibt es kein Land, in dem der Anteil derer, die von Sozialleistungen, Beihilfen und Rente leben, so hoch ist. Ich drücke dem Ministerpräsidenten die Daumen, dass es ihm gelingt, die gesetzeskonform in Steuerparadiese transferierten Vermögen dem ungarischen Steuersystem zu unterwerfen. Und ich vertraue seinem Sachverstand. In seiner Zeit als Unternehmer – vor ein paar Jahren – hat auch er seine Steuern in Zypern gezahlt …

Aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer Gábor Papp leitet das Presseportal Globusz.net. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 08.05.2009, von Gábor Papp