14.01.2005

Der Albtraum vom endlichen Öl

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Der Albtraum vom endlichen Öl

Für Optimisten sind die Erdölvorräte der Welt noch längst nicht erschöpft, Pessimisten sehen die Krise etwa für das Jahr 2020. Die Experten zwischen den Extremen schauen auf die Zeit kurz nach 2030. Aber niemand hat einen Plan, was dann zu tun ist.

Von D. BABUSIAUX und P.-R. BAUQUIS *

DIE so genannten nachgewiesenen Erdölreserven von schätzungsweise 1 bis 1,2 Billionen Barrel (rund 150 Milliarden Tonnen) würden beim derzeitigen Fördertempo noch ungefähr 40 Jahre reichen. Sie sind geografisch sehr ungleich verteilt; zwei Drittel der nachgewiesenen Reserven liegen im Nahen Osten. Wie sich die Förderung tatsächlich entwickeln wird, lässt sich anhand solcher Schätzungen allerdings kaum vorhersagen, denn der Umfang der Ölreserven ist unter den Spezialisten höchst umstritten.

Die Optimisten – etwa Ökonomen wie Morris Adelman und Michael Lynch vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) – geben zu bedenken, dass die bisherigen Vorhersagen einer künftiger Verknappung von der Wirklichkeit stets widerlegt wurden. So sahen Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche Experten das baldige Ende der auf Kohle basierenden Industrialisierung nahen, da die Reserven bei der damaligen Fördermenge innerhalb von 20 Jahren aufgebraucht worden wären. Und 1979 veröffentlichte BP eine Studie, die den Höhepunkt der Ölförderung außerhalb der Sowjetunion auf das Jahr 1985 datierte.

Zudem weisen die Optimisten darauf hin, dass die meisten Probebohrungen in Ländern stattfinden, deren Vorkommen bereits gut erforscht sind. Vor allem im Nahen Osten verursacht die forcierte Ausbeutung von Vorkommen, die nur durch moderne Fördertechniken erschlossen werden können, geringere Kosten als das Auffinden neuer Lagerstätten. Deshalb werde in anderen Ländern trotz bester Erfolgsaussichten weniger exploriert.

Nach Adelman errechnen sich die möglichen Fördermengen aus zwei gegenläufigen Tendenzen, die sich überlagern: aus der Erschöpfung der bekannten Vorkommen und der Erschließung neuer Reserven durch verbesserte Fördertechnologien. Bislang hat diesen Wettlauf stets der technische Fortschritt gewonnen, der die Förderkosten sinken ließ, eine bessere Ausbeutung gewährleistete und einen genaueren Überblick über die geologischen Gegebenheiten ermöglicht.

Andere Folgewirkungen sind schwieriger abzuschätzen. So galt die Förderung von Schweröl im venezolanischen Orinoko-Gürtel Anfang der Achtzigerjahre erst ab einem Rohölpreis von 30 bis 40 Dollar pro Barrel als rentabel. Aufgrund technischer Fortschritte sank dieser Schwellenwert 2004 auf 15 Dollar.

Die Pessimisten, die sich größtenteils in der Association for the Study of Peak Oil and Gas (ASPO) zusammengefunden haben, unterstreichen demgegenüber, dass die Neubewertung der Ölreserven durch die Organisation der Erdölförderländer (Opec) von 1986/87 in erster Linie politisch motiviert war und nicht die tatsächlich nachgewiesenen Reserven widerspiegelte. Ihres Erachtens werde das Maximum der weltweiten Förderung von Kohlenwasserstoffen mit 90 Millionen Barrel pro Tag zwischen 2005 und 2010 erreicht.

Um ihre These zu stützen, weisen die Pessimisten darauf hin, dass wir inzwischen einen Gesamtüberblick über die Gegebenheiten in allen Erdölbecken besitzen, vor allem hinreichend viele Stichproben. Auf dieser Basis könne man bei der Vorhersage von noch nicht nachgewiesenen Vorkommen der Wirklichkeit sehr nahe kommen. Ungewiss sei im Wesentlichen nur noch, wie intensiv wir diese Vorkommen künftig ausbeuten können. Hier gehen die Meinungen auseinander. Während die Optimisten für die kommenden 50 Jahre eine Steigerung der Ausbeutungsrate von derzeit rund 35 Prozent auf 50 bis 60 Prozent vorhersagen, sehen die Pessimisten nur wenig Spielraum für Verbesserungen, die überdies vor allem bei der Förderung von Schwer- und Schwerstöl zu erwarten seien.

Einige Expertengruppen, darunter die US-Behörde United States Geological Survey (USGS), gehen von einer mittleren Prognose aus und veranschlagen die Gesamtreserven auf 3 000 Milliarden Barrel. Davon seien 1 000 Milliarden bereits verbraucht, weitere gut 1 000 Milliarden könne man als „nachgewiesene Reserven“ betrachten, der Rest seien „nicht nachgewiesene Reserven“, also wahrscheinliche oder auch nur mögliche Vorkommen. In derselben Größenordnung liegen die Mindestschätzungen der Geologen vom Institut Français du Pétrole (IFP). Demnach wäre der Höhepunkt der Weltförderung kurz nach 2020 erreicht.

Wenn man die nicht nachgewiesenen Reserven etwas optimistischer einschätzt, also die mittleren Prognosen zugrunde legt, so ließe sich dieser Zeitpunkt bei einer gleichzeitigen Steigerung der Ausbeutungsrate auf 2030 hinausschieben. Sollten die Schätzungen der USGS künftig nach oben revidiert werden müssen, wie dies schon häufiger der Fall war, und würde man auch die nichtkonventionellen Erdöle wie Schwerstöl und Ölschiefer berücksichtigen, wäre das Maximum erst nach 2030 erreicht.

Die Kohlenwasserstoffressourcen finden sich in vielerlei mehr oder weniger schwer auffindbaren und schwer zugänglichen Lagerstätten, als Tiefseevorkommen, als Schwerstöl, als Teersand oder Ölschiefer. Sie sind also keineswegs nur Erdölvorkommen. Zahlreiche Forschungsprojekte beschäftigen sich mit der Verflüssigung von Erdgas oder Kohle (Gas to Liquids, GTL oder GTS). Mehrere GTL-Großprojekte wurden Ende 2003 im arabischen Katar begonnen, andere befinden sich in der Planungsphase.

Auf lange Sicht wäre auch eine „Karbonisierung“ von Wasserstoff denkbar, womit synthetisches Erdöl entstünde, das mit Hilfe nuklearer oder regenerierbarer Energieträger produziert würde. Zu bedenken ist allerdings, dass dabei Energie verbraucht wird, was zu erhöhter CO2-Emission führt. Nicht wenige Experten sind der Ansicht, dass die Nutzung von Erdöl ihre Grenze eher durch den Treibhauseffekt finden könnte als durch die Verknappung der Ölressourcen.

Die stärkeren Schwankungen der Erdölpreise seit 1987 werden sich kurzfristig wohl nicht eindämmen lassen. Größere „Ölpreisschocks“ sind, wenn die Prognosen zutreffen, dennoch unwahrscheinlich. Davon geht zumindest die Internationale Energiebehörde (IEA) aus, die die Produktionsentwicklung bis 2030 optimistischer sieht. Dieselbe Hypothese liegt den Shell-Szenarien zugrunde, die von einer hinreichend raschen Entwicklung regenerierbarer Energieträger ausgeht. Ganz anders hingegen die Analyse einiger Experten, die beunruhigt registrieren, dass die meisten der Verantwortlichen keine langfristigen Visionen entwickeln. Das reale oder vermutete Auftreten einer Produktionsspitze könnte einen dritten „Ölschock“ auslösen.

Wie in den 1980er-Jahren könnten die jüngsten Preissteigerungen zu Energiesparmaßnahmen und Substitutionsprozessen führen. Sie bremsen den Nachfragezuwachs und schieben den Rückgang der Fördermengen hinaus. Die Entwicklungskurve könnte damit die Form eines „zweihöckrigen Kamels“ annehmen, um einen Ausdruck von Pierre Radanne, früher Präsident der französischen Umwelt- und Energiebehörde Ademe, aufzugreifen. Pierre-René Bauquis, einer der Autoren des vorliegenden Beitrags, geht in einem jüngst veröffentlichten Szenario davon aus, dass der Erdölpreis in den kommenden 10 bis 15 Jahren auf rund 100 Dollar je Barrel steigen könnte. Diese Steigerung wäre nötig, um Energiesparmaßnahmen insbesondere im Individualverkehr zu veranlassen, den Anteil der regenerierbaren Energieträger und die Herstellung von synthetischen Kraftstoffen ohne größere Subventionen zu erhöhen, den Atomprogrammen neue Impulse zu verleihen und die Herstellung von Wasserstoff mittels Atomenergie voranzutreiben.

Eine Zukunft ohne Ölkrisen ist auch dann ziemlich unwahrscheinlich, wenn man von der optimistischen Hypothesen ausgeht. Es reicht nicht, dass die nötigen Ressourcen und Technologien zur Verfügung stehen. Zu gewährleisten ist auch, dass die Investitionen zur Erhöhung der Produktionskapazität rechtzeitig getätigt werden. Der wirksamste Faktor zur Vermeidung von Knappheit wäre ein Konsens darüber, dass sie eintreten wird.

deutsch von Bodo Schulze

* Denis Babusiaux ist assoziierter Forschungsleiter am Institut Français du Pétrole (IFP). Pierre-René Bauquis war Chef der Abteilung „Strategie und Planung“ des Energiemultis Total. Beide leiten die Arbeitsgruppe „Erdöl“ bei der Académie des Technologies.

Le Monde diplomatique vom 14.01.2005, von D. BABUSIAUX und P.-R. BAUQUIS