14.01.2005

Autoland

zurück

Autoland

IN Deutschland fahren und stehen 53 Millionen Kraftfahrzeuge in der Gegend herum – Tendenz steigend. Seit ein paar Jahren sorgt allerdings nur noch die Lkw-Flotte dafür, dass der Spritverbrauch ständig zunimmt. Dagegen wirkt der im EU-Maßstab hohe Benzinpreis, der etwa zu knapp zwei Dritteln auf Steuern basiert, dämpfend auf den Pkw-Verkehr. Der Steuersatz liegt zur Zeit bei 65,45 Cent pro Liter. 15,34 Prozent davon entfallen auf die Ökosteuer. Die Tankstellen setzen seit vier Jahren zwischen 1 und 3,5 Prozent weniger Benzin an Pkws ab.

Doch trotz Verkehrsvermeidung ist das Auto weiter Transportmittel Nummer eins: 80 Prozent der Kilometer legen die Deutschen mit dem Pkw zurück. Zugleich belegen Umfragen, dass sich immer mehr Menschen von Verkehrslärm belästigt fühlen. Dabei wird der Ärger kaum in Verbindung gebracht mit dem eigenen Auto und dem täglich frischen Gemüse im Supermarkt – oder mit dem Postpaket, das am nächsten Tag am anderen Ende der Republik sein muss.

Kleinere Mengen, schnellere Lieferungen – das sind die heutigen Anforderungen an das Transportwesen. Zugleich werden die Wege der Menschen immer individueller; der Werksbus, der die Arbeiter zu Schichtbeginn an der Fabrik abliefert, gehört der Vergangenheit an. Verkehrsbedingungen und Lebensstil haben sich gemeinsam verändert und gegenseitig beeinflusst. Neue Straßen machten den Traum vom Häuschen im Grünen realistisch – und führten zu noch mehr Verkehrslärm in den städtische Einfallstraßen.

Wer dann – notgedrungen – das eigene Auto vor der Tür stehen hat, muss auch nicht mehr beim Laden um die Ecke einkaufen, sondern kann den günstigeren Supermarkt ein paar Kilometer entfernt nutzen. Der Kegelclub im Nachbarort ist auch erreichbar. Und weil der Verkehr so gefährlich ist, soll die Kleine nicht allein zur Ballettstunde gehen. Wenn das Leben so eingerichtet ist, erscheint ein Verzicht auf das eigene Auto tatsächlich kaum möglich.

Wie der seit 2000 leicht abnehmende Pkw-Verkehr beweist, sind verkehrspolitische Veränderungen über den Preis erreichbar. Auch die Anfang 2005 mit Verspätung gestartete Lkw-Maut soll so wirken. Zwar ist sie zu niedrig, um eine starke Lenkungswirkung zu entfalten. Doch im Prinzip verteuert sie die Waren je nach Transportaufwand, sodass regionale Produkte einen Konkurrenzvorteil bekommen.

Wenig ermutigend sind dagegen Versuche, Autofahrer durch ein verbessertes Angebot zum Umsteigen auf öffentliche Verkehrsmittel zu bewegen. Das ist das Ergebnis des Car-Sharing-Pilotprojekts Choice, das nach fünf Jahren eingestellt wurde. Die Sozialwissenschaftler vom Wissenschaftszentrum Berlin mussten feststellen, dass das Bedürfnis, im Alltag jederzeit spontan losfahren zu können, in der Regel alle Vorteile einer differenzierten Verkehrsmittelwahl überlagert. Zudem schätzen Pkw-Besitzer ihre Kosten subjektiv nur halb so hoch ein, wie sie tatsächlich sind.

Verkehrspolitische Änderungen sind außer über den unmittelbaren Nutzungspreis nur über eine veränderte Siedlungsstruktur zu erreichen. Die demografische Entwicklung und die damit einhergehende Schrumpfung der Städte birgt Risiken und Chancen. Dünnen die Orte einfach nur aus, wird die Versorgung mit öffentlichen Verkehrsmitteln noch schwieriger als heute. Verkehr vermeidend ist dagegen eine kompakte Stadt.

Den Schrumpfungsprozess aktiv gestalten will die Stadt Leipzig: In zentralen Lagen sollen Häuser abgerissen und Gärten für übrig Bleibende entstehen. So ließe sich der Traum vom Haus im Grünen innerhalb der Stadt verwirklichen.

ANNETTE JENSEN

Le Monde diplomatique vom 14.01.2005, von ANNETTE JENSEN