14.01.2005

S-Bahn mit Pressluftantrieb

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S-Bahn mit Pressluftantrieb

Im Jahr 1863 entwarf Jules Verne (1828–1905) ein Bild der Welt „in hundert Jahren“: voller technischer Wunderwerke, doch ohne Kultur und Moral. Das Manuskript wollte seinerzeit niemand drucken und galt dann lange als verschollen. Erst 1994 wurde „Paris um 20.Jahrhundert“ veröffentlicht.

Von JULES VERNE

IN jener Zeit waren der Regierung verschiedenartigste Projekte unterbreitet worden. Diese ließ alle von einem Gremium aus Ingenieuren der Privatwirtschaft prüfen, denn seit 1889, als die École Polytechnique abgeschafft worden war, gab es keine staatlichen Tiefbauingenieure mehr; aber die Herren blieben in dieser Frage sehr lange geteilter Meinung; die einen wollten auf den wichtigsten Straßen von Paris eine Bahn zu ebener Erde anlegen; die anderen befürworteten unterirdische Schienennetze in Anlehnung an den Londoner Railway. […]

Das Joanne-Konzept schien alle Vorteile der Geschwindigkeit, der Mühelosigkeit und des Wohlbefindens zu vereinen, und tatsächlich war die innerstädtische Eisenbahn seit fünfzig Jahren zur allgemeinen Zufriedenheit in Betrieb.

Dieses Konzept bestand aus zwei getrennten Gleissträngen, einer für die Hin-, der andere für die Rückfahrt; so konnte es nie zu einem Zusammenstoß in entgegengesetzter Richtung kommen. Jeder dieser Gleisstränge folgte dem Verlauf der Boulevards, fünf Meter von den Häusern entfernt, über dem äußeren Rand der Bürgersteige; die Gleise wurden von eleganten Bronzesäulen getragen, welche durch kunstvoll durchbrochene Gerüste miteinander verbunden waren; diese Säulen stützten sich mit Hilfe quer verlaufender Arkaden in regelmäßigen Abständen gegen die angrenzenden Häuser.

So bildete dieser lange Viadukt, der die Eisenbahn trug, eine überdeckte Galerie, unter der die Spaziergänger Schutz vor Regen oder Sonne fanden; die asphaltierte Straße war den Wagen vorbehalten; mit einer eleganten Brücke überspannte der Viadukt die wichtigsten Straßen, die seinen Weg kreuzten, und dieser in Höhe der Zwischengeschosse hängende Railway behinderte den Verkehr auf keine Weise.

[...] Dieser auf einfachen Säulen ruhende Viadukt hätte den alten Beförderungsmitteln, die ungemein schwere Lokomotiven erforderten, wahrscheinlich nicht standgehalten; doch dank der Anwendung neuer Antriebstechniken waren die Züge überaus leicht; sie verkehrten in einem Rhythmus von zehn Minuten und führten jeweils tausend Reisende in ihren schnellen und bequem eingerichteten Wagen mit sich. Die angrenzenden Häuser litten weder unter Dampfwolken noch unter Rauch, und zwar aus dem einfachen Grund, daß es keine Lokomotive gab. Die Züge wurden mit Hilfe von Preßluft betrieben, nach einem William-System, wie es Jobard empfohlen hatte, ein berühmter belgischer Ingenieur, der Mitte des 19. Jahrhunderts hohes Ansehen genoß.

Eine Vektorröhre von zwanzig Zentimeter Durchmesser und zwei Millimeter Dicke erstreckte sich zwischen den beiden Schienen über die gesamte Länge der Bahnstrecke; sie enthielt eine Scheibe aus weichem Eisen, die im Inneren unter der Einwirkung der mit einem Druck von mehreren Atmosphären zusammengepreßten und von der Gesellschaft der Pariser Katakomben gelieferten Luft dahinglitt. Diese Scheibe, die mit hoher Geschwindigkeit durch die Röhre gejagt wurde, wie eine Kugel durch ein Blasrohr, riß den ersten Wagen des Zuges mit sich fort.

Aber wie befestigte man diesen Wagen an der im Inneren der Röhre eingeschlossenen Scheibe, da diese Röhre doch keinerlei Verbindung nach außen haben durfte? Durch elektromagnetische Kraft. Tatsächlich waren zwischen den Rädern des ersten Wagens Magnete angebracht, rechts und links von der Röhre montiert, so nah wie möglich, aber ohne diese zu berühren. Diese Magnete wirkten durch die Röhrenwand hindurch auf die Scheibe aus weichem Eisen. Diese schleppte in ihrer Gleitbewegung den Zug hinter sich her, ohne daß die Preßluft durch irgendeinen Ausgang entweichen konnte.

[...] Wenn ein Zug stehenbleiben sollte, drehte ein Stationsbediensteter an einem Hahn; die Luft entwich, und die Scheibe bewegte sich nicht mehr. Sobald der Hahn wieder geschlossen war, sorgte die Luft für den Antrieb, und der Zug nahm seine Fahrt sogleich wieder mit hoher Geschwindigkeit auf. Bei diesem äußerst einfachen Konzept von so unkomplizierter Wartung gab es keinen Rauch, keine Dampfwolken, keine Zusammenstöße, dagegen aber die Möglichkeit, jede Steigung zu bewältigen, und es schien, als hätten diese Eisenbahnlinien seit unvordenklicher Zeit existiert.

Die Straßen waren voller Menschen; die Nacht brach herein; luxuriöse Geschäfte warfen den Schein elektrischen Lichts weit hinaus; die nach dem Way-System durch Elektrisierung eines Quecksilberstreifens konstruierten Kandelaber leuchteten in unvergleichlichem Glanz; sie waren mittels unterirdischer Drähte miteinander verbunden; in ein und demselben Augenblick und mit einem Schlag erstrahlten die hunderttausend Laternen von Paris.

Ein paar rückständige Läden waren jedoch dem alten Kohlenwasserstoffgas treu geblieben; die Ausbeutung neuer Kohlengruben erlaubte tatsächlich, es zu einem Preis von zehn Centime je Kubikmeter zu liefern; die Kompanie machte dennoch stattliche Gewinne, insbesondere weil sie es als Antriebskraft in Umlauf brachte. Von den unzähligen Wagen, die auf dem Fahrdamm der Boulevards dahinrollten, liefen die meisten ohne Pferde; sie wurden von einer unsichtbaren Kraft bewegt, mit Hilfe eines Motors, bei dem sich die Luft durch Gasverbrennung ausdehnte.

[...] Schon diese Gas-Cabs verschlangen sehr viel Wasserstoff, ganz zu schweigen von jenen riesigen, mit Steinen und Werkstoffen beladenen Vehikeln, welche die Kraft von zwanzig bis dreißig Pferden entfalteten. Dieser Lenoir-Motor hatte aber auch den Vorteil, daß er während der Ruhestunden nichts kostete, eine Einsparung, die mit Dampfmaschinen unmöglich erzielt werden kann, weil diese ihren Brennstoff selbst im Stillstand aufzehren.

deutsch von Elisabeth Edl

© Paul Zsolnay Verlag, Wien 1996

Le Monde diplomatique vom 14.01.2005, von JULES VERNE