14.01.2005

Ein gemeinsames Vielfaches

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Ein gemeinsames Vielfaches

DIE seit 988 christianisierte Kiewer Rus gilt je nach Blickwinkel als Ursprung der Ukraine oder als „Wiege Russlands“. Im 12. Jahrhundert machte die Invasion der Mongolen diesem Reich ein Ende, in seinem Nordosten entstand das Fürstentum Moskau, aus dem das Zarenreich hervorging.

Das Gebiet der Ukraine (seit dem 16. Jh. als „Grenzlande“ bezeichnet) war von Kosaken besiedelt, die nach und nach durch die Mongolen (unter dem Khanat der Goldenen Horde) und Tataren (Khanat der Krim) verdrängt wurden. Ihnen folgten (im 15. bis 17. Jh.) weitere Eroberer: Türken, Ungarn, Moldawier, bevor dann Polen-Litauen die Oberherrschaft erlangte. Vom 17. bis zum 20. Jh. fiel das Land unter die Herrschaft Österreich-Ungarns und Russlands und wurde schließlich Teil der Sowjetunion.

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs gehörten 80 Prozent der Ukraine zum Zarenreich, 20 Prozent (im Westen) zu Österreich-Ungarn. 1917 bis 1920, am Ende des Weltkriegs und während des russischen Bürgerkriegs, folgten auf ein nationalkonservativ geführtes Regime unter dem Schutz deutscher Truppen einige die nationale Unabhängigkeit anstrebende Regierungen, wie etwa das von der polnischen Armee gestützte Direktorium von Simon Petliura (1919 bis 1921). Wiederholt übernahmen bolschewistische Räte die Macht, im Südosten gab es einen anarchistischen Aufstand unter Nestor Machno, ganz im Westen entstand eine Republik Galizien.

1920 bis 1939/1940 blieb der Westen aufgeteilt zwischen Polen, der Tschechoslowakei, Rumänien und Ungarn. Der Osten und Süden gehörten zur UdSSR – dort erlebten die ukrainische Sprache und Kultur eine beispiellose Blütezeit, die erst ab 1933 durch Stalins Politik der Zentralisierung und Russifizierung beendet wurde. Die Bevölkerung wurde zunächst durch Zwangskollektivierung und die dadurch ausgelösten Hungersnöte, danach durch den Völkermord dezimiert, den die Truppen Hitler-Deutschlands nach 1941 begingen. Erst die „Rückeroberung“ der westlichen Landesteile durch die UdSSR nach 1944 schuf einen neuen geeinten Staat Ukraine, der sogar einen Sitz in der UNO einnehmen durfte. 1954 wurde die russische Krim – auf Veranlassung des Ukrainers Nikita Chruschtschow – ukrainischem Staatsgebiet zugeschlagen.

Auf religiöser Ebene konkurrieren zahlreiche Kirchen und Konfessionen um die ukrainischen Seelen. Auf gesamtukrainischer Ebene haben die beiden orthodoxen Kirchen (das Patriarchat von Moskau und das von Kiew) die größte Gefolgschaft, im Westen hängen viele Gläubige der griechisch-orthodoxen (unierten) und der römisch-katholischen Kirche an.

Der vorwiegend russischsprachige Osten und Süden ist multikulturell geprägt. Hier leben Russen, Ukrainer, Tataren, Griechen, Rumänen und Angehörige verschiedener nationaler Gruppen aus der ehemaligen UdSSR zusammen. Eine eher homogene ukrainische Bevölkerung weisen der Westen und das Zentrum des Landes auf, aber auch dort leben starke Minderheiten: Polen (in Galizien), Ruthenen (unter denen es eine Autonomiebewegung gibt), Ungarn, Rumänen und Roma.

Auch in der sozialen und wirtschaftlichen Gliederung des Landes zeigen sich große Unterschiede. Mehr als die Hälfte der Industrie, die wenigstens zwei Drittel der Staatseinnahmen erbringt, konzentriert sich auf die Städte im Osten.

Mit dem Zerfall der Sowjetunion verschärften sich die Ungleichheiten, und die regionalen Besonderheiten traten deutlicher hervor. Wenn die Ukraine nicht abermals Opfer von Teilungsplänen werden will, wird sie gut beraten sein, ihre Pluralität zu akzeptieren und statt auf eine ethnisch definierte Identität auf ein politisches Bewusstsein ihrer Staatsbürger zu setzen.

Le Monde diplomatique vom 14.01.2005