14.01.2005

Tsunami

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Tsunami

VON IGNACIO RAMONET

DIE gigantischen Flutwellen, die am 26. Dezember 2004 über die Küsten der Länder am Indischen Ozeans hereinbrachen, bedeuteten eine nicht nur wegen der Zahl der Opfer historisch beispiellose Katastrophe. Beispiellos ist auch die Reichweite des Unglücks, das acht asiatische und fünf afrikanische Länder traf, aber auch tausende Touristen aus dem reichen Westen. Dass Touristen betroffen waren, erklärt zum Teil die ungeheure Medienresonanz, die es nicht gegeben hätte, wäre die Tragödie auf den asiatischen Raum beschränkt geblieben. Die Katastrophe hat vielen erstmals die Augen für die alltäglichen schlechten Lebensbedingungen der Menschen in diesen Ländern geöffnet, die dort unabhängig von „Natur“-Katastrophen herrschen.

Beim Erdbeben im iranischen Bam am 26. Dezember 2003, mit einer Stärke von 6,8 auf der Richterskala, kamen etwa 40 000 Menschen ums Leben. Als drei Monate zuvor ein Beben der Stärke 8 die japanische Insel Hokkaido erschütterte, gab es kaum Verletzte und keine Toten. Die Menschen sind also vor Naturkatastrophen keineswegs gleich. Entwickelte Länder wie Japan können Vorschriften für erdbebensicheres Bauen umsetzen. Auch die Auswirkungen von Wirbelstürmen und Überschwemmungen sind von Land zu Land unterschiedlich. Jährlich sind rund 211 Millionen Menschen von Katastrophen betroffen. Zwei Drittel davon in Ländern des Südens, wo die Armut verwundbarer macht. Ein entwicklungspolitischer UNDP-Report stellt den Begriff „Natur“-Katastrophe grundsätzlich in Frage.

Die Katastrophe im Indischen Ozean war auch deshalb ein Schock, weil sie so viele Länder an einem einzigen Tag getroffen hat. Würden wir jedoch dieselben Länder mit demselben Interesse, das wir derzeit aufbringen, ein Jahr lang beobachten, würden wir Zeugen einer schrecklicheren, zeitlupenartig ablaufenden Tragödie. So sterben in den Ländern um den Golf von Bengalen jährlich mehrere Millionen Menschen, weil sie kein sauberes Trinkwasser haben.

Die öffentliche und private Hilfe, die den von der Flutwelle betroffenen Ländern zugesagt wurde, übersteigt 4 Milliarden Dollar. Doch gemessen an den Bedürfnissen der betroffenen Staaten sind die zugesagten Gelder ein Klacks. Fünf dieser Länder haben Auslandsschulden in Höhe von über 300 Milliarden Dollar, für die pro Jahr Rückzahlungen von gut 32 Milliarden Dollar fällig sind – mehr als das Zehnfache der „großzügigen“ Tsunami-Hilfen. Der arme Süden insgesamt zahlt an den reichen Norden jährlich Schulden von 230 Milliarden Dollar zurück. Verkehrte Welt.

Das Schuldenmoratorium, das jetzt von den G-7-Staaten für die betroffenen Länder beschlossen wurde, ist keine Lösung. Was Not tut, ist ein Schuldenerlass, wie ihn die USA bei ihren Partnerstaaten für den Irak durchgesetzt haben. Was einem Land mit reichen Öl- und Erdgasvorräten gewährt wird, muss auch für die viel ärmeren Länder am Indischen Ozean möglich sein.

DIE aktuelle Spendenbereitschaft ist so notwendig wie bewundernswert, aber sie ist keine langfristige Lösung. Emotionen können Politik nicht ersetzen. Jede Katastrophe offenbart wie unter dem Vergrößerungsglas die strukturelle Not der ärmsten Länder. Wenn man diese – und die Folgen von Desastern – wirklich abmildern will, sind dauerhafte Lösungen gefordert. Nötig wäre eine Art internationale Mehrwertsteuer.

Die Idee einer „Weltsteuer“ auf Börsen- und Devisengeschäfte (Tobin-Steuer), auf Waffenverkäufe und den Verbrauch nicht erneuerbarer Energien wurde der UNO am 20. September 2004 von den Präsidenten Brasiliens, Chiles und Frankreichs und dem Ministerpräsidenten Spaniens vorgelegt. Diese Initiative unterstützen heute mehr als hundert Länder. Die Reaktion auf die Katastrophe im Indischen Ozean sollte ein Anstoß sein, diese internationale Solidaritätssteuer unverzüglich einzuführen.

Le Monde diplomatique vom 14.01.2005, von IGNACIO RAMONET