14.01.2005

Technologische Utopien

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Technologische Utopien

Der Anstieg des Ölpreises rührt zwar von aktuellen politischen Krisen, aber er signalisiert auch die absehbare Erschöpfung der Vorkommen nicht erneuerbarer Energie. Die Experten der Branche versuchen, das Dilemma mit fragwürdigen Prognosen zu verschleiern. Oder sie versprechen neue wissenschaftlich-technologische Lösungen wie die legendäre „Wasserstoffzivilisation“, die mehr ökologische Probleme schaffen, als sie lösen. Ein seriöses Energiemanagement muss zum einen auf den Ausbau alternativer Energiequellen setzen, zum andern die Einsparpotenziale ausschöpfen. Damit ist vor allem die reiche Welt aufgefordert, ihre Lebens- und Konsumweise zu ändern.

Von BENJAMIN DESSUS *

DAS Barrel Erdöl zu 50 Dollar, Klimaerwärmung, Warnungen vor Nuklearterrorismus, dicke Luft über den Städten – für den Energiesektor zeigen alle Warnlampen rotes Licht. Wie stets in Krisenzeiten tauchen hier und da neue Propheten auf, die Rettung vor dem drohenden Desaster versprechen.

Ihre Ideen schöpfen sie, wie könnte es anders sein, aus dem Fundus wissenschaftlicher und technologischer Neuerungen. Von der kontrollierten Kernfusion über die unterirdische Einlagerung der CO2-Emissionen unserer Kohlekraftwerke bis hin zur „Wasserstoff-Zivilisation“ und zu erdnahen Solarkraftwerken empfehlen uns die neuen Gurus und ihre Adepten ein ganzes Arsenal an „Lösungen“ für das globale Energieproblem.

Als typische Eiferer nehmen es die Verfechter dieser Lösungen mit den Gesetzen der Physik nicht allzu genau und schreiben ihren Rezepturen nachgerade fantastische Eigenschaften zu. Zum Beispiel die potenzielle Fähigkeit, die wachsenden Energieprobleme der Menschheit endgültig oder jedenfalls auf Jahrhunderte hinaus zu lösen; dazu ökologische Unbedenklichkeit und eine sehr geringe Unfallwahrscheinlichkeit, wobei eventuelle Unfälle überdies völlig harmlos seien.

Hinzu kommen äußerst niedrige Kosten, wenn die Machbarkeit erst einmal erwiesen sei und die industrielle Umsetzung begonnen habe. Natürlich müsse man nur noch die nötigen Forschungs- und Entwicklungsgelder auftreiben – aber das sei nur ein Klacks, wenn man bedenke, dass die Menschheit je nach Technologie in 30 bis 100 Jahren alle Energiesorgen los sein werde. Wer wollte sich solch atemberaubenden Aussichten verschließen?

Da kaum jemand die anstehenden Probleme bezweifelt, geht die Diskussion vor allem um die Erfolgschancen der einzelnen Lösungsvorschläge, um ihre Entwicklungsdauer und ihre Entwicklungskosten, mitunter auch um die Frage, welchem Land die Ehre gebührt, die ersten Prototypen zu beherbergen. So auch beim Kernfusionsprojekt „Internal Thermonuclear Experimental Reactor“ (Iter). Nachdem sich die Vereinigten Staaten und Japan aus dem Abenteuer zurückgezogen haben, kündigte die französische Regierung vor kurzem an, die für den Bau des Reaktors ursprünglich vorgesehene Summe von 457 Millionen Euro verdoppeln zu wollen. Diese 914 Millionen Euro entsprechen recht genau der Summe, die Frankreich im Lauf von 30 Jahren für die Forschung über regenerierbare Energieträger ausgegeben hat.

Niemand jedoch scheint sich in Frankreich die Frage zu stellen, warum Japan und Amerika sich auf leisen Sohlen aus dem Kernfusionsprojekt hinausgeschlichen haben, obwohl sie von Anfang an dabei waren. Bei der Kernfusion im Iter werden zwei Atome verschmolzen: Deuterium und Tritium. Deuterium findet sich in kleinsten Mengen im Meerwasser; Tritium hingegen kommt in der Natur so gut wie gar nicht vor, weshalb man es mit Hilfe von Lithium herstellen will. Bei dem Fusionsprozess entstehen Helium und eine energiereiche Neutronenstrahlung, die eingefangen werden muss. Diese Energie gelangt über einen Wärmetauscher in einen Wasserdampfkreislauf, der eine Turbine mit Stromgenerator antreibt. Fragt sich nur, wie hoch der Energieaufwand für dieses Verfahren ist. Seine Verfechter schweigen sich darüber aus.

Ebenfalls verschwiegen wird, dass die bei einer Kernfusion entstehende Neutronenstrahlung zehnmal so stark ist wie die in einem Spaltungsreaktor. Dies führt in kurzer Zeit zu einer Versprödung der Gefäßwand, die daher regelmäßig erneuert werden muss. Da der Neutronenbeschuss in der Gefäßwand instabile Isotope, das heißt Radioaktivität, erzeugt, fällt bei jedem Materialaustausch (Jahr für Jahr ein Fünftel der Gefäßwand) ungefähr dieselbe Menge an Radioaktivität an wie bei den heutigen Kernspaltungsreaktoren. Nicht diskutiert wird auch die Frage, wie man die Weiterverbreitung von Tritium verhindern will, das als Beigabe zu „modernen“ Atombomben – einige Gramm genügen – hoch im Kurs steht.

Die Kernfusion wirft im Falle einer erfolgreichen Umsetzung also weit schwerwiegendere Fragen auf als das Energieproblem, das zu lösen sie vorgibt. Vor allem aber geht niemand davon aus, dass die Fusionstechnologie vor Ende des Jahrhunderts sehr weite Verbreitung finden wird, während die Vermeidung einer Klimakatastrophe sofortiges Handeln erfordert.

Wie sieht es mit der wasserstoffgetriebenen Brennstoffzelle aus? Gewiss, die Forschung hat hier in den letzten zehn Jahren bedeutende Fortschritte gemacht. So liegt die Brennstoffzelle mit einem Wirkungsgrad von 60 Prozent weit vor den Benzinmotoren, die lediglich 35 bis 40 Prozent schaffen. Vergessen wird dabei aber meist, dass Wasserstoff in ungebundener Form in der Natur praktisch nicht vorkommt und man ihn unter erheblichem Energieaufwand entweder aus Kohlenwasserstoffen oder aus Wasser herstellen muss – was neue Probleme aufwirft.

Aus Methan zum Beispiel lässt sich Wasserstoff mit einem Wirkungsgrad von 60 Prozent gewinnen. Doch damit wird erstens ein fossiler Energieträger verbraucht, den man doch schonen will, und zweitens wird bei der Herstellung unerwünschtes CO2 freigesetzt. Die Herstellung von einem Kubikmeter Wasserstoff erfordert 5 Kilowattstunden, während bei der Verbrennung nur 3 Kilowattstunden an Wärme, bei Verwendung in einer Brennstoffzelle nur 1,8 Kilowattstunden Strom erzeugt werden.

Wasser lässt sich am einfachsten durch Elektrolyse in Wasserstoff und Sauerstoff zerlegen. Der Stromverbrauch je Kubikmeter Wasserstoff liegt bei diesem Verfahren ebenfalls bei ungefähr 5 kWh, und bei der anschließenden Stromerzeugung aus Wasserstoff geht abermals Energie verloren.

Gewinnt man den zur Herstellung von Wasserstoff verwendete Strom aus fossilen Brennstoffen, so liegt der Energieaufwand je Kubikmeter zwischen 7,7 und 9 kWh, wobei gleichzeitig 2,4 bis 2,8 Kilogramm CO2 freigesetzt werden. Gewinnt man diesen Strom dagegen aus Atomkraftwerken, handelt man sich statt der CO2-Emissionen die spezifischen Risiken der Atomenergie ein.

Stammt der Strom aus regenerierbaren Energieträgern, fallen diese Nachteile zwar weg, doch dafür tauchen andere Schwierigkeiten auf: Welche Gesamtleistung lässt sich mit solchen Energieträgern überhaupt realisieren? Und wie wird man mit der Tatsache fertig, dass erneuerbare Energieträger wie Sonnen- und Windkraft nur unter bestimmten geografischen Bedingungen und auch dort nicht kontinuierlich Energie liefern, dass aber die großtechnische Herstellung von Wasserstoff permanente Energiezufuhr in großen Mengen erfordert?

Mit anderen Worten: Die Gesamtbilanz in diesem Bereich ist bei weitem nicht so rosig, wie man gern glauben machen möchte. Das heißt natürlich nicht, dass für diese Innovation nicht genügend Spielraum bliebe. In den Bereichen Verkehr und dezentralisierte Stromerzeugung lässt sich gewiss die ein oder andere Marktlücke finden, aber mehr als ein Nischendasein wird in den kommenden 50 Jahren sicher nicht zu erwarten sein.

Dieselben Probleme zeigen sich beim Auffangen und unterirdischen Einlagern des durch Kohlekraftwerke freigesetzten CO2. Zum Greifen nahe sei die Wunderlösung, mit der wir unsere Emissionen unter den Teppich kehren und der Klimaerwärmung vorbeugen könnten, ohne unseren Energieverbrauch einzuschränken, wird behauptet. Es stimmt zwar: Ein gut Teil des CO2-Ausstoßes mag sich auf diese Weise entsorgen lassen. Doch immer unter der Voraussetzung, dass wir einen um 20 bis 30 Prozent höheren Energieverbrauch (mit dem entsprechenden zusätzlichen CO2-Ausstoß) in Kauf nehmen. So viel wäre nämlich nötig, um das CO2 aus den Abgasen herauszufiltern und zu den leeren Öllagern zu transportieren, in denen man es einlagern will.

Da der steigende Strombedarf auch in Zukunft vor allem mit fossilen Energieträgern befriedigt werden dürfte, wird auch der CO2-Ausstoß weiter zunehmen. Fände die neue Technologie weltweit Verbreitung, so könnten damit rein rechnerisch 20 Prozent der CO2-Gesamtemissionen der nächsten 100 Jahre – 10 Prozent aller Treibhausgasemissionen – beiseite geschafft werden. Doch der Schein trügt.

Ein Blick auf die Aufnahmekapazitäten leer gepumpter Öllager lehrt, dass diese Schätzung aus zweierlei Gründen viel zu optimistisch ist. Zum einen deckt sich die geografische Verteilung der Wärmekraftwerke mit Ausnahme weniger Regionen wie etwa der Vereinigten Staaten kaum mit der Karte der Ölfelder. Die nahöstlichen und russischen Lagerkapazitäten liegen tausende Kilometer von den industriellen Ballungszentren in Europa und Asien entfernt, wo die allermeisten Kraftwerke stehen. Länder wie China und Indien, die in Zukunft vermehrt Kohlekraftwerke bauen dürften, besitzen bei dem zu erwartenden CO2-Ausstoß vergleichsweise geringe Lagerkapazitäten. Außerdem kann CO2 erst dann eingelagert werden, wenn ein Öllager erschöpft ist. Berücksichtigt man all diese Rahmenbedingungen, so sinkt der Anteil des tatsächlich einlagerbaren CO2 auf wenige Prozent der im 21. Jahrhundert zu erwartenden Gesamtemission.

Nun könnte man zwar auch andere Lagerstätten ins Auge fassen, beispielsweise Salzstöcke, ungenutzte Kohleadern oder Tiefseegräben, doch die damit einhergehenden Umweltrisiken sind noch weitgehend ungeklärt. Nicht dass die CO2-Einlagerung punktuell nicht Erfolg verspräche, doch das grundlegende Problem, dass die CO2-Emissionen im Laufe unseres Jahrhunderts drastisch gesenkt werden müssen, lässt sich damit nicht lösen.

Und ein letztes Beispiel: die Einlagerung von Kohlendioxid in der Biomasse. Die Idee ist simpel und setzt nicht einmal technologische Innovationen voraus. Gemeint sind möglichst umfangreiche Wiederaufforstungsmaßnahmen. Bäume sind CO2-Speicher. Nach 50 oder 100 Jahren muss man sie natürlich fällen, sonst vermodern sie irgendwann. Verarbeitet man sie zu Dachstühlen oder Möbeln, bleibt ihre Speicherfunktion eine Zeit lang erhalten. Verbrennt man das Holz, wird zwar abermals CO2 freigesetzt, das aber von den nachwachsenden Bäumen absorbiert würde. Darüber hinaus könnte man dadurch fossile Brennstoffe sparen. Doch welche Gebiete eignen sich zu umfassenden Aufforstungsprogrammen? In Frage kämen wohl hauptsächlich Afrika, Lateinamerika und Asien. Aber um dort hunderte Millionen Hektar Wald zu pflanzen, müssten die landwirtschaftlichen Erträge in diesen Regionen europäisches Niveau erreichen.

Das Szenario setzt also eine erhebliche Intensivierung der Landwirtschaft in den Entwicklungsländern voraus. Dies hätte zwar auch positive Folgen, würde sich aber etwa auf die Beschäftigung von zwei Milliarden Bauern sehr negativ auswirken. Man sieht, die Reichweite der „Biomasse-Lösung“ hängt von einer ganzen Reihe weiterer Faktoren ab.

Halten wir als Fazit zwei Dinge fest: Zum einen scheint die Faszination des technischen Fortschritts alle Kritikfähigkeit stillzulegen, zum anderen orientieren sich viele Lösungsideen an dem Motto „Man braucht doch nur dies oder das zu tun“ – vorzugsweise natürlich bei den anderen. Die Medien greifen die technizistischen Utopien gerne auf, die großen Forschungseinrichtungen füttern die Traummaschine dankbar mit den jeweils neuesten Ideen, und die Politiker lecken sich die Finger. Lange Zeit gingen sie mit der Utopie einer „besseren Zukunft“ auf Wählerfang. Heute, da in den westlichen Gesellschaften trotz erheblicher Fortschritte hinsichtlich der Lebenssicherheit die Zukunftsangst umgeht, empfehlen sich die Politiker eher als Retter in der Not, die uns vor unseren Albträumen schützen wollen. Gibt es für einen führenden Politiker angesichts der Gefahren, die unsere Lebensweise bedrohen und zu Katastrophen werden können, etwas Besseres als das Versprechen, die Krise durch Wissenschaft und Technologie zu bewältigen, und sei es auch erst in 50 oder 80 Jahren? Er braucht keine Bedenken zu haben, ein alarmistisches Katastrophenszenario zu entwerfen, das unseren schlimmsten Albträumen Substanz verleiht, hat er als Joker doch stets eine passende Antwort im Ärmel, die – konzeptuell leicht verständlich, aber wissenschaftlich untermauert – den Anschein von Seriosität erweckt und überdies den Vorteil hat, das Problem auf die Wissenschaft und die anderen abzuwälzen – also auf keinen Fall die Lebensgewohnheiten der Wähler anzutasten.

Hier liegt das eigentliche Problem. Denn selbst für den Fall, dass die neuen Technologien greifen, wird die Antwort zu spät kommen und Stückwerk bleiben. Nicht Beschwörungsgesten und neue Propheten brauchen wir, um unsere Albträume zu verscheuchen, sondern gesellschaftliche Lösungen. Hier und jetzt müssen wir unsere Lebens- und Konsumweise in Frage stellen, brauchen wir seriöse Vorschläge für ein zukunftsfähiges Energiemanagement, müssen wir uns also als Bürger und Verbraucher in die öffentliche Diskussion einschalten und gemeinsam handeln.

Um wie viel schwieriger das ist, zeigt die Reaktion der französischen Regierung auf den Höhenflug des Ölpreises. Statt Energiesparmaßnahmen im Güter- und Personenverkehr in Angriff zu nehmen, verringert sie aus wahltaktischen Gründen die steuerliche Belastung der hauptsächlich betroffenen Berufsgruppen und verdoppelt ihr finanzielles Engagement am Iter-Projekt. Es scheint ihr realistischer, die Kernfusionsforschung voranzutreiben – deren Ergebnisse den Kraftstoffverbrauch vielleicht in 80 Jahren senken –, als den Autobauern Anreize zur Konstruktion sparsamerer Autos zu bieten und den Autofahrern nahe zu legen, häufiger ihre Füße oder die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen.

deutsch von Bodo Schulze

* Präsident der Organisation Global Chance.

Le Monde diplomatique vom 14.01.2005, von BENJAMIN DESSUS