12.06.2009

Ermordet und unsterblich

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Ermordet und unsterblich

Wiederbegegnung mit Rosa Luxemburg von Dietmar Dath

Nach dem Willen der Mörder, ihrer Helfer und Gesinnungsfreunde hätte das letzte Wort das blutige, verdruckste Blubbern des erwischten Mittäters sein sollen. So hört es sich an: „Von meiner Schusswaffe machte ich nicht Gebrauch, sondern um meinen Befehl auszuführen, stieß ich nur Frau Luxemburg. Sie fiel um, oder vielmehr Oberleutnant Vogel riss sie um. Sie wurde sofort in das bereitstehende Auto geschleppt. Ich fasste Frau Luxemburg nicht an, sondern es waren Dräger, Janschkow und Perschel. Ich glaube, dass Oberleutnant Vogel dabei noch geholfen hat. Ich selber habe auch der Frau Luxemburg keinerlei Verletzungen zugefügt, sondern nur leicht gestoßen, um den mir erteilten Befehl auszuführen. Die Offiziere hatten mir nämlich gedroht: Wenn ich den Befehl nicht ausführte, dann müsste ich auch sterben. Beim Abtransport sprang Leutnant Krull auf das linke Trittbrett und schoss in unmittelbarer Näher der Nürnberger Straße der Frau Luxemburg eine Kugel in den Kopf (…). Die Transportmannschaften haben dann auch gesagt: ‚Na, Runge, die Luxemburg, die alte Sau, schwimmt schon.‘ Ich fragte: ‚Ja, warum habt ihr denn Frau Luxemburg ins Wasser geschmissen?‘ Da sagte Leutnant Vogel: ‚Die alte Sau hat nicht mehr verdient.‘“

Man darf das nicht vergessen; die Tat nicht und ebenso wenig die Worte. Denn sie gehören als Erfüllung einer Prophezeiung Rosa Luxemburgs zu ihrem Leben und Werk. Kurze Zeit vor dem, was das Gestammel meint, hatte sie nämlich denen, die ihr, Karl Liebknecht und den anderen Revolutionären im besiegten Deutschland des Jahres 1918 Aufwiegelung und Entfesselung von Mord und Totschlag vorgeworfen hatten, eine Antwort aufgeschrieben, in der sich die Ahnung dessen findet, was kommen sollte: „Es gibt jemand anderen, der heute Terror, Schreckensherrschaft, Anarchie dringend braucht: Das sind die Herren Bourgeois, das sind alle Parasiten der kapitalistischen Wirtschaft, die um ihren Besitz und ihre Privilegien, um Besitz und Herrschaftsrechte zittern. Diese sind es, die erdichtete Anarchie, erlogene Putsche dem sozialistischen Proletariat in die Schuhe schieben, um wirkliche Putsche, um reelle Anarchie durch ihre Agenten im gelegenen Augenblick zu entfesseln, um die proletarische Revolution zu erdrosseln, die sozialistische Diktatur im Chaos untergehen zu lassen und auf den Trümmern der Revolution die Klassendiktatur des Kapitals für immer zu errichten.“ Von der „gegenrevolutionären Treibjagd“ liest man im selben Text, bei der nicht nur rechte Frontsoldaten und Freikorpskämpfer, sondern vor allem auch der Vorwärts, laut Luxemburg das „Zentralorgan der abhängigen Sozialdemokratie“, das Halali blies; die Jagd war erfolgreich.

Aber die Gejagte zum Schweigen zu bringen, das ist den Jägern missglückt. Wer zu Beginn des 21. Jahrhunderts aktuelle Schriften der weltweiten, sich gerade erst von schwersten Niederlagen erholenden Linken studiert, begegnet überall Luxemburgs Denken. Mitunter wird, was sie wollte und wie sie es begründete, hier und da sogar schon wieder wichtiger genommen als ihre Passionsgeschichte, die einer bestimmten Sorte denkfauler linker Kitschgesinnung leider lange das Liebste war (ein Phänomen, das man leicht an der penetranten Märtyrerinnenduzerei erkennt, die ihre liebe Rosa so gern hat wie tote Linke ganz allgemein, am besten gewaltsam aus dem Leben gerissene, ob die nun Leo hießen oder Che). Die Theoretikerin sorgt, wo sie fortwirkt, für das, was ihr am liebsten war – Bewegung: Wenn beispielsweise ein marxistisch geprägter Denker wie Michael A. Lebowitz versucht, übers Marx’sche „Kapital“ hinauszudenken, wenn er die passive Rolle der Lohnabhängigen, die in den Kapitalanalysen des späten Marx aufgrund von dessen Interesse an Strukturen (statt an Ereignissen) überwiegt, loswerden will, dann bewegt er sich in der Nähe dessen, was marxistische Dogmatiker mit teils guten, teils schlechten Gründen den größeren Teil des 20. Jahrhunderts lang als „Luxemburgismus“ verdächtig fanden. Der taktisch-politische Kern von Lebowitz’ einflussreicher Schrift „Beyond Capital“ ist im Grunde der alte Luxemburg-Gedanke, die Fehler, welche die Arbeiterklasse begehe, wenn sie sich in Bewegung befinde, seien „unendlich fruchtbarer“ als die Unfehlbarkeit der gescheitesten Gewerkschaftslenkung oder Partei (der Gedanke hat viel für sich, ob bei den Südamerikanern oder Afrikanern, ob bei der schmerzhaften Parteiwerdung, welche uns Deutschen die neueste Wiedergeburt der Weimarer USPD, Lafontaines und Biskys „Linke“, beschert hat).

Aber nicht nur Fragen im Zusammenhang des von Marxisten notorisch so genannten Hauptwiderspruchs zwischen Lohnarbeit und Kapital zwingen Leute, die solche Fragen heute noch oder wieder stellen, sich auf Luxemburg zu beziehen. Auch wo gar nicht wirtschaftlich besondere, sondern heute buchstäblich globale Raum- und Weltordnungsprobleme behandelt werden, sucht man bei ihr Rat – Antonio Negri und Michael Hardt, die meistgelesenen unter den modischen Globalisierungskritikern, setzen sie als Theoretikerin des Imperialismus Lenin entgegen und finden sie aktueller.

So erscheint Rosa Luxemburg gleichsam als erste Verkünderin einer Reihe von Hoffnungen, die sich an die historische Aufgabe der Dritten Welt knüpfen, einer politischen Befreiungstheologie, die doch wiederum dort, wo sie nationalistisch – und sei es befreiungsnationalistisch – auftritt, Mühe haben wird, sich auf Luxemburg zu berufen. Denn in der sogenannten „Nationalitätenfrage“ verstand sie keinen taktischen oder strategischen Spaß – die sozialistischen Staaten, in denen versucht wurde, aus der Not des Nationalismus eine Tugend zu machen und etwa dem Großrussentum zu schmeicheln, hatten Kritik von Luxemburg-Lesern durchaus zu fürchten, die Losung der „Nationalen Unabhängigkeit“, wie sie Sozialisten auch schon zu Luxemburgs Lebzeiten in Absehung von Klassenfragen formulierten, war ihr verächtlich.

Wer sich die nach dem Ende des Sozialismus aufbrechenden Atavismen besieht, die Nationalitätenkonflikte, separatistischen Kriege, Stammesfehden, muss sich in der Tat überlegen, ob das politische Vorgehen der Kommunisten da nicht etwas konserviert hat, das sie besser, auf Rosa Luxemburgs Empfehlung hin, rechtzeitig hätten schleifen sollen.

Dass es dabei nicht unter allen Umständen friedlich zugegangen wäre, passt scheinbar schlecht zum guten Ruf Rosa Luxemburgs als zumindest Kriegsgegnerin, wo nicht Pazifistin – wer von ihr nur weiß, was etwa in Margarethe von Trottas Film aus dem Jahr 1986 gezeigt wird, tut sich schwer damit, zu begreifen, wie man diese Frau für eine Hetzerin und Gewaltpredigerin hat halten können – und doch passt der polemische Wesenszug bei ihr zur Ablehnung staatlich organisierten Massenraubmords nicht schlechter als das Sanfte zum Zornigen bei biblischen Propheten.

Schon ein Jahr nach dem Mord an ihr antwortete daher der sprachmächtigste Polemiker, der seit Luther Deutsch geschrieben hat, Karl Kraus, einer Gutsbesitzerin, die in einem spöttischen Nachruf auf die Ermordete bedauert hatte, dass diese nicht Gärtnerin oder Tierschützerin gewesen sei und sich und anderen auf diese Weise viel Leid hätte ersparen können, mit einer donnernden Replik: Gott möge, so Kraus, der Menschheit den Kommunismus erhalten, „damit dieses Gesindel, das schon nicht mehr ein und aus weiß vor Frechheit, nicht noch frecher werde (…) damit ihnen wenigstens die Lust vergehe, ihren Opfern Moral zu predigen, und der Humor, über sie Witze zu machen! Zu Betrachtungen, wie viel ersprießlicher und erfreulicher das Leben der Luxemburg verlaufen wäre, wenn sie sich als Wärterin in einem Zoologischen Garten betätigt hätte statt als Bändigerin von Menschenbestien, von denen sie schließlich zerfleischt war, und ob sie als Gärtnerin edler Blumen, von denen sie allerdings mehr als eine Gutsbesitzerin wusste, lohnendere und befriedigendere Beschäftigung gefunden hätte denn als Gärtnerin menschlichen Unkrauts – zu solchen Betrachtungen wird, solange die Frechheit von der Furcht gezügelt ist, kein Atemzug langen.“

Der Gesinnungspazifist Kraus, der in der Tat alle, auch die revolutionäre politische Gewalt ablehnte, ergreift hier die Partei der Reformistengegnerin, weil er der Meinung war, dass eine Menschheit, die fähig ist, sich anzutun, was sie sich im Ersten Weltkrieg angetan hatte, nicht mehr auf Reform sollte vertrauen dürfen, sondern statt kosmetischer Veränderungen von den Wurzeln her verändert werden sollte. Kraus hat Luxemburg als alttestamentliche Strafpredigerin und geharnischte Moralistin gelesen und sich dabei in ihr nicht zu Unrecht wiedererkannt.

Nach Auschwitz, Hiroshima, einem weiteren Weltkrieg und dem Sieg des kapitalistischen über den sozialistischen politischen Block sah man eine Weile das „Ende der Geschichte“, also auch das Ende der biblischen oder marxistischen Widerrede gekommen, überhaupt der „großen Erzählungen“. Ein Zustand schien erreicht, den Rosa Luxemburg mit ihrer oben zitierten „Klassendiktatur des Kapitals für immer“ vorwegnehmend verurteilt hatte. Als Abhilfe gegen die Katastrophen, das Elend, den Stumpfsinn, die er mit sich bringt, empfahl man wieder kleine Schritte, einen neuen Reformismus also.

Die wieder zunehmende Neugier darauf, wer Rosa Luxemburg war und was sie dachte, verweist darauf, dass es damit kaum sein Bewenden haben kann. Das letzte Wort ist nicht gesprochen.

Vorwort zu: Dietmar Dath, „Rosa Luxemburg“, Frankfurt am Main (Suhrkamp), erscheint im August 2009. Dietmar Dath ist Schriftsteller und Journalist, Autor von „Die Abschaffung der Arten“, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2008. © Suhrkamp Verlag und Le Monde diplomatique, Berlin

Brief aus dem Gefängnis

Gestern lag ich lange wach – ich kann nie vor ein Uhr einschlafen, muß aber schon um zehn ins Bett – dann träume ich verschiedenes im Dunkeln. Gestern dachte ich also: Wie merkwürdig das ist, daß ich ständig in einem freudigen Rausch lebe – ohne jeden besonderen Grund. So liege ich zum Beispiel hier auf einer steinharten Matratze, gewickelt in diese vielfachen schwarzen Tücher der Finsternis, Langeweile, Unfreiheit des Winters – und dabei klopft mein Herz von einer unbegreiflichen, inneren Freude. (…)

Ach, Sonitschka, ich habe hier einen scharfen Schmerz erlebt, auf dem Hof, wo ich spaziere, kommen oft Wagen vom Militär, voll bepackt mit Säcken oder alten Soldatenröcken und Hemden, oft mit Blutflecken …, die werden hier abgeladen, in die Zellen verteilt, geflickt, dann wieder aufgeladen und ans Militär abgeliefert. Neulich kam so ein Wagen, bespannt, statt mit Pferden, mit Büffeln. Ich sah die Tiere zum erstenmal in der Nähe. Sie sind kräftiger und breiter gebaut als unsere Rinder, mit flachen Köpfen und flach abgebogenen Hörnern, die Schädel also unseren Schafen ähnlicher, ganz schwarz mit großen sanften Augen. Sie stammen aus Rumänien, sind Kriegstrophäen (…) die Soldaten, die den Wagen führen, erzählen, daß es sehr mühsam war, diese wilden Tiere zu fangen, und noch schwerer, sie, die an die Freiheit gewöhnt waren, zum Lastdienst zu benutzen. Sie wurden furchtbar geprügelt, bis daß für sie das Wort gilt „vae victis“ (…) An hundert Stück der Tiere sollen in Breslau allein sein; dazu bekommen sie, die an die üppige rumänische Weide gewöhnt waren, elendes und karges Futter. Sie werden schonungslos ausgenutzt, um alle möglichen Lastwagen zu schleppen, und gehen dabei rasch zugrunde. – Vor einigen Tagen kam also ein Wagen mit Säcken hereingefahren, die Last war so hoch aufgetürmt, daß die Büffel nicht über die Schwelle bei der Toreinfahrt konnten. Der begleitende Soldat, ein brutaler Kerl, fing an, derart auf die Tiere mit dem dicken Ende des Peitschenstieles loszuschlagen, daß die Aufseherin ihn empört zur Rede stellte, ob er denn kein Mitleid mit den Tieren hätte! „Mit uns Menschen hat auch niemand Mitleid“, antwortete er mit bösen Lächeln und hieb noch kräftiger ein (…) Die Tiere zogen schließlich an und kamen über den Berg, aber eins blutete (…) Sonitschka, die Büffelhaut ist sprichwörtlich an Dicke und Zähigkeit, und die war zerrissen. Die Tiere standen dann beim Abladen ganz still und erschöpft, und eins, das, welches blutete, schaute dabei vor sich hin mit einem Ausdruck in dem schwarzen Gesicht und den sanften schwarzen Augen wie ein verweintes Kind. Es war direkt der Ausdruck eines Kindes, das hart bestraft worden ist und nicht weiß, wofür, weshalb, nicht weiß, wie es der Qual und der rohen Gewalt entgehen soll, (…) ich stand davor, und das Tier blickte mich an, mir rannen die Tränen herunter – es waren seine Tränen, man kann um den liebsten Bruder nicht schmerzlicher zucken, als ich in meiner Ohnmacht um dieses stille Leid zuckte. Wie weit, wie unerreichbar, verloren die freien saftigen grünen Weiden Rumäniens! Wie anders schien dort die Sonne, blies der Wind, wie anders waren die schönen Laute der Vögel oder das melodische Rufen der Hirten. Und hier – diese fremde schaurige Stadt, der dumpfe Stall, das ekelerregende muffige Heu mit faulem Stroh gemischt, die fremden furchtbaren Menschen, und – die Schläge, das Blut, das aus der frischen Wunde rinnt (…) Oh, mein armer Büffel, mein armer, geliebter Bruder, wir stehen hier beide so ohnmächtig und stumpf und sind nur eins in Schmerz, in Ohnmacht, in Sehnsucht. – Derweil tummelten sich die Gefangenen geschäftig um den Wagen, luden die schweren Säcke ab und schleppten sie ins Haus; der Soldat aber streckte beide Hände in die Hosentaschen, spazierte mit großen Schritten über den Hof, lächelte und pfiff leise einen Gassenhauer. Und der ganze herrliche Krieg zog an mir vorbei …

Aus: Rosa Luxemburg, „Briefe aus dem Gefängnis“, hg. vom Exekutivkomitee der Kommunistischen Jugendinternationale, Berlin (Junge Garde) 1926, S. 35–38.

Le Monde diplomatique vom 12.06.2009, von Dietmar Dath