Lehm, Stahl, Beton
BEI den bevorstehenden Wiederaufbauarbeiten steht zu befürchten, dass im Namen einer schnellen und effektiven Entwicklungshilfe nicht etwa nachhaltige, kulturell angepasste Maßnahmen ergriffen werden, sondern technokratisch-funktionalistisch vorgegangen wird – leider nicht zum ersten Mal.
Nach dem schreckliche Erdbeben in Jemen 1985 hat der Wiederaufbau zu einer kulturellen Katastrophe mit unabsehbaren Langzeitfolgen geführt. Sämtliche Geberländer schickten damals Fertighäuser oder Baupläne nach dem Vorbild ihrer eigenen Wohnarchitektur. Gebaut wurde auf die Schnelle entlang der Nationalstraße, weit entfernt von den Dörfern und Feldern der Bevölkerung. So entstand in einem Land, das eine der beeindruckendsten Lehmbautraditionen vorzuweisen hat, eine lang gestreckte und baulich erschreckend mittelmäßige Stadt. Die Hauptstadt Sanaa beispielsweise ist berühmt für ihre vier- bis fünfgeschossigen Lehmbauten, die in Sachen Erdbebensicherheit viel besser dastehen als moderne Betonbauten.
Im marokkanischen Al-Hoceima, einer ländlichen Region, in der die Bevölkerung traditionell mit Steinen und Erde baut, erhielten die Familien nach dem Erdbeben im vergangenen Jahr einen Teil der Instandsetzungs- und Wiederaufbauhilfe in Form von Gutscheinen, für die sie nichts anderes als Zement und Armierungsstahl bekamen. So zwang man die Bevölkerung, mit Technologien und Materialien zu bauen, die sie nicht beherrschen, und entwertete althergebrachte Fertigkeiten. Dabei wissen Experten, dass die traditionellen Wohnhäuser auch in Marokko eine höhere Erdbebensicherheit haben als viele neuere Gebäude. Die althergebrachten Bauweisen haben ihre Qualitäten also längst bewiesen, und doch geraten sie in Vergessenheit.
Bei Wiederaufbaumaßnahmen sollte daher generell versucht werden, die alten Bauweisen und -techniken anzuwenden und die Bauarbeiter entsprechend zu schulen. Im Übrigen ist zu untersuchen, was auch der Mensch zu solchen Katastrophen beiträgt: verfehlte Entwicklungspolitik, unsachgemäße Raumplanung, illegale Hausbauten und Kleinbetriebe in überschwemmungsgefährdeten Gebieten. Selbst wenn die Verantwortlichen in den Ländern selbst die Regeln für den Wiederaufbau festlegen, orientieren sie sich viel zu häufig an den von außen vorgegebenen Standards entfernter Spender, statt eigene Normen aufzustellen.
MARC GOSSÉ, Architekt und Stadtplaner