11.02.2005

Sweet Lana und die Kamera

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Sweet Lana und die Kamera

Unsere Übersetzerin war eine junges, schmales und ziemlich hübsches Mädchen. Ihr Englisch war ausgezeichnet. Sie promovierte an der Universität Moskau in amerikanischer Geschichte. Sie war forsch und klug und energisch, Tochter eines Obersten in der sowjetischen Armee. Sie war uns eine große Hilfe, nicht nur weil sie sich in der Stadt genau auskannte und in der Lage war, alles Mögliche mit großer Tüchtigkeit zu erledigen, sondern auch weil sie uns eine Ahnung dessen vermittelte, was die jungen Leute, zumindest in Moskau, dachten und worüber sie sprachen. Ihr Name war Swetlana Litwinowa. Ihr Vorname wurde wie „Sweet Lana“ ausgesprochen, und dieser Name gefiel uns so gut, dass wir uns entschlossen, ihn auf andere zu übertragen. Wir versuchten es mit Sweet General Smith und Sweet Harry Truman und Sweet Carrie Chapman Catt, aber bei keinem dieser Namen schien es so recht zu passen.

Sweet Lana war ein Dynamo an Energie und Effizienz. Sie besorgte uns Autos. Wann immer wir etwas sehen wollten, fuhr sie uns hin. Sie war eine resolute kleine Person, und ihre Meinungen waren ebenso resolut wie sie selbst. Sie verabscheute moderne Kunst in jeder Form. Die Abstrakten waren dekadente Amerikaner, die Experimentellen ebenfalls dekadent. Picasso machte sie krank. Die einzigen Bilder, die sie wirklich mochte, waren gegenständliche Bilder von fotografischer Exaktheit. Uns wurde bald klar, dass dies nicht ihr persönlicher, sondern der allgemeine Geschmack war. Wir nehmen nicht an, dass auf den einzelnen Maler tatsächlich Druck ausgeübt wird. Aber wenn er will, dass seine Bilder in den staatlichen Galerien ausgestellt werden – und das sind die einzigen Galerien, die es gibt –, dann wird er solche realistischen malen. Er wird nicht, zumindest nicht öffentlich, mit Farben und Linien experimentieren, neue Techniken ersinnen, subjektive Ansätze in seine Arbeit bringen. Sweet Lana hatte zu diesem Punkt eine leidenschaftlich vertretene Meinung, so leidenschaftlich wie zu vielen anderen Dingen. Durch sie erfuhren wir auch von der Sittsamkeit, die die jungen Leute in der Sowjetunion erfasst hat. Ein bisschen erinnert sie an die Anstandsregeln in einer amerikanischen Kleinstadt vor dreißig Jahren. Anständige Mädchen lassen sich nicht in Nachtklubs sehen. Anständige Mädchen rauchen nicht. Anständige Mädchen benutzen weder Lippenstift noch Nagellack. Anständige Mädchen kleiden sich sehr konservativ. Anständige Mädchen trinken nicht. Und anständige Mädchen halten ihren Freund auf Abstand. Sweet Lana war so moralisch, dass wir, die wir uns nie für besonders unmoralisch gehalten hatten, uns wie ziemlich unanständige Typen fühlten. Uns gefällt eine schön zurechtgemachte Frau, und wir werfen gerne einen taxierenden Blick auf ihre Fesseln. Wir stehen auf Wimperntusche und Lidschatten. Wir mögen Swing und Jazz, und wir lieben die schönen Beine der Ballettgirls. Für Sweet Lana war das alles dekadent. Es waren Produkte eines dekadenten Kapitalismus. Und dieser Ansicht war nicht nur Sweet Lanas, es war die Ansicht der meisten jungen Leute, die wir trafen. Und wir stellten interessiert fest, dass die konservativsten und altmodischsten Einstellungen, die es bei uns zu Hause gibt, mit denen der jungen Menschen in der Sowjetunion übereinstimmten.

Sweet Lana war stets korrekt und adrett, ihre Kleider waren von solider Qualität, schlicht und gut sitzend. Und wenn sie uns gelegentlich in ein Theater oder in ein Ballett ausführen musste, trug sie einen kleinen Schleier auf ihrem Hut. Mit der Zeit hat Sweet Lana unsere Dekadenz dann etwas nachsichtiger beurteilt. An unserem letzten Abend, bevor wir abreisten, gab es eine kleine Party, und Sweet Lana sagte: „Ich habe viele Leute herumgeführt, aber früher hab ich dabei nie Spaß gehabt.“

Sie hatte an der Universität amerikanische Geschichte studiert, ausgiebig und im sowjetischen Sinne wissenschaftlich. Sie wusste Dinge über die amerikanische Geschichte, von denen wir noch nie etwas gehört hatten, aber was sie wusste, war natürlich in Kategorien marxistischer Kritik verpackt, sodass Ereignisse, die auch wir kannten, aus ihrem Munde irgendwie seltsam und fremd klangen. Es ist sehr gut möglich, dass unsere Kenntnisse der russischen Geschichte in ihren Ohren ebenso fremd geklungen hätten. Ich denke, dass sie ganz langsam begonnen hat, uns ein klein wenig zu mögen, trotz unserer Dekadenz. Und sei es nur, weil wir ein bisschen anders waren als die meisten Touristen, die sie herumgeführt hatte. Hin und wieder geschah es, dass die tiefe Ernsthaftigkeit eines jungen Sowjetmenschen bei Sweet Lana kippte und auch sie ein bisschen nichtdekadenten Spaß hatte.

[…] Sweet Lana fuhr mit uns zu den Leninhügeln, und wir standen auf dieser Erhebung und sahen ganz Moskau vor uns liegen, diese Riesenstadt, die sich bis zum Horizont erstreckt. Am Himmel türmten sich schwarze Wolken, aber darunter leuchteten Sonnenstrahlen hervor und ließen die goldenen Kuppeln des Kreml blitzen. Es ist eine Stadt mit großen neuen Gebäuden und kleinen alten Holzhäusern mit hölzernen Zierleisten um die Fenster, eine merkwürdige, melancholische Stadt mit ganz eigenem Charakter. Über die Anzahl der Einwohner gibt es keine aktuellen Zahlen, aber man spricht von sechs bis sieben Millionen.

Wir fuhren langsam in die Stadt zurück. In den Straßengräben wurde Kohl angebaut, und die Seitenstreifen waren mit Kartoffeln bepflanzt. Es gibt sie immer noch, die „Siegesgärten“, wie wir sie aus der Kriegszeit kennen, und es wird sie weiter geben. Jeder hat seine kleine Parzelle mit Kohl und Kartoffeln, und der Staat schützt diese Parzellen mit grimmigem Ernst. Während wir in Moskau waren, wurden zwei Frauen zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt, weil sie drei Pfund Kartoffeln aus einem privaten Garten gestohlen hatten. Als wir nach Moskau hineinfuhren, zog eine große schwarze Wolke auf, und der Regen begann auf die Stadt niederzugehen.

Einfach zu beobachten und zur Kenntnis zu nehmen, was ist, gehört vermutlich zu den Dingen, die den Menschen am schwersten fallen. Wir entstellen unser Bild ständig durch das, was wir gehofft, erwartet oder befürchtet haben. In Russland haben wir viele Dinge gesehen, die nicht dem entsprachen, was wir erwartet hatten, weshalb es sehr gut ist, Fotografien zu haben. Eine Kamera hat keine vorgefassten Meinungen, sie zeichnet schlicht auf, was sie sieht.

Wir mussten dann noch lange in Moskau herumhängen, bis wir die Genehmigung bekamen, die Stadt zu verlassen und durch das Land zu reisen. Also besuchten wir, auf Einladung, den damaligen Leiter des Presseamtes. Er trug eine graue Uniform mit den rechteckigen Schulterabzeichen des Auswärtigen Dienstes. Seine Augen waren strahlend blau, wie Türkise. Capa redete mit glühenden Worten auf ihn ein, er wolle endlich Bilder machen. Bis dahin hatte man ihm das nicht erlaubt. Der Leiter des Presseamtes versicherte uns, er werde sein Möglichstes tun, um uns schnell eine Genehmigung zum Fotografieren zu verschaffen. Unsere Unterhaltung war formell und sehr verbindlich.

Später machten wir einen Besuch im Lenin-Museum. Raum für Raum gefüllt mit kleinen Dingen aus dem Leben eines Mannes. Ich vermute, es gibt kein Leben, das ausführlicher dokumentiert wäre. Lenin konnte offenbar nichts wegwerfen. Die Räume und Vitrinen sind voll von Papieren, Notizen, Rechnungen, Tagebüchern, Manifesten, Pamphleten; seine Füllfederhalter und Bleistifte, seine Halstücher, seine Kleider, alles ist da. Und ringsum an den Wänden gibt es riesige Gemälde über einzelne Begebenheiten seines Lebens, seit der Kindheit. Jedes Ereignis der Revolution, an dem er beteiligt war, ist auf einem gigantischen Bild festgehalten. Seine Bücher sind in Marmorrahmen an den Wänden aufgereiht, die Titel in Bronze. Es gibt Lenin-Statuen in jeder denkbaren Pose, und auf den Bildern seines späteren Lebens ist auch Stalin abgebildet. Aber im ganzen Museum gibt es nicht ein einziges Bild von Trotzki. Für die russische Geschichte hat Trotzki aufgehört zu existieren, ja er hat nie existiert. Das ist eine Auffassung von Geschichte, die wir nicht verstehen können: Geschichte, wie wir sie uns nachträglich wünschen, nicht wie sie gewesen ist. Denn ganz ohne Zweifel hat Trotzki einen großen Beitrag zur Russischen Revolution geleistet. Und ohne Zweifel waren auch sein Sturz und seine Verbannung von großer historischer Bedeutung. Aber für die jungen Russen hat er nie existiert. Für die Kinder, die ins Lenin-Museum gehen und sich die Russische Revolution ansehen, gibt es keinen Trotzki, keinen guten und keinen bösen.

Das Museum war voll von Menschen. Da gab es Gruppen sowjetischer Soldaten, es gab Kinder, es gab Touristen aus all den verschiedenen Republiken, und jede Gruppe hatte ihren Führer, und jeder Führer hatte einen Zeigestab, mit dem er oder sie auf die Dinge zeigte, um die es gerade ging. Als wir in dem Museum waren, kam in einer langen Zweierreihe eine Gruppe von Kriegswaisen herein, Jungen und Mädchen zwischen sechs und dreizehn Jahren, geschniegelt und gekämmt und in ihren besten Kleidern. Auch sie wanderten durch das Museum und starrten mit großen Augen auf das dokumentierte Leben des toten Lenin. Sie schauten staunend auf seine Pelzmütze und auf seinen Mantel mit Pelzkragen, auf seine Schuhe, auf die Tische, an denen er geschrieben, und die Stühle, auf denen er gesessen hatte. Alles ist hier von diesem Mann, alles außer Humor. Kein einziger Hinweis darauf ist hier zu finden, dass Lenin in seinem ganzen Leben je einen heiteren oder witzigen Gedanken hatte, einen Augenblick herzhaften Lachens oder einen vergnügten Abend. Kein Mensch kann daran zweifeln, dass es auch solche Momente gegeben hat, aber vielleicht ist es ihm historisch nicht gestattet, sie erlebt zu haben.

[…] Am nächsten Morgen war unsere Genehmigung endlich da. Endlich konnte Capa mit seinen Kameras auf die Welt losgehen, und es juckte ihn schon in den Fingern. Wir wollten Fotos vom Wiederaufbau in Moskau und von den hektischen Maler- und Reparaturarbeiten an Gebäuden, die zum Jubiläumsjahr der Stadtgründung fertig werden sollten. Sweet Lana sollte uns als Fremdenführerin und Dolmetscherin begleiten.

Fast sofort bekamen wir Schwierigkeiten mit dem allgemeinen Misstrauen gegen ausländische Fotografen. Wir fotografierten Kinder, die auf einem Schutthaufen spielten. Sie waren mit Bauen beschäftigt, stapelten Steine aufeinander und karrten mit kleinen Wägelchen Erde weg, machten nach, was die Erwachsenen taten. Plötzlich tauchte ein Polizist auf. Er war sehr höflich. Er wollte unsere Fotografiergenehmigung sehen. Er las sie durch, war aber nicht ohne weiteres bereit, aufgrund eines unscheinbaren Zettels klein beizugeben. Und so nahm er uns zur nächsten Telefonzelle mit, von wo er irgendeine Zentrale anrief. Dann warteten wir. Es verging eine halbe Stunde, bis ein Auto vorfuhr, mit lauter Männern in Zivil. Sie lasen den Brief mit der Genehmigung. Jeder von ihnen las ihn, und dann hielten sie eine kleine Konferenz ab. Wir wissen nicht, was sie sagten, aber dann gingen sie wieder telefonieren, und schließlich kamen sie alle lächelnd zurück, und dann tippten sie alle an ihre Mützen, und wir durften in diesem Viertel fotografieren.

Später fuhren wir weiter in einen anderen Teil der Stadt, denn wir wollten Läden fotografieren, die Lebensmittelgeschäfte, die Bekleidungsgeschäfte, die Warenhäuser. Und wieder nahte ein sehr höflicher Polizist und las unser Dokument, und auch er ging zu einer Telefonzelle, während wir warteten. Und wieder kam ein Auto voller Männer in Zivil vorgefahren, und jeder Einzelne las die Erlaubnis durch, und sie hielten ihre Beratung ab, und sie telefonierten von der Telefonzelle. Dasselbe wie beim ersten Mal. Sie kamen lächelnd zurück, tippten an ihre Mützen, und wir durften in diesem Bezirk fotografieren.

JOHN STEINBECK deutsch von Niels Kadritzke

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.02.2005, von JOHN STEINBECK