11.02.2005

Die Vetodemokraten

zurück

Die Vetodemokraten

Die Wahlen im Irak waren ein erster Schritt in Richtung Demokratie. Doch die unterschiedliche Beteiligung der wichtigsten Gruppen erschwert die nächste Aufgabe: den Staat gegen die zentrifugalen Kräfte zusammenzuhalten.

Von S. FISCHER und CH. REUTER *

DAS Erfreulichste vorweg: Am 30. Januar gehörten die Straßen im Irak den Frauen, die sich zuletzt kaum mehr aus den Häusern getraut hatten. Viele hatten sich fein gemacht, Make-up aufgelegt, Lippenstift, das ganze Repertoire, das die Islamisten als Sünde erachten. In Gruppen zogen sie zu den festungsgleichen Wahllokalen: Freundinnen, Nachbarinnen, Verwandte, doch nie zu viele aus einer Familie, so viel Vorsicht musste sein. Trotzig und stolz riskierten sie ihr Leben, um zu zeigen, dass es hinter der Mauer aus Angst eine sonst schweigende Mehrheit gibt, die an die Macht der eigenen Stimme glaubt.

Das Kräftemessen der bewaffneten Kämpfer und der Regierung fiel an diesem Tag zugunsten der Regierung aus – ein wichtiger Sieg, der das terrorgeschüttelte Volk aus der Angststarre lösen könnte. Zur Euphorie ist dennoch wenig Anlass. Denn am Wahltag herrschte der Ausnahmezustand. Rund 8 Millionen Iraker sollen zur Wahl gegangen sein. Sie taten es im Bewusstsein, dass 300 000 Polizisten, Nationalgardisten, Sondertruppen und US-Soldaten ausgerückt waren. Hunderte Verdächtige wurden vorbeugend verhaftet, alle Überlandstraßen und Grenzen gesperrt, der Flughafen wurde geschlossen, jeglicher Autoverkehr für zwei Tage untersagt. Das kann für einen Tag funktionieren, ist aber als Dauerzustand für eine Demokratie nicht hinnehmbar.

Eine erste Etappe auf dem langen Weg zur Demokratie ist immerhin geschafft – vorausgesetzt, die Stimmen werden fair ausgezählt und die Resultate allseits anerkannt. In der multiethnischen Stadt Kirkuk gab es bereits die ersten Unstimmigkeiten. Nachdem die Kurden sich zum Sieger erklärt hatten (erst mit 90, dann mit 68 Prozent der Stimmen), warfen ihnen Turkmenen und Araber Wahlfälschung vor.

Misstrauen erregt auch, dass die offiziellen Zahlen auf sich warten lassen. Dabei laufen hinter den Kulissen längst Verhandlungen über mögliche Koalitionen. 275 Abgeordnete wird die Nationalversammlung haben, die Sitze werden prozentual nach dem Stimmenanteil für die einzelnen Listen vergeben. Wenn die Vereinigte Irakische Allianz, die große, von Ajatollah Sistani unterstützte Schiitenliste, tatsächlich 45 Prozent der Stimmen erhalten hat, wie man inoffiziell hört, wären das 124 Mandate. Für die Vereinigte Kurdische Liste der Kurdenparteien PUK und KDP sollen 30 Prozent, für die Irakische Liste von Ministerpräsident Allawi 15 Prozent der Wähler gestimmt haben und noch 10 Prozent für die „Volksunion“, die Liste der Kommunisten.

Als Erstes muss die Nationalversammlung einen Präsidenten und zwei Stellvertreter wählen, jeweils mit Zweidrittelmehrheit. Diese drei bestimmen den Ministerpräsidenten, der die Regierung bildet. Da keine der Listen allein genügend Stimmen aufbringt, muss sich jede Verbündete suchen. Solches Koalitionsgeschacher ist in einer parlamentarischen Demokratie völlig normal, im Irak jedoch birgt es ein hohes Risiko: die Ausgrenzung der Sunniten.

Deren Wahlbeteiligung lag deutlich unter der von Schiiten und Kurden. In vielen sunnitischen Gemeinden sollen die Wahllokale gar nicht geöffnet haben, weil das Personal aus Angst zu Hause blieb. Ohnehin hatte die größte sunnitische Partei kurz vor der Wahl ihre Kandidaten zurückgezogen. So war es nur logisch, dass die sunnitische Muslimbrüderschaft die Wahl für ungültig erklärte.

Dennoch werden Sunniten in der Nationalversammlung sitzen. Kleinere sunnitische Listen – etwa die des derzeitigen Präsidenten Ghasi al-Jawar – nahmen an der Wahl teil, und auch für die von Schiiten dominierte Vereinigte Irakische Allianz kandidierten einige sunnitische Stammesführer. Doch wenn die wahrscheinlichste Koalition zustande kommt, eine Regierung aus der mehrheitlich schiitischen Vereinigten Arabischen Allianz und der Vereinigten Kurdischen Liste, dürften die Sunniten sich als Verlierer fühlen. Jahrhundertelang stellten sie die herrschende Klasse, nicht erst unter dem Sunniten Saddam. Sie zu überzeugen, dass die Demokratie auch ihnen zugute kommt und dass man sie nicht ausgrenzen will, ist eine zentrale Aufgabe der gewählten Nationalversammlung und der neuen Regierung. Gelingt das nicht, wird das militärische Ringen zwischen Widerstand und Regierung weitergehen. Und eine repressive Sicherheitspolitik könnte die neuen Freiheiten schon wieder im Keim ersticken.

Nach der Regierungsbildung steht das neue Parlament vor der nächsten Herkulesaufgabe. Bis 15. August 2005 muss es eine Verfassung für einen demokratischen Irak entwerfen, über die bis zum 15. Oktober das Volk abstimmen soll. Wird sie angenommen, ist spätestens am 15. Dezember 2005 eine neue Regierung zu wählen.

Was die Gesetzesarbeit betrifft, können die Abgeordneten allerdings nicht bei null anfangen. Denn mit dem unter ihrer Führung ausgehandelten „Übergangsverwaltungsgesetz“ (TAL) hat die provisorische US-Verwaltung (CPA) Tatsachen geschaffen, die weit in die politische Zukunft hineinwirken. Vor allem die TAL-Artikel 58 und 61 könnten sich als Sprengstoff erweisen. Artikel 58 verpflichtet die irakische Übergangsregierung, „Maßnahmen zu ergreifen, die Ungerechtigkeit aufzuheben, die das vorherige Regime durch seine Praxis der demografischen Veränderungen bestimmter Regionen, darunter Kirkuk, verursacht hat“. Kurz gesagt: Die Zwangsarabisierung Kirkuks und anderer Städte im Nordirak muss rückgängig gemacht werden. Doch was heißt das? Wer hat Bleiberecht, wer muss wohin zurückkehren, unter welchen Bedingungen?

Die letzte Volkszählung, die nach der Muttersprache fragte, fand 1957 statt. Doch in Kirkuk gilt das Motto: Trau nur der Statistik, die du selbst gefälscht hast. Jeder zitiert seine Zahlen, unanfechtbar wie eine Koransure. Abdallah Abd al-Rahman, Vorsitzender der Irakischen Turkmenenfront, bietet als Kronzeugen die Toten auf. Wer die behauptete Dominanz der Turkmenen in Kirkuk bezweifelt, dem empfiehlt er einen Gang auf die alten Friedhöfe der Stadt. Die Grabsteine bezeugten, wie wenige Kurden in den 1960er-Jahren in Kirkuk gelebt hätten, noch heute seien 70 Prozent der Einwohner Turkmenen. Die Kurden wiederum verweisen gern auf eine türkische Enzyklopädie von 1850, die den Anteil der Kurden an der Bevölkerung von Kirkuk auf 60 Prozent beziffere. Pure politische Demografie: Addierte man all die deklarierten Zahlen, hätte Kirkuk mit Umgebung halb so viele Einwohner wie New York.

Schon Kirkuk allein hat das Potenzial, ein mesopotamisches Jerusalem zu werden: ein Zankapfel, der jeden politischen Kompromiss unmöglich macht. Zum Problem könnte auch Artikel 61 des TAL werden. Er bestimmt, dass die endgültige Verfassung abgelehnt ist, wenn in mindestens drei der achtzehn Provinzen zwei Drittel der Wähler im Referendum mit Nein stimmen. Da es genau drei kurdische Provinzen gibt, existiert also ein „kurdisches Vetorecht“. Und auch die Sunniten, die in vier Provinzen die Mehrheit bilden, könnten den Verfassungsprozess stoppen, wenn sie sich durch ein kurdisch-schiitisches Bündnis ausgeschlossen fühlen. Dasselbe gilt für schiitische Gruppen, denen vielleicht die Stellung des Islam in der neuen Verfassung zu begrenzt erscheint.

Um die potenziellen Bruchstellen der anstehenden Verfassungsdiskussion auszumachen, genügt ein Blick zurück auf die Konflikte um die Übergangsverfassung im März 2004. Diese konnte überhaupt nur verabschiedet werden, weil alle heiklen Punkte vertagt oder so vage formuliert wurden, dass sich jeder darin wiederfinden konnte. Der Streit zwischen säkularen und religiösen Kräften über die Rolle des Islam etwa wurde durch die Formel, der Islam werde „eine Quelle“ (nicht etwa „die Quelle“) des Rechts sein, nur scheinbar beigelegt. Denn eine künftige islamische Regierung könnte frei entscheiden, ob und wann sie andere Quellen heranzieht. Auch der künftige Status der Kurdengebiete wurde nicht geklärt; Differenzen in dieser Frage könnten also die Einigung über eine neue Verfassung blockieren. Zwar bekennen sich die kurdischen Führer der PUK wie der KDP immer wieder zur Einheit des Irak. Doch wie glaubwürdig ist dieses Bekenntnis, wenn am Wahltag in den Kurdengebieten ein inoffizielles Referendum über die Unabhängigkeit veranstaltet wurde? Jeder Wähler wurde vor dem Stimmlokal gefragt, ob er die Unabhängigkeit Kurdistans oder eine Autonomie innerhalb des Irak bevorzugen würde.

Wann immer die neuen Machtblöcke keinen Kompromiss finden, könnten die Sezessionsgelüste bei den Kurden, aber irgendwann auch bei den Schiiten, immer stärker werden. Ahmed Tschalabi und seine Vereinigte Irakische Allianz, machten Wahlkampf mit dem Argument, der Süden solle nach kurdischem Vorbild auf „föderative“ Distanz zur Zentralregierung gehen. In Basra hörte man das gern.

Um den Irak gegen all diese Zentrifugalkräfte zusammenzuhalten, dürfte eine sehr starke Regierung nötig sein. Doch die würde nicht unbedingt dem westlichen Demokratieverständnis entsprechen. Eine Wählerin in Bagdad meinte auf die Frage, warum sie für Allawi gestimmt habe: weil der Saddam am ähnlichsten sei.

© Le Monde diplomatique, Berlin

* Susanne Fischer ist freie Journalistin, Christoph Reuter Reporter für den Stern. Beide lebten 2004 sieben Monate in Bagdad und publizierten „Café Bagdad. Der ungeheure Alltag im neuen Irak“, München (Bertelsmann) 2004.

Le Monde diplomatique vom 11.02.2005, von S. FISCHER und CH. REUTER