11.02.2005

Unvernünftig und inhuman

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Unvernünftig und inhuman

Von CLAUS KOCH *

WOLLTEN die reichen europäischen Gesellschaften sich noch einmal in die Hand nehmen und endlich wieder modern werden, sollten sie mit einer großen Abschaffung beginnen. Der Rentner ist es, der mit seiner zähen Vitalität das Elend der herunterkommenden Arbeitsgesellschaft trägt und zugleich fördert. Dass sich am Rentner nicht mehr festhalten lässt, ergibt sich, wie erst jetzt sichtbar wird, zwingend aus sozialen und aus humanen Gründen. Von sozialer Unvernunft zeugt die Tatsache, dass es immer mehr Bürger gibt, die lange vor Ablauf ihrer Lebenszeit auf staatliche Anweisung in den Ruhestand befördert werden – in einen Zustand, der sich immer mehr als ein inhumaner erweist.

Wer erwachsen ist, Lohn oder Gehalt bezieht und sich ordentlich verhält, dem steht schon früh der große Lebenseinschnitt vor Augen: das Rentenalter. Schon die Dreißigjährigen werden jeden Abend von der Fernsehwerbung für die Lebens- und Zusatzversicherung dazu aufgerufen: Denk an deine alten Tage, schon jetzt. Es ist ein festes Gebot für die meisten. Man verliert, ob man will oder nicht, seinen Berufsnamen. Als Rentner, mag man auch nicht einmal die sechzig erreicht haben, wird man zu einem Ehemaligen, wird anonym. Auf einmal hat man weniger zu verantworten und weniger zu verteidigen. Man darf nicht mehr mit den Tätigen und Kämpfenden leben. Der Rentner ist ein Diskriminierter.

Noch vor drei, vier Jahrzehnten war das nicht so. Für die meisten Erwerbstätigen war das Rentenalter die rettende Grenze. Sie durften hoffen, jenseits der Grenze, erlöst von der harten Berufswelt, noch ein paar Jahre in Anstand zu verbringen: den Lebensabend, wie das schauerliche Wort lautet. In der heutigen Gesellschaft, die immer mehr Gesunde und Lebenskräftige abschiebt, ist der Rentner zum Synonym des neuen Elends in einer herunterkommenden Arbeitsgesellschaft geworden. Zur Symbolfigur dafür, dass die Arbeit ihre Ehre verliert, zum Symbol einer Gesellschaftsnatur, die nun abgelebt und lebensfeindlich wirkt.

Die radikalen liberalen Romantiker sollten freilich nicht frohlocken. Dass sich die Renten nicht mehr bezahlen lassen, ist der Anlass, nicht der Grund. Der Anlass rührt her von einer politischen Panne in einer schlecht ökonomisierten Welt, die sich um ihr Weiterleben nicht kümmern will. Dadurch ist der Rentner nicht mehr wie einst eine fortschrittliche Notlösung, er ist vielmehr zur Blockade für das Gemeinwohl geworden.

Zur sozialen Unvernunft zählt auch die Kündigungsfreude vieler Unternehmer, denen die Erfahrung der Älteren zu teuer erscheint. Doch leider empfinden es die meisten Rentner selber so, dass sie ihre Entfernung aus der Berufswelt „verdient“ haben. Auch deswegen erheben sie keinen Einspruch. Sie glauben, es ihrer guten Moral zu verdanken, dass sie beiseite gesetzt werden. Und sie hören es erst einmal mit gutem Gewissen: Jetzt entspannt euch schön, genießt eure Pflichtenlosigkeit. Wir machen das schon.

„Verdient“ heißt, dass eine in Rente geschickte Generation der ihr vorangehenden Generation den Unterhalt fürs Restleben finanziert hatte. Als Abzahlung einer Schuld – nämlich für das Leben, das sie wiederum der vorangehenden Generation verdankt. Die hatte sich, indem sie Leben, Gut und Erziehung zur Verfügung stellte, ein Anrecht erworben. Der eigene Eintritt in die Rentenzeit markiert, dass dies eine Zwangsanleihe war. Sie wurde gegenüber den Jüngeren durchgesetzt mit einer Drohung der Alten: Wenn ihr uns den verdienten Unterhalt nicht leistet, geraten wir in Not, und ihr seid schuld daran. Ihr verdankt alles unserer Großzügigkeit, nun dürft ihr nicht undankbar sein. Dass ihr den von uns überkommenen Wohlstand mehren konntet, geht auch auf unser Konto. Wenn der Staat euch zwingt, unsere Renten zu bezahlen, ist es nur zu eurem Besten. Ihr erhaltet dafür das Anrecht, die nächste Generation zu belasten und der Rentenpflicht zu unterstellen.

Diese Rentenmoral ist wenig mehr als ein Jahrhundert alt. Sie hat der Industriegesellschaft des späten 19. und 20. Jahrhunderts auf die Beine geholfen. Ohne Zwangsrente keine Auflösung der Klassenkonflikte, kein sozialer Frieden, kein organisierter Fortschritt. Und alles in allem: kein Staat.

Nun sind es nicht die Alten, denen die Jüngeren und Aktiven keinen gebührenden Respekt schulden wollen, weil sie töricht und eigenbrötlerisch geworden wären. Es sind vielmehr die Rentner, zu denen diese Alten sich machen lassen. Durch die Sozialstatistik mechanisch ausgemustert, ohne Rücksicht auf Persönlichkeit, Lebenskraft und Leistungsfähigkeit, werden alle gleichgehobelt: der Bauarbeiter, der schon nach dreißig Jahren kaputt ist und nichts anderes mehr beginnen kann, ebenso wie der Universitätsprofessor, der noch forschen und Studenten um sich versammeln kann.

Damit wird der Rentnerstatus zur Diskriminierung. Zwar dürfen die Rentner weiter zur Wahl gehen und sollen auch ordentlich konsumieren. Dafür hat man ihnen die Seniorenkultur eingerichtet, eine weitere Diskriminierung, eine Kennmarke für abgesicherte Halbmündige. An der Seniorenkultur wollen und sollen die jüngeren Erwachsenen nicht teilhaben. Und so bleiben auch die meisten Rentner, ihr Verdientes in jugendlicher Aufschminkung verbrauchend, im Kreise der gleichaltrig Ausgesonderten. Wer etwas zu tun und sich Verantwortung aufgelastet hat, wird sich in diesen Kreisen nicht bewegen, mögen sie auch danach hungern: Erzählt doch was, ihr erlebt ja noch so allerhand.

Jetzt ist der Rentner auf dem Wege, sich selbst zu überleben. Er wird zu einer veralteten Sozialfigur. Die Industriegesellschaft, in der sich die Solidaritäten auf die gemeinschaftlich geleistete Arbeit bezogen, löst sich auf. In ihr hatte man gemeinsam den Fortschritt, die Modernität erlebt, hatte sich seine Berufsqualifikation, seine Berufsehre, sprich: die bürgerliche Anerkennung, erworben. Das alles wird immer weniger wert. Und manche empfinden bereits das Wort Solidarität als peinlich.

In der Rente bildet sich die Summe der Zwangsverpflichtungen und Zwangssolidaritäten ab, die der moderne Staat auferlegt und aus denen er sich erhält. Diese Zwänge waren lange Zeit erfolgreich, und sie sind so selbstverständlich geworden, dass die Bürger sie lieben gelernt haben. Schließlich liegt über allen Institutionen, die an die Rente anlagern, das Gesetzesnetz des Rechtsstaats. Es müsste, will man den Rentner abschaffen, aufgedröselt und neu geknüpft werden. Das scheint unmöglich, wenn man in der Ordnung demokratischer Konsenspolitik verbleiben will. Die politische Klasse bringt nicht die nötigen Energien auf, von Reformern oft Spielräume genannt, um wenigstens Teillösungen durchzusetzen. Sie ist heute genauso kurzsichtig wie die Bürger, die ihre Interessen nur noch über partikularisierte Interessenverbände artikulieren.

Doch nur bedingungslos Gläubige oder fast Ertrinkende können heute noch erwarten, dass sich auf mittlere oder gar längere Sicht das wirtschaftliche Wachstum in den europäischen Staaten auf beständige zweieinhalb Prozent einschwingen wird, die als Mindestmaß gelten, wenn man die Einkommen wie die Institutionen stabil halten will. Für Frankreich, Deutschland, Italien und selbst für das heute noch prosperierende England wird vorausgesagt, dass spätestens in zehn Jahren die Rentensysteme zusammenbrechen werden. All diese Staaten leisten es sich noch, die Notwendigkeit von radikalen Reformen, die an das institutionelle Gesamtgefüge gehen müssten, zu ignorieren. Doch jedes versäumte Jahr wirkt angesichts der beschleunigten Vermachtung der Märkte doppelt oder dreifach schwer. Angesichts dieser fahrlässigen Sorglosigkeit scheint die Erwartung plausibel, dass die ohnmächtigen Regierungen sich auf weitere Krisen und gar auf Zusammenbrüche zutreiben lassen, ehe sie einen „Systemwechsel“ überhaupt ins Auge fassen können. Nur werden es andere und vielerorts autoritäre Regierungen sein, die den Wechsel inmitten der Vernichtungskonkurrenz der Globalisierung bewältigen müssen.

Die seit Jahrhunderten geltende Ordnung der Lebensphasen, strukturiert durch die Berufsarbeit und zentriert auf deren Leistungsgipfel, löst sich also unweigerlich auf. Und mit ihr der Status des Rentners. Erworbene Verdienste und Ansprüche zerbröckeln und damit auch Erwartungen, aus denen sich Sozialität knüpfen ließe. Denn zunehmend schwindet die Substanz, aus der Solidarität geschmiedet werden kann. Damit wird auch für die Älteren gelten, dass jeder so viel gilt und so viel wiegt, wie er im Augenblick vermag.

Damit es nicht so kommt, muss der Rentner weg. Den meisten Menschen, die sich noch im alten Staat und in der alten Industriegesellschaft behaupten mussten, wird es schwer fallen, dies zu begreifen. Sie begreifen auch die Unwürdigkeit nicht, in die sie sich hineintreiben ließen. Sie werden bald die unsentimentalen Jungen gegen sich haben, die von früh auf lernen müssen, mit ihrem Lebenskapital ökonomisch umzugehen. Viele, die sich zu Rentnern machen oder machen ließen, sind zu schwach dazu. Aber sie müssen begreifen, dass nur durch die Aufhebung der obligatorischen Sozialfigur Rentner die Gleichheit der Menschenwürde für alle neu hergestellt werden kann: für Arbeitende wie für Nichtarbeitende und egal ob sie keine Arbeit finden oder aus Altersgründen nicht mehr arbeiten können.

© Le Monde diplomatique, Berlin

* Autor und Publizist in Berlin. Eine Langfassung des Textes erschien in der Internetzeitschrift Der neue Phosphoros, www.claus-koch.com.

Le Monde diplomatique vom 11.02.2005, von CLAUS KOCH