11.03.2005

Die Macht der Amateurbilder

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Die Macht der Amateurbilder

Zwei Ereignisse aus dem vergangenen Jahr werden die Geschichte der Pressefotografie verändern: der Skandal von Abu Ghraib und die Tsunami-Katastrophe im Indischen Ozean. Die Amateuraufnahmen davon bedeuten für die Pressefotografen heute eine ähnliche Herausforderung, wie es der Durchbruch der Fotografie für die Maler im 19. Jahrhundert war.

Von CHRISTIAN CAUJOLLE *

DIE Fotodokumente über die Misshandlungen im irakischen Gefängnis Abu Ghraib und die Bilder von der verheerenden Gewalt des Tsunami im Indischen Ozean waren unmittelbar nach den Ereignissen in allen Medien präsent. Mit verblüffender Geschwindigkeit sind die Bilder um die Welt gegangen. Denkt man an das erschreckende Ausmaß der dokumentierten Fakten, ist dieses Tempo nur zu begrüßen. Aber man stellt auch fest, dass diese Bilder eine neue Epoche in der Geschichte der Fotografie eingeläutet haben. Sie zeugen von einem Wendepunkt – wenn nicht gar vom Ende des dokumentarischen Fotojournalismus.

Beide Male – und das ist das Bezeichnende an den beiden Fällen – stammen die Aufnahmen von Amateuren, und beide Male konnten sie nur mit Hilfe digitaler Technik so schnell verbreitet werden. Die bloße Tatsache, dass Nichtprofessionelle historische Ereignisse bezeugen, stellt an sich in der Geschichte der Fotografie keine Neuheit dar. Radikal neu hingegen ist die Unmittelbarkeit, mit der die Bilder übertragen und verbreitet wurden, und neu ist auch das Ausmaß, in dem diese Bilder die öffentliche Meinung beeinflusst haben.

Zwar haben die Folterbilder aus dem Irak den Ausgang der amerikanischen Präsidentschaftswahl nicht verändert, doch sie haben der Stellung der „größten Macht der Welt“ einen heftigen und dauerhaften Schlag versetzt – zumal in den islamischen Ländern, vor allem im Nahen Osten. Nachdem man diese Aufnahmen gesehen hat, fällt es schwer, die Vereinigten Staaten von Amerika unter George W. Bush noch als Vorreiter der Demokratie zu betrachten. Wie konnte man zulassen, dass jemand Irakern, um sie zur Achtung der Menschenrechte zu erziehen, sexuelle Demütigungen zufügt, die sich ausnehmen wie schlechte Remakes sadomasochistischer Amateurpornos?

Natürlich gibt es keinen inhaltlichen Zusammenhang zwischen den schändlichen Bildern von Abu Ghraib und den Bildern, die die Verheerungen der riesigen Flutwelle dokumentieren, bei der fast 300 000 Menschen den Tod fanden – in der Mehrzahl arme Fischer und Menschen aus dem Landesinnern, die ihre Reisfelder verlassen hatten, um an den Küsten vom Geldsegen des Tourismus zu profitieren.

Doch betrachtet man den Einsatz des Bildes, so handelt es sich beide Male um ein und dasselbe Phänomen: In den vergangenen hundert Jahren galten nur Berichte professioneller Journalisten als glaubwürdige Dokumente. Heutzutage kann offensichtlich jedes Dokument, unabhängig von wem es stammt, ein Ereignis glaubhaft belegen. Das ist etwas Neues.

Die Zeitschrift Paris Match widmete den Verheerungen an den südostasiatischen Küsten unmittelbar nach dem Ereignis nicht nur ihr Titelblatt, sondern auch ein Dossier von vierundzwanzig Seiten. Doch bezeichnenderweise entdeckte der Leser darin letztlich nichts, was er nicht schon aus dem Fernsehen kannte, wo man tagelang „neu aufgetauchte“ Dokumente (und teilweise in der Tat beeindruckende „Amateuraufnahmen“) präsentierte.

Versuchen wir für einen Moment zu vergessen, in welch unerträglichem Ausmaß sich die hiesige Berichterstattung über den Tsunami auf die Sorge um die Touristen konzentrierte und reduzierte und damit die mindestens hundertmal so zahlreichen einheimischen Opfer faktisch „relativierte“. Was aber haben wir auf den Bildern tatsächlich zu sehen bekommen? Worum genau ging es?

Jeder ist Zeuge

AUCH diesbezüglich ist das Titelblatt von Paris Match bezeichnend: Es handelt sich um die Reproduktion eines digitalen Bildes (Foto- oder Videoaufnahme), auf dem die herannahende Riesenwelle zu sehen ist. (Das Blaugrün wirkt idyllisch, denn alles ist relativ.) Der Ort der Veröffentlichung unterstellt, es gehe bei dem Bild (wie einst bei der Fotografie) um die Darstellung einer „objektiven Wahrheit“, zumal die Technik, mit der es aufgenommen und übermittelt wurde, die übliche Technik ist, mit der alle Welt heutzutage Ereignisse „festhält“. Aber das eigentlich Neue sind die Pixel, die sich in den vergangenen vier oder fünf Jahren einen festen Platz in allen Bereichen des Nachrichtenwesens erobert haben.

Tatsächlich geht es um die Beschaffenheit des Originals, also darum, dass es sich um digitale Amateuraufnahmen handelt. Indirekt assoziiert sich mit dieser Technik heute der vielfältige Einsatz der digitalen Verpixelung – einer Technik, die aus verschiedenen Gründen (vom „Recht am eigenen Bild“ bis hin zu deplatzierten Moralvorstellungen) eingesetzt wird, um Bilder unkenntlich zu machen. Nebenbei sei angemerkt, dass die Verpixelung des Genitalbereichs und der Rektalzone bei den Opfern von Abu Ghraib letztlich den Blick gerade auf die kaschierten Stellen gelenkt hat.

Die Verpixelung bestätigt oder materialisiert letztlich den derzeitigen Stand der Bildproduktion, die nicht mehr in der Tradition der Fotografie steht, sondern auf der digitalen – in einen Rahmen gebrachten – Speicherung der Wirklichkeit beruht, mit allen visuellen, technischen und interpretativen Folgen, die sich daraus ergeben. Das Verhältnis zwischen der Wirklichkeit und ihrem Bild hat sich verändert, weil das, was ehemals einer „Elite“ vorbehalten war, jetzt allen zugänglich ist. Jeder ist Zeuge, jeder kann Bilder über das Zeitgeschehen liefern. Wir müssen es schlicht zur Kenntnis nehmen.

Was sich mit den Ereignissen von Abu Ghraib und der Katastrophe im Indischen Ozean tatsächlich und radikal verändert hat, ist der Status und die Legitimität der Produzenten der entsprechenden Bilddokumente. Jeder Mensch ist heute in der Lage, Dokumente aufzuzeichnen – einzufangen – und via Internet weltweit zu verbreiten; das Einzige, was er braucht, ist eine digitale Kamera, ein digitaler Fotoapparat oder ein Handy mit integrierter Bildtechnik. Die Allmacht – manchmal auch die Arroganz – der Profis hat ausgedient. Jeder kann etwas, was sich ereignet hat, festhalten, übertragen, zeigen und andere davon in Kenntnis setzen. Das impliziert aber auch, dass von vornherein kein Ereignis mehr seiner Verbildlichung entgehen wird.

Diese neue Wirklichkeit stellt die Berufsgruppe der Fotoreporter, die sich seit einem Jahrhundert der Chronik des Zeitgeschehens widmet, auf eine harte Probe, desgleichen Medien, deren Geschäftsgrundlage auf der Veröffentlichung dieser Bildmaterialien basiert.

Wozu braucht man noch die Profis, wenn heutzutage jedermann – und das ist ja nun der Fall – mit seinem multimedialen Handy wesentliche Dokumente liefern kann? Und wenn die renommiertesten Printmedien angesichts des zugkräftigen Fernsehens, das die Bilder unverzüglich um die ganze Welt sendet, trotz verzweifelter Anstrengungen kein andersartiges – überzeugendes – Bildmaterial heranschaffen können, was bleibt dann noch für die Profis übrig?

Zwei Möglichkeiten bieten sich hier an: Entweder sie stimmen ein in die bereits zwanzig Jahre alte Klage über den unaufhaltsamen Aufstieg des Fernsehens, das ihnen „unlautere Konkurrenz“ mache, oder aber sie unternehmen eine kreative Kraftanstrengung, die im Grunde ganz einfachen Regeln gehorcht.

Die noch vorhandenen Druckmedien, die künftig mit Fotografie arbeiten wollen, sollten auf die Fotografinnen und Fotografen setzen: auf Fotoreporter also, die sich mit dem Zeitgeschehen unter eigenen, andersartigen visuellen Gesichtspunkten beschäftigen – unzugänglich für das Fernsehen und dessen Geschwindigkeitsrausch der Unmittelbarkeit. Auf Fotoreporter, die sich auch auf Langzeituntersuchungen einlassen und Aspekte unserer Gesellschaften enthüllen, die von der groben Fernsehmaschinerie nicht erfasst werden können. Auf Fotoreporter, die dem Ereignis vor Ort nachspüren, sich unsichtbar machen, um Dinge sichtbar zu machen, in eine andere Form zu bringen, aufzudecken und dort nachzubohren, wo es wehtut, und dann mit dem Bild auf den wunden Punkt deuten.

Im Verhältnis zwischen Presse und Fotografie hat es nie eine „Hochzeit“ gegeben, auch nicht nach 1945, als die illustrierten Wochenblätter die Fotografen aussandten, die Welt zu erkunden – noch bevor das Fernsehen die Führung im Nachrichtenwesen übernahm.

Die Frage, die sich heute stellt, ist einfach. Jedes Printmedium, vom einflussreichsten bis zum marginalsten, muss sich neu fragen, warum es eigentlich Bilder veröffentlicht – mit welcher Absicht und von welchem Standpunkt aus – und welche Bilder zur Veröffentlichung freigegeben werden sollen: ob digitale Aufnahmen oder Fotografien (vielleicht sogar schwarz-weiße), Computergrafiken, Zeichnungen oder Reproduktionen von Gemälden. All diese Dokumente vermitteln in unterschiedlichem Maße Informationen – und sind umso eindringlicher, je mehr sie sich von den Stereotypen entfernen.

Man muss nur wissen, dass die digitalen Dokumente aus dem irakischen Gefängnis oder aus der indonesischen Provinz Aceh nichts anderes sind als Dokumente. Und dass es auch in Zukunft Fotografinnen und Fotografen geben muss, die das Risiko eingehen, eigene, von Fernsehen und Internet abweichende, entgegengesetzte oder ergänzende Standpunkte zu entwickeln und zu vertreten. Derartige Autorenfotografien sind die eigentlichen Garanten für das Überleben des gedruckten Bildes – wie man nicht oft genug betonen kann. Diese Einsicht zu leugnen oder zu übergehen wäre nachgerade Selbstmord –, denn nur so kann man sich darüber im Klaren werden, welche Funktion die täglich oder wöchentlich auf den Markt geworfenen Zeitungsseiten, die heutzutage keinerlei Standpunkt mehr erkennen lassen, in Zukunft haben sollen.

Nur Autorenbeiträge können die an ihren Konventionen zugrunde gehende Zeitungslandschaft retten. Nur Fotografen, die etwas vorhaben, können zum Nachdenken anregen und Zweifel wecken. Wie bei der Entstehung der Illustrierten in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts muss auch heute die Autorschaft des Fotografen wieder in den Mittelpunkt gerückt werden, um sich mit den Grenzen und der Sprengkraft beider Techniken – digitaler Momentaufnahme und klassischer Fotografie – auseinander zu setzen.

Dabei muss man schlicht und einfach wissen, dass es heutzutage nicht mehr ausreicht, wenn ein Bild ein Ereignis dokumentiert, denn jeder, der einen entsprechenden Apparat oder ein geeignetes Handy besitzt, kann jedes beliebige Ereignis im Bild festhalten. Die Funktion des Bildes im Nachrichtenwesen muss entsprechend neu definiert werden. In der langen Geschichte der Abbildungen sind wir derzeit an einem Punkt angelangt, wo die Entwicklung wieder einmal in zwei verschiedene Richtungen verlaufen wird: auf der einen Seite die der schnellen digitalen Bilder; auf der anderen die der Autorenfotografie.

Der Durchbruch digitaler Amateuraufnahmen ist für die Fotografie unserer Zeit das Gleiche, was der Durchbruch der Fotografie für die Malerei des 19. Jahrhunderts war. Nun gilt es zu beweisen, dass die großen Künstler, die Cézannes, Malewitschs, Picassos der Fotografie, tatsächlich kommen. Und dass ihre Bilder neuer, stärker und eindrucksvoller sein werden denn je.

deutsch von Grete Osterwald

* Gründer und Direktor der Fotoagentur und Galerie VU, Paris.

Le Monde diplomatique vom 11.03.2005, von CHRISTIAN CAUJOLLE