11.03.2005

Damaskus

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Damaskus

Von IGNACIO RAMONET

GEHT die Ermordung des früheren libanesischen Ministerpräsidenten Rafik Hariri am 14. Februar dieses Jahres auf das Konto Syriens? Die schockierte libanesische Öffentlichkeit ist davon überzeugt. Die Verurteilung der „Täter und Hintermänner dieses abscheulichen Verbrechens“ durch den syrischen Staatspräsidenten Baschar al-Assad konnte den Verdacht gegen ihn nicht zerstreuen. Auch für die meisten internationalen Medien scheint die Schuld des syrischen Baath-Regimes zweifelsfrei festzustehen. Die Journalisten wussten mehrere mutmaßliche Tatmotive aufzuzählen. Sie verweisen vor allem auf die Entschlossenheit der syrischen Regierung, das Land der Zedern auch nach den Parlamentswahlen im Mai unter Kontrolle zu halten. Sie argumentieren, Rafik Hariri habe in Damaskus Unmut erregt, weil er angeblich eine antisyrische Front geschmiedet und finanziert habe. Zudem habe Syrien ihm übel genommen, dass er mit Hilfe seiner Freunde dafür gesorgt habe, dass der UN-Sicherheitsrat mit den Stimmen von Paris und Washington im September 2004 die Resolution 1559 verabschiedet hat. Diese befürwortet freie Präsidentschaftswahlen im Libanon und fordert „den Rückzug aller noch im Land befindlichen ausländischen Streitkräfte […] sowie die Entwaffnung der libanesischen und sonstigen Milizen“. Gemeint sind damit die Milizen der schiitischen Hisbollah-Partei und der palästinensischen Milizen.

Für Washington liefert das Attentat einen weiteren Vorwand, den Druck auf Damaskus zu verstärken. Der US-Botschafter in Syrien wurde wegen „dringender Konsultationen“ zurückgerufen. Erinnern wir uns, dass Damaskus seit Beginn der US-Invasion im Irak überzeugt ist, eines der Hauptziele des Krieges sei die Einkreisung Syriens. US-Verteidigungsminister Rumsfeld beschuldigte Syrien seinerzeit, die Streitkräfte Saddam Husseins unterstützt und den diversen Widerstandsgruppen, die gegen die US-Besatzungstruppen kämpften, als Rückzugsgebiet gedient zu haben. Im Mai 2003 reiste Außenminister Powell eigens nach Syrien, um Staatspräsident al-Assad mit diesen und anderen, weit älteren Vorwürfen zu konfrontieren. So hielt er Syrien das Bündnis mit dem Iran und die Unterstützung der Hisbollah-Milizen vor, die in den Vereinigten Staaten (nicht aber in der Europäischen Union) als „terroristische Organisation“ gelten.

Unter diesen Umständen konnte Syrien keinerlei Interesse haben, die Sache weiter zu verschlimmern, es sei denn, man will Damaskus Selbstmordabsichten unterstellen. Manche Beobachter fragen sich daher, ob die allzu offensichtliche Täterschaft Syriens nicht genau das ist, was die Mörder Rafik Hariris beabsichtigten. So meint Eyal Zisser, Syrienexperte am Dayan-Institut der Universität Tel Aviv: „Dass Syrien es war, widerspricht aller Logik. Es wäre eine überaus dumme Entscheidung gewesen. Syriens Verhalten wird von allen Seiten überwacht, und die Regierung kann kein Interesse daran haben, den Libanon zu destabilisieren“ (Washington Post vom 16. Februar 2005).

ABER wie dem auch sei – die Frage bleibt, welche Ziele Washington und Paris im Libanon verfolgen. Wenn sie dort eine „wirkliche Demokratie“ aufbauen wollen, wird dies ohne die Schiiten, die engsten Verbündeten der Syrer, wohl kaum möglich sein. Werden demokratische Verhältnisse die Unterstützung der Oppositionsparteien finden, die den Grundsatz „One man, one vote“ ablehnen und eine konfessionell gegliederte Gesellschaft befürworten? Wenn aber das Ziel sein soll, den „besetzten Libanon“ von seinen Besatzern zu befreien, so darf die internationale Gemeinschaft nicht vergessen, dass in der Region seit 1967 auch der syrische Golan, das Westjordanland, der Gaza-Streifen und Ostjerusalem besetzt sind. Und dies, obwohl der UN-Sicherheitsrat mehrfach das Ende der Besetzung gefordert hat. Wird hier wieder einmal mit zweierlei Maß gemessen?

Anscheinend hat auf der politischen Bühne des Nahen Ostens der zweite Akt begonnen, der die Gefahr eines Wiederaufflammens des libanesischen Bürgerkriegs in sich birgt. Nach Beendigung des Irakkriegs nimmt sich die US-Regierung die beiden anderen Regime vor, die schon lange auf der Abschussliste stehen: den Iran und seinen Verbündeten Syrien, der ohne Frage das schwächste Glied in der Kette ist. Ob den Mördern von Rafik Hariri klar war, dass sie damit das Schicksal des syrischen Regimes in die Hände der „internationalen Gemeinschaft“ gelegt haben?

Le Monde diplomatique vom 11.03.2005, von IGNACIO RAMONET