10.07.2009

Genosse Ortega

zurück

Genosse Ortega

Auch wenn die Nicaraguaner immer noch von „Daniel“ reden – der heutige Präsident hat nicht mehr viel mit dem jungen Guerillero Daniel Ortega gemein, der nach dem Ende der Somoza-Diktatur zusammen mit acht weiteren Rebellenführern die erste Räteregierung der Sandinisten bildete. Als die USA in den 1980er-Jahren ihren Stellvertreterkrieg gegen das Land führen ließen, geboten sich vertikale Befehlsstrukturen und autoritärer Führungsstil innerhalb der FSNL mehr oder weniger von selbst. Ein offener Dissens hätte der Revolution in dieser Phase wohl schnell das Genick gebrochen.

Das änderte sich mit dem Ende des Bürgerkriegs und der Wahlniederlage der FSLN von 1990. Spätestens da wäre es an der Zeit gewesen, den politischen Stil zu ändern, denn das Bedürfnis nach demokratischen Verhältnissen auch im Innern der Partei wurde immer dringender. Schon länger schwelte ein Konflikt zwischen „reformorientierten“ Sandinisten um den ehemaligen Vizepräsidenten Sergio Ramirez auf der einen Seite und der „radikalen“ Fraktion von Ortega auf der anderen. Auf dem Parteitag im Mai 1994 kam es zum Eklat: Die „Realos“ wurden schlicht und einfach ausgeschlossen. Seither ist Ortega Angriffen von Seiten politischer Gegner und ehemaliger Mitstreiter ausgesetzt. Die Vorwürfe zielen auf seinen „persönlichen Ehrgeiz“ und seine „autoritäre Herrschaft“. Er gebärde sich wie ein Caudillo, heißt es, und betrachte die Partei als seinen privaten Besitz.

Im März 1998 behauptete Zoilamérica Narváez, eine Stieftochter Ortegas aus der ersten Ehe seiner Frau Rosario Murrillo, Ortega habe sie vom 11. Lebensjahr an über zehn Jahre sexuell missbraucht. Merkwürdig schien, dass Narváez diese Anschuldigungen erst im Alter von 31 Jahren und unmittelbar vor dem 3. Parteitag der FSLN erhob. Die Auseinandersetzung um die Parteiführung erreichte damit einen neuen Höhepunkt. Etliche Unterstützer von Zoilamérica oder auch Ortega hatten in der Partei wichtige Posten inne und waren innerhalb der Partei ebenfalls umstritten. Zoilamérica selbst war von 1979 bis 1990 eine hohe Funktionärin der sandinistischen Jugend. Stimmten ihre Behauptungen? Oder waren sie ein Versuch, Ortega politisch zu erledigen? Wie für jeden anderen Bürger galt auch für Ortega die Unschuldsvermutung. Im Übrigen stand seine Frau Rosario Murillo von Anfang an zu ihm und klagte öffentlich über „Leute, die meine Tochter einer Gehinrwäsche unterzogen haben“.

Ortega genoss noch aus seiner Zeit als Anführer der sandinistischen Fraktion im Parlament politische Immunität. Er sorgte in einem Kuhhandel mit der Liberalen Verfassungspartei (PLC) von Arnoldo Alemán dafür, dass sie erst aufgehoben wurde, als sein Verfahren verjährt war. Er konnte also nicht vor Gericht gestellt werden. Aber es konnte auch keinen Freispruch geben. Ein anderer Kompromiss mit Arnoldo Alemáns PLC, der angeblich die „Regierbarkeit“ des Landes sicherstellen sollte, brachte im Parlament eine ausreichende Mehrheit für eine Änderung des Wahlrechts zustande. Seither braucht ein Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen nur noch 35 Prozent der Stimmen und 5 Prozent Vorsprung gegenüber dem Zweitplatzierten, um im ersten Durchgang die Wahl zu entscheiden.

Das war eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass Ortega bei den Wahlen vom November 2006 mit nur 38 Prozent der Stimmen Präsident werden konnte. Diese Wahlrechtsänderung wurde damals heftig kritisiert, zum Beispiel in der Zeitschrift Envio aus Managua: „Sie führt zur Durchsetzung eines Zweiparteiensystems in unseren politischen Institutionen. Ihre Absicht ist klar erkennbar: Die Mehrheit hat fortan das Sagen, die Minderheit wird ignoriert.“ Nur wenige Tage vor der Wahl im November 2006 stimmten die sandinistischen Abgeordneten mit der liberalen PLC für ein Gesetz, nach dem medizinisch indizierte Abtreibungen selbst dann verboten sind, wenn eine Frau vergewaltigt wurde oder wenn eine Schwangerschaft ein tödliches Risiko für sie bedeuten könnte. Die Absicht der FSLN, sich vor dem Wahlgang der katholischen Kirche anzubiedern, war unübersehbar. Seither riskiert in Nicaragua ein Arzt, der in solchen Fällen helfend eingreift, zwischen vier und acht Jahren Gefängnis. Maurice Lemoine

Le Monde diplomatique vom 10.07.2009, von Maurice Lemoine