10.07.2009

Starke Strukturen für schwache Staaten

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Starke Strukturen für schwache Staaten

Globale Sicherheitsarchitektur ohne Weltpolizist von Volker Perthes

Die internationale Sicherheitspolitik wird seit dem Amtsantritt Barack Obamas in den USA neu definiert: In der ersten Bedrohungsanalyse der neuen US-Regierung, die Dennis Blair, Director of National Intelligence, im Februar 2009 vorgelegt hat, fiel auf, dass die globale Wirtschaftskrise und deren geopolitische Auswirkungen als das wichtigste kurzfristige Sicherheitsproblem beschrieben wurde: Die Krise könne mehr Instabilität verursachen, Schwellenländer schwächen, wirtschaftlichen Nationalismus fördern oder wirtschaftliche und militärische Kapazitäten von Verbündeten beeinträchtigen.

Diese sicherheitspolitische Perspektive unterscheidet sich deutlich von der Position der Vorgängerregierung unter George W. Bush. Tatsächlich könnte die Krise, besonders wenn die Kosten der Konjunkturpakete, die die großen Volkswirtschaften 2009 auf den Weg gebracht haben, zu begleichen sind, die Bereitschaft der Industrieländer und anderer starker Ökonomien mindern, genügend Ressourcen für Konfliktmanagement und Konfliktprävention, humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung zu stellen, während man gleichzeitig bestimmte Elemente der Krise an schwächere Staaten weitergibt. Dies muss nicht durch direkten Handelsprotektionismus geschehen. Es reicht schon, den eigenen Arbeitsmarkt abzuschotten, Auslandsinvestitionen zurückzufahren oder Arbeitsmigranten zurückzuschicken. Staaten, die wie Sambia oder Bolivien vor allem Rohstoffe oder – wie Tadschikistan und Bangladesch – Arbeitskraft exportieren, gehören ohnehin zu den Hauptbetroffenen der globalen Krise.

Die Zahl fragiler Staaten, die die Grundbedürfnisse ihrer Bevölkerung nicht sichern und ihr Gewaltmonopol nicht durchsetzen können, wird zunehmen, die Sorge vor sozialen und politischen Unruhen wachsen. Was wir heute mit enormen Auswirkungen auf die regionale und internationale Sicherheit in Somalia erleben, kann morgen im Jemen oder in Mauretanien geschehen. Nicht überall birgt dies die Gefahr eines Bürgerkriegs. Aber fragile Staaten werden besonders leicht zur Operationsbasis organisiert-krimineller oder terroristischer Netzwerke, können sich regionalen Turbulenzen nicht entziehen oder lösen diese durch grenzüberschreitende Aktivitäten solcher Netzwerke oder ungeregelte Migrationsbewegungen selbst aus.

Die Unterminierung staatlicher Strukturen in Sierra Leone, Guinea-Bissau, Guinea und anderen Staaten Westafrikas durch den lateinamerikanischen Drogenhandel ist zu einer konkreten Herausforderung für die EU geworden. In den Industriestaaten verstärkt dies die Tendenz, sich gegen Migranten aus diesen Ländern abzuschotten und notfalls militärisch zu intervenieren. Dass viele der armen Staaten, die heute schon die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise spüren, künftig besonders von den Folgen des Klimawandels betroffen sein werden – wie etwa Bangladesch oder Birma und der südasiatische Subkontinent insgesamt – verbessert nicht gerade die Stabilitätsperspektiven dieser Regionen.

Eine solche Entwicklung vollzieht sich im Schatten ungelöster Regionalkonflikte und alter wie neuer geopolitische Konkurrenzen. In der sicherheitspolitischen Debatte der Ära Bush, mit ihrer Fokussierung auf Terrorismus und „rogue states“, die nach Atomwaffen streben, ging unter, wie sehr diese veritablen Risiken selbst durch ungelöste innerstaatliche und regionale Konflikte befördert werden. Zweifellos sind mehr Menschen durch Bürgerkriege und regionale Auseinandersetzungen geschädigt worden als durch Terrorismus – obgleich auch in innerstaatlichen und regionalen Kriegen terroristische Methoden genutzt werden.

Zum Beispiel Nahost

Die Vielzahl anhaltender oder neu entstandener regionaler Konflikte zeigt, dass wir es in absehbarer Zukunft eben nicht nur mit „neuen“ Kriegen zu tun haben werden, bei denen sich – wie in Afghanistan oder Pakistan – staatliche und nichtstaatliche Akteure gegenüberstehen. Vielmehr wird es auch geopolitische Konfrontationen des „alten“ Typs geben, in denen sich prinzipiell Staaten gegenüberstehen und mit kriegerischen Auseinandersetzungen drohen. Dies schließt nicht aus, dass nichtstaatliche Milizen, tribale Gruppen oder Rebellen solche Konflikte auslösen oder für sie mobilisiert werden – man denke etwa an den Sudan und an Tschad.

Ungelöste grenzüberschreitende oder innerstaatliche Konflikte bieten den Nährboden für extremistische und terroristische Gruppen, die nicht immer nur in ihrem lokalen und regionalen Umfeld aktiv bleiben. Am deutlichsten wird dies im Nahen Osten: Der israelisch-palästinensische Konflikt wird, solange er ungelöst bleibt, eine offene Wunde der arabisch-muslimischen Welt und das wichtigste Symbol der Mobilisierung für diejenigen sein, die die Muslime in einem existenziellen Kampf mit dem globalen Westen sehen.

Oft wirkt die Fragilität eines Staatswesens wie eine Einladung an andere, sich einzumischen – sei es, um lokale Konflikte einzudämmen oder um eigene Ansprüche durchzusetzen. Anhaltende regionale Auseinandersetzungen und Kriege schwächen gefährdete Staaten (oder Protostaaten wie die Palästinensische Autorität) zudem weiter.

Regionale Konflikte werden im heutigen multipolaren System immer auch die globale Ebene betreffen. Die Industrie- und Schwellenländer können sich nicht völlig gegen Terrorismus, Flüchtlingsströme oder Kriminalität abschotten und sich nur von der Befürchtung leiten lassen, dass Handelsrouten oder der Zugang zu Rohstoffen gefährdet werden. Große Mächte behalten zudem eine geopolitische Perspektive und ahnen, dass andere Staaten regionale Konflikte nutzen könnten, um Einfluss in ihrer jeweiligen Peripherie zu gewinnen. Das gilt für Russland mit Blick auf den Kaukasus, für die USA und Zentralamerika, für China und die koreanische Halbinsel. Für China ist ein aggressives, atombewaffnetes Nordkorea ebenso ein Albtraum wie ein Kollaps dieses Regimes vor der eigenen Haustür oder der Anschluss des Landes an das mit den USA verbündete Südkorea.

Ein multipolares System, wie es sich seit dem Ende der Blockkonfrontation und im Prozess der wirtschaftlichen Globalisierung entwickelt hat, ist tendenziell ungeordnet, wenn die wichtigsten Akteure nicht selbst tragfähige Strukturen schaffen. Es besteht nicht nur aus einer variablen Anzahl globaler Pole – USA, EU, China, Russland – die unterschiedliche Anziehungskraft haben, sondern ist auch regional polarisiert: In Subsahara-Afrika etwa wirken Südafrika, Nigeria, möglicherweise Sudan und Äthiopien, als regionale Führungsmächte mit teilweise überlappenden Einfluss- und Aktionszonen.

Im Nahen und Mittleren Osten sehen wir eine sehr viel deutlichere Polarisierung zwischen Israel, Iran, der Türkei und Saudi-Arabien als den wichtigsten, gleichzeitig aber keineswegs von allen anderen als Führungsmächte akzeptierten Spielern. Manche Beobachter nennen ein solches System polyzentrisch. Der Begriff ist allerdings irreführend, weil die so genannten regionalen und globalen Pole in unterschiedlichen Ligen spielen: Globale Mächte haben weltweite Ordnungsinteressen und können praktisch in allen Regionen der Welt intervenieren. Regionale Mächte oder ambitionierte Regionalstaaten wie der Iran, Venezuela, Brasilien oder Südafrika verfolgen eher regionale Agenden. Sicher können diese Staaten, wenn sie unter internationalen Druck geraten, von ihrer unterschiedlichen ideologischen Orientierung absehen und sich – man denke an den Iran, Nordkorea, Weißrussland und Venezuela – gegenseitig unterstützen. Sie gewinnen damit aber weder regional noch global eine Ordnungsfunktion.

Die US-Regierung unter Präsident Obama hat unterstrichen, dass die USA globale Probleme und regionale Konflikte nicht allein werden lösen können. Dies ist, unabhängig von Differenzen über den Ansatz einzelnen Krisen oder Akteuren gegenüber, eine gute Voraussetzung für internationale Bemühungen um Krisenprävention und friedliche Konfliktbeilegung. Tatsächlich wird es in den meisten regionalen Konstellationen auf absehbare Zeit ohne amerikanische Führung nicht gehen.

Abstrakter gefasst ließe sich sagen, dass nicht nur globale Risiken, sondern auch regionale Konflikte kaum bewältigt werden dürften, wenn die Strukturveränderungen im internationalen System dabei nicht berücksichtigt werden. Die Machtverteilung im internationalen System gestaltet sich nach wie vor so, dass amerikanische Sicherheitsgarantien notwendig sein werden, um Lösungen auf den Weg zu bringen: im Nahostkonflikt etwa, um territoriale Zugeständnisse Israels möglich zu machen; in Ostasien, aber auch im Nahen und Mittleren Osten, um Rüstungswettläufe zu verhindern. Gleichzeitig müssen aber die neuen Großmächte mitwirken, wenn es um den Aufbau neuer internationaler Regime oder haltbarer regionaler Sicherheitsarchitekturen geht.

Bei Sicherheitsarrangements in Südostasien, im Persischen Golf oder im Indischen Ozean werden China und Indien eine Rolle spielen müssen: Sie sind präsent, haben wirtschaftliche wie politische Interessen und können Einfluss auf regionale Akteure nehmen. Ihre Teilnahme an internationalen und regionalen Institutionen kann zudem ihre Bereitschaft steigern, Mitverantwortung für Sicherheit und Stabilität zu übernehmen.

In regionalen Friedens- und Stabilisierungsprozessen müssen die Staaten der Region eine aktivere Rolle übernehmen. Sie verhalten sich häufig schon deshalb pragmatischer, weil sie auch mit schwierigen Nachbarn weiterleben müssen. Nur die regionalen Akteure können internationalen Bemühungen um Konfliktbeilegung gesellschaftliche Tiefe geben, also sicherheitspolitische Arrangements durch die Zusammenarbeit in anderen Bereichen, insbesondere im Handel, im Transportwesen oder bei Energie- und Umweltproblemen unterstützen. Dazu sind „inklusive Lösungen“ notwendig. Die Asean-Staaten etwa haben bei ihren Bemühungen, langsam und vorsichtig neben der wirtschaftlichen auch die politische und sicherheitspolitische Kooperation zu institutionalisieren, immer auch den schwierigen Partner Birma integriert.

Organisationen oder Pakte für Sicherheit und Kooperation, die sich als umfassende regionale Konzerte mit internationaler Beteiligung organisieren, sind haltbarer als der Versuch, von außen ein Gleichgewicht zwischen konkurrierenden regionalen Blöcken zu schaffen. So dürfte jeder Versuch, den Nahen und Mittleren Osten entlang zweier „Achsen“ – einer vorgeblich „moderaten“ und einer „radikalen“ – zu strukturieren, die Region eher noch instabiler machen. Nötig wäre hier zunächst ein Sicherheitspakt für die gesamte Golfregion.

Ein solcher Regionalpakt müsste neben dem Iran und dem Irak alle Staaten der Arabischen Halbinsel, die Nachbarn des Irak und wichtige internationale Akteure wie die USA, Indien, China oder die Europäische Union einbinden, die ein vitales Interesse in der Region haben. Nach dem Vorbild des Stabilitätspakts für Südosteuropa ließe sich so die Zusammenarbeit sowohl in „weichen“, aber elementaren Politikfeldern (Schutz des Ökosystems im Golf, Zusammenarbeit bei Zwischenfällen auf hoher See, wirtschaftliche Kooperation) wie auch im Bereich der Sicherheitspolitik (Koordination und Kooperation etwa beim Küstenschutz, Bekämpfung von Drogen- und Waffenschmuggel und so weiter) fördern und organisieren, um nach und nach Vertrauen aufzubauen. „Achsenkonstruktionen“ dagegen könnten schon angesichts der stets veränderlichen Machtgewichtungen in einem mehrfach multipolaren System kaum stabil sein.

Volker Perthes ist Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit, Berlin. © Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.07.2009, von Volker Perthes