10.07.2009

Brief aus Berlin

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Brief aus Berlin

von Katharina Döbler

Aktuelle Lage. Vor einigen Tagen hatte meine Nachbarin ihre bayerischen Verwandten zu Besuch. Sie fühlten sich unwohl und sprachen immer sehnsüchtig von Bayern, wo es viel schöner ist.

Die Graffiti gefielen ihnen nicht, und auch nicht, wie es hier aussieht. Und wie die Leute reden! Um nicht die seelische Balance zu verlieren, mussten sie alle paar Stunden voralpenländische Volksmusik vom Handy abrufen. Alle waren froh, als sie wieder nach Hause fuhren.

Froh auch deshalb, weil sie eine beruhigende Botschaft hinterließen: Einen neuen Berliner Zentralismus wird es nicht geben. Nicht einmal eine kulturelle Hegemonie.

Auch wenn der Suhrkamp Verlag hierherkommt, die Künstler einander fast auf die Füße treten und die Modemesse Bread & Butter nach Berlin zurückgekehrt ist. Das alles heißt gar nichts, außer dass in Berlin bisher noch jeder irgendwelche Gleichgesinnten gefunden hat, egal wofür und wobei.

Wer in Deutschland eine profilierte Minderheit bilden will, zieht am besten nach Berlin.

Historischer Rückblick. Es gab eine Zeit, fast hätte man sie schon wieder vergessen, da sprach alle Welt von der neuen Mitte.

Da schien es, als sei die soziale Zentrifugalkraft weitgehend ausgeschaltet; als bewegten sich Bürger, Pfarrer, Emanzen, Gemüse- und Gebrauchtwagenhändler langsam auf einen imaginären Punkt zu. In dem dann alle in einer unendlich fernen Zukunft vereint wären.

Berlin war Hauptstadt geworden. Alle Parteien behaupteten von sich, Partei der Mitte zu sein, nur um die genaue Position dieser Mitte gab es kleinere Uneinigkeiten. Lag es an dem Stadtbezirk, in dem sowohl Reichstag als auch die für die Teilhabe an der Macht wesentlichen Restaurants liegen? Oder war es eine Art neohauptstädtischer Harmoniesucht und Meinungsabstinenz, dass alle dahin wollten, wo alle waren.

Alle? Nein. Die in Westberlin ansässigen tapferen Minderheiten, die sich im Lauf der Teilungsjahre durch stetigen Zustrom aus der Bundesrepublik beinahe zur Mehrheit ausgewachsen hätten, warnten. Der Wunsch des seligen Wolfgang Neuss, auf deutschem Boden möge nie wieder ein Joint ausgehen, wäre, so die Befürchtung, kaum durchzusetzen gegen einen vom Rheinland her drohenden Spießermob, der die gemeinsamen subkulturellen Werte und die allgemeine Schmutztoleranz, für die Berlin so bekannt war, nachhaltig gefährden würde.

Die Rheinländer kamen trotzdem. Die Mitte wurde immer breiter. Das Kanzleramt wurde mit etwa 30 Prozent Übergrößenzuschlag gebaut. Die Joints brannten im Stillen weiter. Und die Volksvertreter und ein Gutteil ihrer bürokratischen Hilfstruppen begaben sich wochenends nach Hause in die schönen Weiten der Republik. Es war alles nicht so schlimm. Da war viel Mitte, aber kein Zentrum. Und alle waren ein bisschen mit irgendetwas zufrieden. – So war das.

Dann brachte die fortschrittlichste Linksregierung der Mitte, die wir je hatten, die sozialen Zentrifugalkräfte schnell wieder in Gang. Und wie.

Lokales Brauchtum. Jetzt findet niemand mehr bedenklich, dass Berlin Hauptstadt ist. Die meisten Deutschen denken, dass es ganz in Ordnung ist, solange sie da nicht regieren und wohnen müssen. Und es ist ja auch wirklich nicht schön, wie die Leute hier reden.

Gestern im Supermarkt fragte ein Mann mit einer Frisur wie Jonathan Meese, nur kürzer, eine rotgefärbte Verkäuferin: „Wo haben Sie denn diese … äh, nicht Pulver … äh, sondern äh …“

Darauf die Verkäuferin: „Äh hab ick nich.“

Der junge Mann, unverdrossen: „Man tut’s ins Wasser und dann löst sich’s auf, nicht Suppe …“

Die Verkäuferin: „Brühe.“

Der junge Mann: „Ja, genau.“

Die Verkäuferin: „Na, sehnse.“

Eine harte Stadt. Aber tolerant. Mit einem bisschen guten Willen klappt auch die Verständigung. Und wem es nicht passt, der kann ja rübergehen. Irgendwohin.

Die Mauer gibt es zwar nicht mehr, aber Demarkationslinien gibt es genug, die man überqueren kann. Einige entsprechen dem alten Mauerverlauf, wie an der Bernauer Straße, zwischen den Bezirken Mitte und Wedding. Wem die Südseite zu schick geworden ist, bitte: Wohnen wie im Wohlfahrtsstaat kriegt man gleich auf der Nordseite. Und billig. Die Zentrifugalkräfte wirken. Sie taten das schon vor der Krise.

Essen. Man muss ihnen mal einen Tag lang folgen, weg aus der Mitte, den coolen Locations, den Einkaufsmeilen und Castingalleen: dahin, wo Kunst und Kommerz sich beim Stichwort Brühe treffen.

Frühstücken, wo man garantiert keine Touristen trifft? Bei Karstadt am Hermannplatz, solange es das noch gibt. Für drei fünfzig mit Lachs und Ei, Kaffee inklusive, kann man von der Dachterrasse den herrlichen Blick auf die Dächer Neuköllns genießen. Hier treffen sich zwei Demarkationslinien, die Grenze zwischen Kreuzberg und Neukölln. Männer im Anzug stellen hier eine extreme Minderheit dar, vorherrschend ist die sehr bequeme Freizeitkleidung von Leuten, die mehr Freizeit haben, als ihnen lieb sein kann. Rentner bringen ihre Kreuzworträtsel mit. Das Kaufhaus ist riesig und ziemlich leer. Die Toilettenfrau ruft aufgeräumt: „Guten Morgen! Alles frei!“

Manchmal ist Berlin doch keine harte Stadt.

Der Zeitungskiosk vor dem Südeingang hat zwar zugemacht, aber die zwei Wurstbuden daneben gibt es noch. Auch auf den kleinen Wochenmärkten, wo die Stände mit frischem Obst, Fleisch und Gemüse langsam einem Angebot von Textilien weichen, das den Anspruch, modisch zu sein, niemals erheben würde, überlebt am besten der Wurststand.

Aber es muss nicht immer Wurst sein.

Man kann mittags zum Beispiel sehr erhebend und historisch zu den Klängen der Freiheitsglocke vom Rathaus Schöneberg im Kennedy-Grill sitzen, sofern man nach dem Karstadtfrühstück Punkt zwölf schon wieder Hunger hat. Das Rathaus Schöneberg befindet sich auf der guten Seite der Demarkationslinie, die das Viertel sauber durchtrennt.

Die Freiheitsglocke ist ein Geschenk der Amerikaner, man kann sie bis heute jeden Sonntag deutschlandweit im Radio hören, begleitet von den feierlichen Worten: „Ich glaube an die Unantastbarkeit und an die Würde jedes einzelnen Menschen. Ich glaube, dass allen Menschen von Gott das gleiche Recht auf Freiheit gegeben wurde. Ich verspreche, jedem Angriff auf die Freiheit und der Tyrannei Widerstand zu leisten, wo auch immer sie auftreten mögen …“

Der Kennedy-Grill übrigens bietet internationale Spezialitäten an. Früher, das heißt vor 1992, gab es hier jugoslawische Spezialitäten.

Einkaufen. Um die Ecke vom Kennedy-Grill gibt es, zwischen McGeiz und „Alles muss raus“-Schildern, die seit zwei Jahren an derselben Stelle kleben, noch zwei Kaufhäuser. Noch ein paar Wochen. Bei Woolworth gibt es Kinderjeans für 8 Euro 99. Woolworth ist pleite. In dieser Straße gibt es Läden, die billiger sind. Die Angestellten werden in eine Transfergesellschaft übernommen. Die können einen dann auch woandershin ausleihen zum Arbeiten, sagt eine Blondgefärbte, aber für sie wär’s nicht so schlimm, sie hätte noch einen anderen Job, aber unterschrieben hätte sie, wie alle.

Auf der anderen Straßenseite, bei Hertie, werden die Regale immer leerer. Im Untergeschoss, Besteck und Bettwäsche, fragt die einzige Kundin, ob sie, wenn sie jetzt Teller kauft und einer kaputt geht, irgendwie nachbestellen könne. Die einzige Verkäuferin schaut sie nur groß an.

Sie ist schon beim Arbeitsamt angemeldet, sagt sie dann, das sind sie alle. Und ob’s das jetzt war und einen schönen Tag noch.

Aber Berlin ist wirklich keine traurige Stadt.

Nationalfeiertage. Hier wird viel und gern gefeiert, ständig gibt es Feste, zu denen hunderttausende Touristen kommen, um sich auf der Straße des 17. Juni zu freuen und Wurst zu essen. Das letzte Fest von hauptstädtischer Bedeutung, mit Reden, Polizisten, Trachtengruppen und Wurst, war der Tag, an dem vor 60 Jahren das Grundgesetz in Kraft trat. Der 23. Mai. Ansonsten feiern wir den 3. Oktober. Die meisten Länder auf der Welt feiern den Tag, an dem sie unabhängig und ein eigener Staat wurden. Die Franzosen feiern den Sturm auf die Bastille.

Wir hier in Berlin feiern den Tag, an dem ein Drittel des Landes nach zähen Verhandlungen dem bereits bestehenden anderen Staat beitrat, wodurch die eine Hälfte der Stadt aufhörte, Hauptstadt zu sein, damit beide Hälften es etwas später dann zusammen wieder werden konnten. Für das Volk findet die Feierlichkeit natürlich auf dem 17. Juni statt, mit Reden, Musik und Wurst bis tief in die Nacht.

Früher, man erinnere sich, war der 17. Juni selber Nationalfeiertag der Bundesrepublik. Feierlich begangen wurde er, indem Engländer, Franzosen und Amerikaner auf der gleichnamigen Straße unter strengen Sicherheitsvorkehrungen ihre schönen Panzer vorzeigten.

Nachtisch. Aber das war im Kalten Krieg, und der ist jetzt vorbei. So vorbei, dass inzwischen nur noch eine Eisdiele so heißt. Sie ist ganz in der Nähe vom Checkpoint Charlie und hat täglich wechselnde Sorten im Angebot.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.07.2009, von Katharina Döbler