Freihandel macht hungrig
von Armin Paasch
Ein Sozialsystem wie in Europa haben wir nicht. Wenn die EU uns mit ihren Dumpingpreisen an die Wand drückt, ist das wie ein Aufruf an unsere Milchbauern zum kollektiven Selbstmord“, schimpft Gariko Korotoumou, Milchbäuerin und Vorsitzende des Verbands der Kleinstmolkereien in Burkina Faso. Es sind nackte Überlebensängste, die viele Nomaden der Fulbe umtreiben. Die Angehörigen dieser Ethnie stellen 10 Prozent der Bevölkerung in dem westafrikanischen Land, und sie sind für ihren Lebensunterhalt darauf angewiesen, Milch erzeugen und vermarkten zu können.
Die Sorgen der Bauernführerin gründen auf eigener Erfahrung: Laut Misereor wurde im Jahr 2005 in Burkina Faso Milchpulver aus der Europäischen Union dank Exporterstattungen zu umgerechnet 30 Cent pro Liter angeboten. Dieser Preis lag nicht nur 18 Cent unter den durchschnittlichen Produktionskosten einer deutschen Molkerei. Auch die Herstellungskosten in Burkina Faso wurden um 7 bis 10 Cent unterboten, mit dem Effekt, dass burkinische Molkereien bei der Herstellung ihres Joghurts fast nur noch mit EU-Milchpulver arbeiteten und die lokalen Erzeugnisse nicht mehr in den Handel gelangten. Den Fulbe wurden dadurch alle Entwicklungschancen verbaut.
Wie gefährlich Billigimporte für afrikanische Staaten sind, zeigte sich 2007 und 2008: Die Nahrungsmittelpreise auf dem Weltmarkt stiegen und damit auch die Preise, die Verbraucher in Burkina Faso zahlen. Schon vorher lebten über 40 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Anfang 2008 verschärfte sich die Situation und trieb die Menschen zu Hungerprotesten auf die Straße.
Zugleich bot sich für die Bauern aber auch eine Chance, die Frau Korotoumou und ihr kleiner Verband nutzten: Sie organisierten Fortbildungen zur Lagerung von Futtermitteln, bauten Kleinstmolkereien auf, erzeugten mehr Milch und fanden dafür erstmals nennenswerten Absatz auf dem heimischen Markt. Während sich der Preis für Milchpulver aus der EU zwischen 2004 und 2008 verdoppelte, konnte im selben Zeitraum auch die lokal vermarktete Milchproduktion nahezu verdoppelt werden. Die Krisenreaktion der Bauern nutzte schließlich auch den Konsumenten. Denn mit der höheren heimischen Produktion sank nicht nur die Importabhängigkeit, sondern auch die Gefahr plötzlicher Preissteigerungen.
Gariko Korotoumou fürchtet nun, dass die EU ihr abermals einen Strich durch die Rechnung macht. Die Europäer verlangen nämlich von der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (Ecowas), ein sogenanntes Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPA) zu unterzeichnen. Bisher haben in Westafrika lediglich Ghana und die Elfenbeinküste sogenannten Interim-EPAs zugestimmt, die jedoch noch nicht ratifiziert sind. Ein EPA mit der gesamten Ecowas-Region ist wegen der überzogenen Forderungen der EU, des starken zivilgesellschaftlichen Widerstands und der Uneinigkeit innerhalb von Ecowas gescheitert.
Sollte sich die EU dennoch durchsetzen, würden einige der ärmsten Länder der Erde gezwungen, 80 Prozent ihrer Zölle auf Einfuhren aus der EU zu streichen und die Zölle für die übrigen 20 Prozent auf dem gegenwärtigen Niveau einzufrieren. Für Milchpulver beispielsweise dürfte Burkina Faso den aktuellen Zoll von 5 Prozent des Warenwerts im besten Fall beibehalten, womit das Land in Phasen niedriger Weltmarktpreise den Importen aus der EU schutzlos ausgeliefert wäre. Dass dieser Zollsatz nicht ausreicht, zeigte sich zuletzt 2009, als die EU vorübergehend Exportsubventionen wieder einführte und die Ausfuhren auch nach Burkina Faso um mehr als ein Fünftel steigerte.
Selbst wenn die EU direkte Exportsubventionen ganz abschaffen würde – wie es die deutsche Agrarministerin Aigner neuerdings verlangt –, wäre die Dumpingpolitik noch nicht beendet. Dazu müsste man auch die Subventionen für Agrargüter abschaffen, die in den Export gelangen – sprich große Teile der mehr als 50 Milliarden Euro Direktzahlungen, mit denen die skandalös niedrigen Erzeugerpreise für die europäischen Landwirte aufgebessert werden sollen. Denn diese Gelder subventionieren vor allem die Rohstoffpreise für die Lebensmittelindustrie und verbilligen damit auch die Exporte der EU. Dass die Kommission die Zahlungen an striktere Ökostandards und Arbeitsplätze koppeln will, ist zwar zu begrüßen. Das Dumpingproblem werden solche Vorschläge aber nicht lösen.
In den westafrikanischen Nachbarländern Burkina Fasos entfalten die EPAs derweil schon ihre fatale Wirkung. Zum Beispiel in Ghana, wo jahrelange Billigimporte von minderwertigen Geflügelteilen nicht nur aus der EU inzwischen alle Schlachthäuser in den Ruin getrieben und auch viele Kleinbauern vom Markt verdrängt haben.
Zu stoppen wären die Importe nur durch Einfuhrquoten oder deutlich höhere Zölle. Letztere wären im Rahmen der Welthandelsorganisation durchaus erlaubt, nicht jedoch in dem Interims-EPA, dem Ghana Ende 2007 unter großem Druck der EU zugestimmt hat. Obgleich das Abkommen noch nicht ratifiziert ist, hat die ghanaische Regierung die wiederholte Forderung des Geflügelverbands nach Zollanhebung mit Verweis auf das künftige EPA abgelehnt. Ähnlich erging es den Schweinemästern in der Elfenbeinküste, denen die Regierung unter Berufung auf das EPA einen besseren Marktschutz gegenüber der EU verweigert.
Die Dumping- und Freihandelspolitik der EU ist nicht nur moralisch, sondern auch völkerrechtlich problematisch: So brachte der UN-Ausschuss für Wirtschaftliche, Soziale und Kulturelle Rechte im Mai 2011 gegenüber der Bundesrepublik Deutschland seine „tiefe Besorgnis“ über die Auswirkungen der Landwirtschafts- und Handelspolitik der EU zum Ausdruck. Diese fördere den Export subventionierter Landwirtschaftsprodukte in Entwicklungsländer und gefährde dort das Menschenrecht auf Nahrung.
Dass diese Politik mittelfristig ganze Volkswirtschaften schädigt, zeigte sich erneut Mitte letzten Jahres, als die Weltmarktpreise für einige Agrarrohstoffe neue Rekordwerte erreichten. Schätzungen der Welternährungsorganisation FAO zufolge mussten Entwicklungsländer für Nahrungsmittelimporte 2011 insgesamt 486 Milliarden US-Dollar ausgeben: ein Viertel mehr als im Vorjahr.
Die EU-Agrarpolitik ist immer noch ein Skandal
Auf bilaterale Freihandelsabkommen drängt die EU nicht nur gegenüber den 78 AKP-Staaten (Afrika, Karibik, Pazifik). Zuletzt geeinigt hat sie sich mit Südkorea, Kolumbien, Peru und Mittelamerika, die Verhandlungen mit Singapur, Indien und den südamerikanischen Mercosur-Staaten laufen noch. Die Bestimmungen vieler Abkommen gehen über die EPAs noch hinaus. Nicht nur für 80, sondern für über 90 Prozent der Produkte sollen etwa Südkorea und Indien die Zölle gegenüber der EU komplett abschaffen. Auch dort fürchten Geflügel- und Milchbauern um ihre Existenz, wenn sie mit teilweise subventionierten Exporten aus der EU konkurrieren müssen. Die meisten Freihandelsabkommen verlangen zudem nicht nur die Liberalisierung des Güterhandels, sondern erfassen nahezu alle wirtschaftlichen Beziehungen zu der EU.
Wie forsch die Kommission die Marktöffnung in Entwicklungsländern vorantreiben will, machte sie in ihrer Strategie Handel, Wachstum und Weltgeschehen vom November 2010 deutlich: „Mein Ziel ist, sicherzustellen, dass die europäische Wirtschaft einen fairen Deal erhält und unsere Rechte geachtet werden, so dass wir alle von den Vorteilen des Handels profitieren können“, erklärte EU-Handelskommissar Karel De Gucht bei der Veröffentlichung. Zollabbau bleibt demnach ein wichtiges Anliegen. Um im Sinne ihres Strategiepapiers Europe 2020 ein „intelligentes Wachstum“ zu erzielen, nimmt die Kommission aber ambitioniertere Ziele ins Visier.
So will die EU im Ausland „mit allen verfügbaren Mitteln auf eine stärkere Offenheit gegenüber unseren Dienstleistern drängen“. In den Bereichen Verkehr, Medizinprodukte, Arzneimittel und Ökotechnik will sie „weiterhin auf eine stärkere Öffnung der Beschaffungsmärkte im Ausland drängen und insbesondere gegen diskriminierende Praktiken vorgehen“. Zu den Prioritäten der Kommission gehört ferner die Sicherung eines „nachhaltigen und unverzerrten Angebots von Rohstoffen und Energie“, wozu sie Handelsregeln „bis zum Maximum“ ausnutzen und weiterentwickeln will. Und im Bereich geistige Eigentumsrechte will sie „die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen und Rechteinhaber in der Wissenswirtschaft“ sichern und verbessern und über Freihandelsabkommen im Ausland ein „identisches Schutzniveau“ wie innerhalb der EU erreichen.
Dieser Forderungskatalog hat für die Landwirtschaft und die Ernährungssicherheit weitreichende Folgen. Bedroht ist in einigen Ländern zum Beispiel der Zugang von Bauerngemeinschaften zum überlebenswichtigen Saatgut. So zwingt ein im April 2011 mit der EU unterzeichnetes Freihandelsabkommen Kolumbien und Peru, das Sortenschutzabkommen der Union for the Protection of Organic Varieties (Upov) in seiner schärfsten Version von 1991 umzusetzen. Die beiden Andenländer müssten also Gesetze erlassen, die den Austausch und Weiterverkauf kommerziellen Saatguts während der zwanzigjährigen Geltungsdauer eines Patents verbieten und auch die Wiederaussaat nur in Ausnahmefällen und gegen Zahlung von Lizenzgebühren erlauben.
Nachbau, Tausch und Weiterverkauf von Saatgut sind in den Anden bisher gängige Praxis unter Kleinbauern. Wenn dies verboten wird, steigen unweigerlich die Produktionskosten, was für die Einkommen und letztendlich für das Recht auf Nahrung der Bauernfamilien eine große Bedrohung darstellt. Zu den potenziellen Nutznießern gehören multinationale Saatgutkonzerne wie Monsanto und Syngenta, aber auch die deutsche Bayer CropScience, die in Kolumbien Saatgut herstellt und vertreibt.
Europäische Supermärkte in Indien
Neue Profite locken auch bei den Dienstleistungen, nicht zuletzt in Indien, wo die EU europäischen Supermarktketten den Marktzugang erleichtern will. Mit 35,6 Millionen Beschäftigten ist der Einzelhandel in Indien gleich nach der Landwirtschaft der zweitwichtigste Arbeitgeber. Protest kommt vor allem von Vertretern der rund 12 Millionen Kleinläden sowie der 3 bis 4 Millionen Straßenhändler. Eine Studie des Centre for Policy Alternatives schätzt, dass rund 8 Millionen Arbeitsplätze zerstört würden, wenn Supermarktketten 20 Prozent des indischen Marktes übernehmen sollten.
Das wäre auch für die Kleinbauern gefährlich, die über die traditionellen Großhandelsmärkte indirekt die kleinen Läden und Straßenhändler beliefern. Aufgrund der hohen Produkt- und Effizienzstandards ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Kleinbauern Zugang zu den Lieferketten europäischer Supermärkte finden würden.
Profitieren würden dagegen europäische Supermarktketten wie Tesco, Carrefour und die deutsche Metro-Gruppe, die in Indien im Großhandel schon seit einigen Jahren aktiv ist und sich dort auch massiven Protesten der Kleinhändler ausgesetzt sieht. Gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sprach Metro unumwunden von einem „noch aggressiveren Auftritt mit Investitionen in China, Indien und Indonesien“.
Laut Vertrag von Lissabon muss die EU sicherstellen, dass ihre Handelspolitik nicht den Millenniumszielen der Vereinten Nationen – zum Beispiel den Hunger zu reduzieren – und den Menschenrechten zuwiderläuft. Die Handelsstrategie der Kommission zeigt aber, dass es ihr fast ausschließlich um die Rechte europäischer Unternehmen geht. Eines der wenigen Instrumente, mit denen sie bislang die Menschenrechte in Entwicklungsländern fördert, ist das Allgemeine Präferenzsystem (APS), das die Zölle für Einfuhren aus diesen Staaten senkt. Sollten deren Regierungen Menschenrechte schwerwiegend verletzen, kann die EU diese Zollerleichterungen rückgängig machen.
Die Reformpläne deuten allerdings darauf hin, dass auch das APS künftig zur Durchsetzung europäischer Wirtschaftsinteressen genutzt werden soll. Wenn Regierungen von Entwicklungsländern europäischen Unternehmen systematisch den Zugang zu Rohstoffen verweigern, gälte dies dem Kommissionsentwurf zufolge als „unfaire Handelspraxis“, die zu einem Ausschluss aus dem APS führen kann. Für diese Änderung hatte sich die deutsche Bundesregierung besonders eingesetzt. Im schlimmsten Fall könnte sie dazu führen, dass ein Menschenrechtsinstrument missbraucht wird, um das Recht lokaler Gemeinschaften auf ihre Ressourcen zu verletzen.
Olivier De Schutter, UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, hat der EU kürzlich nahegelegt, die Folgen ihrer Handelsabkommen für die Menschenrechte systematisch zu untersuchen. Vor Ratifizierung der Verträge müsse sichergestellt sein, dass diese den Spielraum der Partnerländer zum Schutz von Menschenrechten nicht einschränken. Und wenn erst bei der späteren Umsetzung menschenrechtliche Probleme entstünden, müssten die entsprechenden Bestimmungen revidiert werden. Das Europäische Parlament hat die Kommission schon im November 2010 zu menschenrechtlichen Folgeabschätzungen aufgefordert, bislang jedoch ohne Erfolg. Das Europäische Parlament, das laut Lissabon-Vertrag jedem Freihandelsabkommen zustimmen muss, sollte seiner Rolle endlich gerecht werden. Eine Ratifizierung der Freihandelsabkommen mit den AKP-Staaten, mit Kolumbien, Peru und Indien in der jetzigen Form wäre unverantwortlich.
Armin Paasch ist Referent für Welthandel und Ernährung beim katholischen Hilfswerk Misereor.
© Le Monde diplomatique, Berlin