Das „deutsche Problem“
Die große Frage, warum der Faschismus ausgerechnet in Deutschland eine so mörderische Verrohung bewirken konnte, beantworteten 1945 viele Gelehrte, Politiker und Journalisten mit dem „deutschen Sonderweg“. Wir drucken Auszüge einer Stellungnahme von Hannah Arendt aus dem Winter 1945.
BEIM „deutschen Problem“, von welchem heutzutage die Rede ist, handelt es sich um eine Ausgrabung aus der Vergangenheit, und wenn dieses Fundstück jetzt einfach als das Problem germanischer Aggression präsentiert wird, dann geschieht dies wegen der sanften Hoffnungen, die man sich auf eine Restauration des Status quo in Europa macht. Angesichts des Bürgerkriegs, der den Kontinent überzieht, war es deshalb anscheinend notwendig, zuerst einmal die Bedeutung des Krieges im Sinne des 19. Jahrhunderts als einen rein nationalen Konflikt zu „restaurieren“, in welchem eher Länder als Bewegungen und eher Völker als Regierungen Niederlagen erleiden und Siege erringen.
Folglich liest sich die Literatur über das „deutsche Problem“ größtenteils wie eine revidierte Ausgabe der Propaganda aus dem letzten Krieg. […] Im Ersten Weltkrieg, der seinem Wesen nach kein ideologischer Krieg war, hatte man die Strategien der politischen Kriegführung noch nicht entdeckt, und die Propagandisten, die das Nationalgefühl des Volkes weckten oder ihm zum Ausdruck verhalfen, waren kaum etwas anderes als Moral-Erbauer. Wenn man nach der ziemlich allgemeinen Verachtung urteilt, die ihnen von den Fronttruppen entgegengebracht wurde, versagten sie vermutlich sogar bei dieser Aufgabe: doch ansonsten waren sie sicherlich ganz bedeutungslos. In der Politik hatten sie nichts zu sagen […].
[…] Das Gerede vom „ewig gleichen Deutschland“ und dessen ewigen Verbrechen dient nur dazu, den Schleier der Skepsis über Nazideutschland und dessen gegenwärtige Verbrechen zu breiten. Als 1939 – um nur ein Beispiel zu nennen – die französische Regierung die Parolen des Ersten Weltkriegs aus dem Arsenal hervorholte und das Schreckgespenst vom „Nationalcharakter“ Deutschlands verbreitete, bestand die einzige sichtbare Wirkung darin, dass der Terror der Nazis nicht für voll genommen wurde. So sah das überall in Europa aus.
Doch während Propaganda viel von ihrer Anregungskraft eingebüßt hat, hat sie eine neue politische Funktion erhalten. Sie ist zu einer Form politischer Kriegführung geworden und dient dazu, die öffentliche Meinung auf bestimmte politische Schritte vorzubereiten. Wird dann das „deutsche Problem“ herausgestellt, indem man die Vorstellung verbreitet, dass der wirkliche Grund des internationalen Konflikts bei den Gräueltaten der Deutschen (oder der Japaner) zu suchen sei, dann hat dies den Effekt, die eigentlichen politischen Fragen zu verschleiern. Indem man den Faschismus mit dem Nationalcharakter und der Geschichte Deutschlands identifiziert, wird den Menschen weisgemacht, die Zerschlagung Deutschlands sei ein Synonym für die Ausrottung des Faschismus. Auf diese Weise wird es möglich, die Augen zu verschließen vor der europäischen Krise, die noch keinesfalls überwunden ist und es den Deutschen erlaubt hat, den Kontinent zu erobern (mit der Hilfe von Quislingen und Fünften Kolonnen). So können alle Versuche, Hitler mit der deutschen Geschichte zu identifizieren, nur dazu führen, dass dem Hitlerismus unnötigerweise nationale Respektabilität verliehen und ihm bescheinigt wird, dass er durch eine nationale Tradition sanktioniert sei.
Ob man Hitler mit Napoleon vergleicht, wie das die englische Propaganda manchmal getan hat, oder mit Bismarck, man entlastet in beiden Fällen Hitler und geht mit der historischen Reputation Napoleons oder Bismarcks großzügig um. Napoleon lebt in der Erinnerung Europas letzten Endes immer noch fort als der Führer von Armeen, die von einer wie auch immer verzerrten Vorstellung von der französischen Revolution beseelt waren; Bismarck war weder besser noch schlechter als die meisten nationalen Staatsmänner Europas, die das Spiel der Machtpolitik im Interesse der Nation betrieben, wobei ihre Ziele eindeutig definiert und klar begrenzt waren. Obwohl Bismarck versuchte, an einigen Stellen die deutschen Grenzen auszudehnen, dachte er nicht im Traum daran, irgendeine der rivalisierenden Nationen zu vernichten. Widerwillig stimmte er aufgrund von Moltkes „strategischen Gründen“ der Eingliederung Lothringens in das Reich zu; aber er wollte innerhalb der deutschen Grenzen keine fremden Teilstücke haben und besaß nicht die geringste Ambition, fremde Völker als unterworfene Rassen zu beherrschen.
Was für die politische Geschichte Deutschlands gilt, trifft sogar in weit größerem Maße auf die geistigen Wurzeln zu, die der Nazismus haben soll. Der Nazismus verdankt sich keinem Teil der abendländischen Tradition, ganz gleich, ob es sich um den deutschen, katholischen, protestantischen, christlichen, griechischen oder römischen Anteil an dieser Tradition handelt. Es ist unerheblich, ob wir Thomas von Aquin, Machiavelli, Luther, Kant, Hegel oder Nietzsche mögen – die Liste kann, wie schon ein kursorischer Blick in die Literatur zum „deutschen Problem“ zeigt, endlos verlängert werden –, sie tragen nicht die geringste Verantwortung für das, was in den Vernichtungslagern geschieht. Ideologisch gesehen beginnt der Nazismus ohne jegliche Traditionsgrundlage, und man täte besser daran, die Gefahr dieser radikalen Negation jeglicher Tradition zu erkennen, die das Hauptmerkmal des Nazismus von Anfang an war (im Unterschied zu den Anfangsstadien etwa des italienischen Faschismus). Schließlich waren die Nazis selbst die Ersten, die um ihre totale Leere herum eine Nebelwand von gelehrten Interpretationen hochzogen. Die meisten Philosophen, die gegenwärtig von den übereifrigen Experten des „deutschen Problems“ verteufelt werden, sind schon lange von den Nazis für sich reklamiert worden – aber nicht weil den Nazis an Respektabilität gelegen war, sondern einfach deshalb, weil sie begriffen, dass es kein besseres Versteck als den großen Spielplatz der Geschichte und keinen besseren Leibwächter als die Kinder dieses Spielplatzes gibt, will heißen die „Experten“, die man so leicht für seine Dienste gewinnen und so leicht irreführen kann.
[…] Es stimmt, dass die Nazis gelegentlich die Sprache des Militarismus gesprochen haben, wie gelegentlich eben auch die Sprache des Nationalismus; doch sie haben sich der Sprachen aller existierender Ismen bedient – Sozialismus und Kommunismus eingeschlossen. Das hat sie nicht davon abgehalten, Sozialisten, Kommunisten, Nationalisten und Militaristen – allesamt den Nazis gefährliche Bettgenossen – zu liquidieren. Nur die Experten haben mit ihrer Vorliebe für das gesprochene oder geschriebene Wort und ihrer Begriffsstutzigkeit in politischen Dingen diese Äußerungen der Nazis für bare Münze genommen und sie als Ausfluss bestimmter deutscher oder europäischer Traditionen interpretiert. Dabei stellt im Gegenteil gerade der Nazismus den Zusammenbruch aller deutschen und europäischen Traditionen dar, der guten wie der schlechten.
II.
[…] Es stimmt, dass die Verhältnisse in Deutschland den Bruch mit allen Traditionen leichter zuließen als irgendwo anders. Dies hängt mit der verspäteten Entwicklung der Deutschen zu einer Nation zusammen, mit ihrer unglücklichen politischen Geschichte und damit, dass ihnen jede Art demokratischer Erfahrung fehlt. Noch ausschlaggebender ist die Tatsache, dass die Nachkriegssituation mit Inflation und Arbeitslosigkeit – ohne welche das Fronterlebnis mit seiner zerstörerischen Macht vielleicht ein vorübergehendes Phänomen geblieben wäre – in Deutschland mehr Menschen zusetzte und diese auch tiefer in Mitleidenschaft zog als anderswo.
Aber selbst wenn der Bruch mit den europäischen Traditionen und Wertvorstellungen in Deutschland leichter möglich war, so gilt nach wie vor, dass der Bruch erst vollzogen werden musste; also war es nicht irgendeine deutsche Tradition als solche, die den Nazismus herbeigeführt hat, sondern die Verletzung aller Traditionen. […]
Das wirkliche Problem liegt nicht im deutschen Nationalcharakter, sondern eher in der Desintegration dieses Charakters, oder zumindest in der Tatsache, dass dieser in der deutschen Politik keinerlei Rolle mehr spielt. Er gehört genauso der Vergangenheit an wie der deutsche Militarismus und Nationalismus. Es wird nicht möglich sein, ihn dadurch wiederzubeleben, dass man Sinnsprüche aus alten Büchern abschreibt oder sogar zu extremen politischen Maßnahmen greift. Aber ein noch größeres Problem besteht darin, dass der Mensch, der „den Deutschen“ ersetzt hat – namentlich der Typus, der dann, wenn er die Gefahr der totalen Zerstörung wittert, beschließt, am Vernichtungswerk teilzuhaben –, nicht bloß in Deutschland vorkommt. Das Nichts, dem der Nazismus entsprang, könnte man in weniger mystischen Begriffen als das Vakuum definieren, das vom fast gleichzeitigen Zusammenbruch der sozialen und politischen Strukturen Europas herrührte. Die Restauration wird von den europäischen Widerstandsbewegungen genau deshalb so heftig abgelehnt, weil sie wissen, dass damit wieder dasselbe Vakuum geschaffen würde, ein Vakuum, vor dem sie tödliche Angst haben, selbst wenn sie mittlerweile die Erfahrung gemacht haben, dass es sich, verglichen mit dem Faschismus, dabei um das „kleinere Übel“ handelt. Die ungeheure psychologische Anziehungskraft, die der Nazismus ausübte, rührte weniger von seinen falschen Versprechungen her als von der unverhohlenen Anerkennung dieses Vakuums. Seine gewaltigen Lügen passten in das Vakuum; diese Lügen waren psychologisch wirkungsvoll, weil sie bestimmten grundlegenden Erfahrungen und mehr noch bestimmten elementaren Sehnsüchten entsprachen. Man kann sagen, dass der Faschismus der alten Kunst zu lügen gewissermaßen eine neue Variante hinzugefügt hat – die teuflischste Variante, die man sich denken kann – nämlich: das Wahrlügen.
Die Wahrheit war, dass das Klassensystem der europäischen Gesellschaft nicht mehr funktionieren konnte: es ließ sich einfach nicht mehr aufrechterhalten, weder in seiner feudalen Form im Osten, noch in seiner bourgeoisen Form im Westen. Seine immanente Ungerechtigkeit wurde von Tag zu Tag offenkundiger, vor allem aber entzog es ständig Millionen und Abermillionen von einzelnen Menschen (durch Arbeitslosigkeit und andere Ursachen) überhaupt jede Klassenzugehörigkeit. In Wahrheit repräsentierte der Nationalstaat, der einst das Symbol der Volkssouveränität war, das Volk nicht mehr, und er war nicht mehr in der Lage, die äußere oder die innere Sicherheit zu gewährleisten. Ob Europa für diese politische Organisationsform zu klein geworden war oder die europäischen Völker ihren national verfassten Staaten entwachsen waren, die Wahrheit war: sie verhielten sich nicht mehr wie Nationen und konnten durch Appelle an das Nationalgefühl nicht mehr aufgerüttelt werden. Die meisten europäischen Völker waren nicht bereit, einen nationalen Krieg zu führen – nicht einmal um der eigenen Unabhängigkeit willen.
Auf diese gesellschaftliche Wahrheit vom Zusammenbruch der europäischen Klassengesellschaft antworteten die Nazis mit der Lüge von der Volksgemeinschaft, welche auf der Mittäterschaft bei Verbrechen basiert und von einer Gangsterbürokratie beherrscht wird. Die Deklassierten konnten sich mit dieser Antwort anfreunden. Und als Antwort auf die Wahrheit vom Niedergang des Nationalstaates kam die berühmte Lüge von der Neuordnung Europas, die die Völker zu Rassen erniedrigte und deren Ausrottung vorbereitete. Für ihre Leichtgläubigkeit haben die europäischen Völker, die in so vielen Fällen die Nazis in ihr Land hereinließen, weil die Nazilügen auf gewisse fundamentale Wahrheiten anspielten, einen ungeheuren Preis entrichtet. Doch sie haben zumindest eine wichtige Lektion gelernt: dass nämlich keine der alten Kräfte, die den Mahlstrom des Vakuums erzeugt hatten, so schrecklich ist wie die neue Kraft, die diesem Mahlstrom entspringt und deren Ziel es ist, die Menschen dem Gesetz des Mahlstroms gemäß zu organisieren – und das heißt allein Vernichtung.
HANNAH ARENDT
© Rotbuch Verlag, Hamburg
Fußnote: Dieser Text erschien erstmals 1945 in der Partisan Review („Approaches to the German Problem“) und auf Deutsch zuerst in der Übersetzung von Eike Geisel in: Hannah Arendt, „Zur Zeit. Politische Essays“, hg. von Marie Luise Knott, Berlin (Rotbuch Verlag) 1986.