15.04.2005

Auch der Heimat fremd geworden

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Auch der Heimat fremd geworden

Von JEAN-JACQUES VAROUJAN 

MAN muss die Dinge mit anderen Augen sehen, empfiehlt Sophokles. Aber wie sollen wir das angesichts bestimmter Szenen machen? Ein paar Fotos – und schon überwältigt uns der Schmerz. Wenn ich mich darauf sehe, ein Kind von sieben oder acht Jahren vielleicht, verzweifle ich. Nie hätte ich gewollt, dass er stirbt, verschwindet, sich in Nichts auflöst, dieser kleine Junge in kurzen Hosen, der ich war. Nie werde ich akzeptieren können, dass der kleine Hund, der dort zu Füßen meiner Großmutter sitzt, hat sehen müssen, was er sah, ohne sich wehren und den Mördern seiner Herrin hinterherbellen zu können.

Niemals, sagt sich der Sohn des Exilanten, werde ich sehen, was ich nicht gesehen habe, was man mir genommen hat, was ich nur vom Hörensagen, vom Erzählen, vom Erinnern, vom Beweinen und vom Besingen kenne.

Wo ist das Vergehen? Wo der Grund des Übels? Wie jedes Jahr, wenn am 24. April die Menge demonstriert, hallt es aus den Straßen, Bäumen und Gräbern: Sie sind gestorben, damit wir leben! Und der Fotograf fügt hinzu: Damit wir nicht vergessen.

Aber könnten wir vergessen? Wie sollten wir Ereignisse vergessen, die ein ganzes Volk zwangen, seine Heimat zu verlassen? Und immer dieses Nicht-verstehen-Können, diese quälende Frage: Warum ich? Wo habe ich gefehlt? Was hätte ich nicht tun dürfen, was hätte ich tun müssen? Schweigen, mich verstellen, mich verleugnen? Und wenn die Genozide, die Massenexekutionen, die Verbannungen und die Massaker von 1915 in Ostanatolien ihre Ursachen in der unsäglichen Schönheit unserer so anders klingenden Sprache hätten, in der unantastbaren Schönheit unseres Landes, wo das Lächeln und das Lachen, das Tanzen, das Singen und das Beten seit je verwurzelt sind? Meine Sehnsucht nach Freiheit, sagt sich der Exilant, und dieser Wunsch, den eigenen Glauben zu leben, haben die Barbaren zu immer schlimmeren Taten getrieben, Tag für Tag, bis zur Ausrottung und Zerstörung all dessen, was nicht tadschikisch, rot oder arisch war, all dessen, was Zeugnis hätte ablegen können.

Nachdem sie die überwiegende Mehrheit der „Ungläubigen“ ermordet oder in die Flucht getrieben hatten, haben die Besatzer – ob Türken, Deutsche oder Chinesen – den Überlebenden ihr natürliches Glück genommen, das Glück, Armenier, Juden, Tutsi oder Tibeter zu sein. Dieses Glück, diese unbefangene Freude, wird nie wieder vollständig zurückkommen, weil sie in dem neuen Land, wo sie jetzt sind, jemand anders geworden sind. Zweite Heimat, sagt man, zweites Vaterland, als hätte man zwei Väter.

Wo immer er ist, was er auch tut, was immer er mit eigenen Augen sieht, der Exilant blickt zurück – auf das vergangene Leben, auf die Zeit, bevor seine Welt zusammenbrach. Er zehrt von den Bildern, die er nicht vergessen kann, von den Fotos der Seinen, auch wenn diese Bilder, diese Fotos nur in seinem Kopf, seinem schlummernden Bewusstsein existieren.

„Kann man sein Vaterland an den Schuhsohlen mitnehmen?“, rief der französische Revolutionsführer Danton aus, als Freunde ihm vorschlugen, freiwillig ins Exil zu gehen, um dem Tod zu entrinnen.

Ja, mein Herr, Bürger, Genosse – man nimmt etwas mit. Und was? Eine Wirklichkeit, die sich im Lauf der Zeit in Schein verwandelt. In ein Trugbild, einen Wahn. Und dann fängt man an zu erzählen, zu zeigen, was von dem Haus, der Kirche, der Straße übrig geblieben ist, um einem noch schlimmeren Tod zu entrinnen.

Sollen wir zu den Gebeinen unserer Väter sagen: Steht auf und folgt uns in ein fremdes Land?

Mehrere Römer sind dereinst lieber in den Tod als ins Exil gegangen? Mehrere Geächtete haben wie tot in der Verbannung gelebt. Mein Großvater Garabed hat nach seiner Ankunft in Frankreich nie wieder gesprochen, und fast nie habe ich ihn, genauer betrachtet, lächeln sehen. Immer in sich versunken. Immer gebeugt. Sein inneres Leitmotiv tagein, tagaus: Was habe ich hier zu suchen? Hier, wo ich in der ersten Zeit beim Lebensmittelhändler von Alforville „puut put put put!“ machen musste, wenn ich ein Ei kaufen wollte.

Was bleibt (von unseren Lieben), wenn man fern der Heimat lebt, fern von den Seinen, die dort gestorben sind, dem alten Dorf, den Bergen, den Hühnern und Kaninchen? Das Gedächtnis. Auch wenn es nicht immer unbedingt das eigene ist. Nach einer Weile, das muss man wohl zugeben, besteht dieses Gedächtnis aus allen möglichen Berichten und Erzählungen, aus Geschichten, die man gehört, geträumt, erfunden, geschönt oder verdüstert hat, aus Legenden, vielleicht auch aus Hirngespinsten. Was bleibt, sind die Bilder. Ein paar Fotos, die zufällig gerettet worden sind, wieder gefunden in einem alten Koffer, der immer verschlossen in der Ecke gestanden hatte und eigentlich erst bei der Rückkehr in die Heimat wieder geöffnet werden sollte. Vor allem aber solche, die später aufgenommen wurden, im Exil, Fotos von Entwurzelten, manchmal Unbekannten, auch wenn auf der Rückseite ein Name steht – ein Name, der einem nichts sagt. Ein stummer Name.

Es bleibt das Auge, das weiter sucht, oft ohne sich an einer Wirklichkeit, die nicht die eigene ist, festmachen zu können – und das Lächeln, das man manchmal erkennt, wenn man hinsieht? Es gibt eine Trauer, die man nur lächelnd überlebt. Man weiß nicht mehr so genau – der Blick trübt sich beim Hinsehen –, man weiß nicht mehr so genau, was Sehen eigentlich bedeutet. Es ist nicht immer der Onkel, die Großmutter, ein Freund aus Kindertagen … Ihrer Identität beraubt, sind sie weder Mann noch Frau – also was dann? Vielleicht ein Wesen, das sich nicht ins Jenseits befördern lässt, auch nicht mit dem Krummsäbel?

Was bleibt (von unseren Lieben)? Nach dem Verlust jeglicher Zugehörigkeit zu einem anerkannten, eingetragenen, Identität stiftenden Gemeinwesen nähert man sich bestenfalls dem Reinzustand dessen, was Wesenhaftes in uns bleibt, bar aller Zierden, Zeichen und Merkmale, die uns unterscheidbar machen, so wie am ersten Tag, bevor wir etwas wussten, bevor wir den geltenden Regeln gehorchten, lernten, die Etiketten und Abstempelungen zu ertragen.

Aber die Jugend teilt diese Meinung nicht. Wenn der Mann im Exil seinen Kindern von dem „Heimatland“ erzählt, erwidert ihm der Sohn: „Was ist das, unser Heimatland?“ Und der Vater erstarrt, es verschlägt ihm den Atem. – „Wir sind hier doch nicht in Harput“, setzt seine Tochter nach. – „Sei still, oder du bekommst eine hinter die Ohren.“ – „Aber ich, ich bin Französin!“, protestiert eine kleine Armenierin in dem Film „Le Jardin de Khorkom“ von Isabelle Ouzounian.

Für den Mann im Exil ist das die schlimmste Strafe, der schlimmste Aufschrei seiner Enkelin – wie ein Splitter, der sich ihm ins Fleisch bohrt, ein Tod ohne Verbrechen, ohne dass einem jemand den Todesstoß versetzte. Und doch ist es ein anderes Leben, das sich ankündigt. Die Geburt zu einem neuen Leben.

Eine Geburt, während in einem gequälten Herzen einFunken (welcher?) erlischt.

Was bleibt von dem Menschen, der man ist, wenn man sich in einem Flüchtlingslager, einer Notunterkunft wiederfindet? Oder in einer Stadt, einem Viertel, einer Straße, wo man keine Menschenseele kennt und kaum selber mehr eine zu haben scheint? Wo niemand die gleiche Sprache spricht, in einem unbewohnten Haus vielleicht, unter einem anders blauen Himmel – wo einzig die Vögel, die nichts wissen von den Unterschieden zwischen den Menschen, ihr Lied singen, und, so glaubt man, Nachrichten aus der Heimat verkünden.

Welches ist dieses Anderswo, das er mit hohlen Blicken aus scheuen, dunklen, blinden Augen sucht? Ein anklagender Spiegel? Die Bittschrift eines Opfers? Was er sucht, ist nicht nur seine Vergangenheit, sind nicht nur die Alten, die Gesichter und Worte der Ahnen, es sind auch und vor allem die Kinder, die damals nicht mit ihm gingen, die an Ort und Stelle exekutiert oder von der Meute entführt wurden, bevor die Koffer gepackt waren, die nicht identifizierbaren Leichen, die das Meer mit den Wellen zurücktrug oder die von den reißenden Fluten des Euphrat fortgespült wurden.

Alle Exilanten der Welt haben die gleichen inneren Bilder, Spiegelungen eines Landes, das einst ihre Heimat war. Fern von seinem Land, aus sich selbst vertrieben, ist der Mensch ein anderer. Fast nichts. Welche Zukunft hat er? Manchmal, nicht selten, findet er Bequemlichkeit, eine gute Stellung, flüchtige Vergnügungen, Verliebtheiten, aber seine Zukunft bleibt das „Einst und Damals“, sein Reichtum das, was er verloren hat. Fremd in der Fremde, ist er auch der Heimat fremd geworden, wenn er denn als Tourist in sein Land zurückkehren darf. Und er empfindet sein ganzes Leben lang ein Schuldgefühl, das er sicher nicht verdient. Warum?, fragt er sich ohne Unterlass.

Die osmanischen Barbaren hassten die von ihnen unterworfenen Christen, weil diese ihnen durch ihr Schweigen, ihr heimliches Leben und auch durch ihr Lächeln ständig vor Augen führten, wer sie waren, Barbaren eben, und sie zwangen, ihr wahres Gesicht zu zeigen.

Ob Jude, Armenier, Grieche aus der Türkei oder Tibeter, keiner von ihnen kann auch nur einen Tag verbringen, ohne wenigstens flüchtig zu empfinden, wer er ist, ohne dass es ihm ins Auge springt, auch wenn er sich im Augenblick gar nicht ausdrücklich fragt, was es heißt, Armenier, Jude oder Tibeter zu sein. Als Heilmittel gegen die düstere Wirklichkeit reicht es ihm – und das ist Balsam für seine Seele –, sich jeden Tag, bis zu seinem Tode, in sein großes Buch zu vertiefen, wo es ihn noch gibt – auf den Fotos. Jeden Tag, um nicht zu sterben.

Es reicht ihm, sich an diesen oder jenen der Seinen zu erinnern, der mit einer Sprache, seiner Sprache, hingeschieden ist, die um ihn herum keiner verstand. Warum waren Tschechows letzte Worte: „Ich sterbe.“? Wie sterben Menschen im Exil, hätte Tolstoi sich fragen können.

In den Gesichtern der Kinder, der Alten, der Frauen, die wie Vergessene sind, steht nicht nur der Wunsch, zu leben; es ist ihnen auch abzulesen, dass sie selbst das Leben sind. Denn vielleicht ist das Leben dort. Nicht nur das heutige, nicht nur so, wie wir es führen, sondern so, wie wir etwas einfältig an jeder Straßenecke sagen: So ist das Leben! Vielleicht liegen darin die tieferen Wurzeln des Glaubens, ohne dass man genau wüsste, an wen oder an was.

Diese Ewigkeit, diese Universalität des Lebens im Exil sind überall zu erkennen, manchmal auch in erstarrten konkreten Bildern. Eine Straße in Aleppo, die Rue Baron, wo die schreckliche telegrafische Anordnung des osmanischen Innenministers Talaat Pascha zur Ausrottung eines ganzen Volkes eintraf. In Karabach, wenn man die Alten beerdigt und sich ein letztes Mal über sie beugt. Welches Wasser trinkt das junge Mädchen in Eriwan aus den zum Becher geformten Händen? Zu welcher Seite blicken sie, die umschlungenen Frauen an der Grenze, von diesseits gekommen, jenseits geboren?

Das Wesen, es wird immer bleiben, uns im Herzen des Mysteriums festhalten. Der Mensch, „wenig niedriger als Gott“, sagt David (Psalm 8,5). Sein Wesen, das vor allen Dingen war, ist sehr viel höher noch als Gott.

Der Exilant, er wird immer bleiben, er, der, zwischen Mensch und Gott, an beiden verzweifelnd, seinen Kreuzweg geht, der nicht von dieser Welt ist und auf dem beide ihn allein verlassen haben. Warum?

Alles, was er weiß, und alles, was er nicht weiß, kommt daher, dass er sich im Exil befindet. Das ist seine Lage, sie bestimmt ihn. Er zehrt allein von toten Leidenschaften.

deutsch von Grete Osterwald

Fotohinweis:

Jean-Jacques Varoujan (eigentlich: Jean-Jacques Ouzounian) starb am 2. April 2005 in Paris. Varoujan, 1927 als Kind von Armenien-Flüchtlingen in Marseille geboren, war Autor, Dramaturg und Essayist. Von ihm erschien u. a. „De quoi je? Tentative V“, Edipol 2002; „A plus“, L’Harmattan 2003.

Le Monde diplomatique vom 15.04.2005, von JEAN-JACQUES VAROUJAN