15.04.2005

Hausaufgaben für Kolonialisten

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Hausaufgaben für Kolonialisten

Die Geschichte der „französischen Präsenz auf anderen Kontinenten“ soll in den Schulen vor allem „in ihrer positiven Rolle“ dargestellt werden. So verlangt es ein neues französisches Gesetz. So werden die Franzosen zu Opfern des Kolonialismus.

Von CLAUDE LIAUZU *

DIE Nation dankt den Frauen und Männern, die an dem Werk beteiligt waren, das Frankreich in den früheren französischen Departements in Algerien, in Marokko, in Tunesien und in Indochina sowie in den Territorien, die vorher unter französischer Souveränität standen, vollbracht hat …“ (Gesetz vom 23. Februar 2005, Artikel 1).

Dieses vom französischen Parlament verabschiedete Gesetz verschweigt die dunklen Seiten der Kolonialisierung, die Misshandlungen und die Verbrechen, die an der Bevölkerung der kolonisierten Territorien begangen wurden. Damit werden Unterdrückung und Folter ignoriert. Kürzlich hat ein Botschafter bekannt, dass Frankreich für die Massaker verantwortlich war, die in Sétif (Algerien) am 8. Mai 1945 begangen wurden, an dem Tag, an dem Menschen in aller Welt den Sieg über den Nazifaschismus feierten.

Es geht hier nicht darum, mit den Franzosen in den Kolonien – insbesondere den algerischen „Pieds-noirs“ – ins Gericht zu gehen, auch wenn die Erinnerung an ihr durchaus reales Leiden sie zuweilen unempfindlich für die Schmerzen der anderen Opfer des Algerienkrieges macht. Viel dramatischer war das Schicksal der einheimischen „Harkis“, die in der Kolonialarmee gekämpft hatten und dann im Stich gelassen und dem Volkshass ausgeliefert wurden. Wenn ihnen die Flucht gelang, wurden sie auf entwürdigende Weise in reservatähnlichen Lagern „geparkt“.

Es ist weder anständig noch klug, die Emotionen der Betroffenen – im Namen des Antikolonialismus – fragwürdigen Politikern zu überlassen, die der extremen Rechten Stimmen abjagen wollen, oder Erinnerungsaktivisten, die versuchen, ihre Sicht der Dinge partout durchzusetzen, oder auch den vielen „Nostalgerikern“, die eine Revision der Geschichte betreiben. Es ist aber auch verlogen, sich von dem Gesetz aus dem Jahre 2001 inspirieren zu lassen, das die Sklaverei als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnete, und zugleich die Franzosen in den Kolonien zu Opfern zu erklären und jede Infragestellung der Kolonialzeit zu verbieten. Es ist skandalös, die im Sommer 1962, nach der Erlangung der Unabhängigkeit, in Algerien begangenen Gräuel mit den Verbrechen zu vergleichen, die unter der Vichy-Regierung an den Juden begangen wurden, wie einige Abgeordnete es während der Debatte getan haben.

Solche Entgleisungen spiegeln den Geist wider, der in der französischen Gesellschaft herrscht, die mit dem Ende des Kolonialreichs in eine tiefe Krise durchlaufen hat. Nachdem die Lehrpläne in den Schulen lange Zeit „das größte Frankreich“ verherrlicht hatten, wurden die fünf Jahrhunderte der Kolonialgeschichte bagatellisiert oder ganz unter den Tisch gekehrt. Erst seit dem Gesetz vom April 1999, das die Ansprüche der Kriegsveteranen befriedigen sollte, verwendet man endlich die Bezeichnung „Algerienkrieg“ anstelle von „Befriedung“, „Ereignisse“ oder „Bewahrung der Ordnung“ . Seitdem ist Schweigen unmöglich geworden. Die Akteure des Krieges, von denen sich viele jahrzehntelang zurückgehalten haben, verspüren einen immer stärkeren Drang zum Reden. Und auch die jungen Leute, deren Eltern unter dem Kolonialregime gelebt hatten, ehe sie nach Frankreich emigrierten, sind auf der Suche nach der Wahrheit. Die Politik, die die Kolonialkriege lange unterstützt hatte, reagierte auf dieses Verlangen mit Amnestien – vor allem für die Veteranen der Organisation Armée Secrète (OAS) – und Entschädigungsgesetzen, in erster Linie zugunsten der repatriierten „Pied-noirs“ aus Algerien. Außerdem wurden Gedenktage beschlossen und Gedenkstätten eingeweiht. Der Staatssekretär für die Repatriierten kündigte die Gründung einer Stiftung zur Erinnerung an den Algerienkrieg an, die Diskussionen veranstalten und Forschungsprojekte organisieren soll. Aber werden die Historiker eine unvoreingenommene Kolonialgeschichte schreiben können? Sie scheinen nicht sehr gefragt zu sein, denn bei der Vorbereitung des Gesetzes vom 23. Februar 2005 wurden sie von den Politikern nicht beteiligt.

Dabei steht in Artikel 4 dieses Gesetzes: „Die universitäre Forschung räumt der Geschichte der französischen Präsenz auf anderen Kontinenten, vor allem in Nordafrika einen gebührenden Raum ein. Die Lehrpläne in den Schulen stellen vor allem die positive Rolle der französischen Präsenz auf anderen Kontinenten, insbesondere in Nordafrika, dar und räumen der Geschichte und den Opfern der Kämpfer der französischen Armee in diesen Gebieten den wichtigen Platz ein, der ihnen zusteht […].“

Damit maßt sich dieses Gesetz an, eine schwierige Debatte einfach abzuschneiden. Es entscheidet über das Verhältnis von Gedenken und Geschichte, über die Beziehungen zwischen den Historikern und der Macht. Es legt eine Art kanonisches Geschichtsgedenken fest, das der Freiheit des Denkens, auf der die Laizität beruht, ebenso widerspricht wie den Regeln der wissenschaftlichen Forschung. Es stellt die seit der Dritten Republik mühsam erkämpften Kompromisse zwischen dem Staat und den Historikern in Frage, mit denen am Ende der verschiedenen Bürgerkriege seit 1789 ein Konsens gefunden werden sollte, um mit Hilfe einer gemeinsam erarbeiteten Geschichte die Gesellschaft zu integrieren.

Man stelle sich Schulklassen vor, in denen ausschließlich die „positive Rolle“ des französischen Wirkens gelehrt wird. Wie kann man übersehen, dass man damit denNachkommen der Kolonisierten jede Vergangenheit wegnehmen würde, was genau die „Wilden“ aus den „schwierigen Vierteln“ hervorbringen würde, vor denen viele Menschen Angst haben? Kann nicht jeder sehen, dass dieses nationalistische Gemeinschaftsgefühl nur ein Antigemeinschaftsgefühl erzeugen kann?

Allerdings müssen auch die Historiker ihre Hausaufgaben machen. Angesichts der „seltsamen Niederlage“ von 1940 fragte sich Marc Bloch in seinem gleichnamigen Buch, ob es in der Krise ausreiche, ein guter Handwerker zu sein. Soll man sich als Historiker einem solchen Gesetz gegenüber apologetisch verhalten, was man so gern als wissenschaftliche Objektivität ausgibt? Zeugt diese Haltung nicht eher von Feigheit in einer postkolonialen französischen Gesellschaft, in der so viele Spannungen herrschen und Geschichte so schwer wiegt? Die Geister, die die französische Gesellschaft umtreiben, verweisen auf die Vergangenheit. Man muss nur die Medien hören: „hochgefährliche Vororte“, „Untergang der Identität“, „Islamisierung Frankreichs“, „Krieg der Zivilisationen“, „Rassismus gegen Weiße“ usw. Diese Ängste, die Gefahren und die Dringlichkeit zwingen förmlich dazu, der Kolonialzeit und der Immigration breiten Raum zu geben. Sie verlangen eine Version der Geschichte, die die zentrale Gegebenheit unserer Zeit berücksichtigt: Alle westlichen Gesellschaften werden zunehmend von Pluralität durchdrungen sein. Die Jugend, gefangen im unvermeidlichen und widersprüchlichen Getriebe der Globalisierung, muss verstehen, wie und warum sie zusammenleben soll. Wenn das nicht geschieht, blühen Halbwahrheiten, Extremismus und Ideologie. Ein günstiges Terrain für die Intellektuellen, die sich für die moralische Aufrüstung des Westens gegen die „Kräfte des Bösen“ stark machen. Die Kritik an diesen Entgleisungen sollte uns aber nicht dazu verleiten, die Unzulänglichkeiten der antikolonialistischen Geschichte zu ignorieren. Kann der Historiker seine Arbeit auf eine Opferfixierung, eine vage Bußfertigkeit, die Erarbeitung einer „Heiligengeschichte“ des Proletariers, des Sklaven, des Eingeborenen, des Immigranten konzentrieren? Kann er ernsthaft die Immigration aus Algerien studieren und dabei vergessen, dass sie dem Schock und der Last von zwei Nationalismen unterworfen waren, dem französischen, aber auch dem algerischen? Kann er die Komplexität der Situation in der Kolonie und in der Republik karikieren und dabei vergessen, dass sich die Solidarität mit den Befreiungskämpfen auf den Internationalismus und das Dreyfus-Modell des engagierten Intellektuellen, auf republikanische Werte berief? Wie kann man schließlich die kritische Analyse des Nationalismus in Nordafrika ignorieren? Ein halbes Jahrhundert nach Erlangung der Unabhängigkeit, im Licht der stockenden Entwicklung, der Diktaturen, der Repressionen, der Unterdrückung der Frau usw. ist diese Analyse unerlässlich.

All diese Diskussionen müssen geführt werden. Um sie anzugehen, müsste man sich vom Scharfsinn Edward Saids inspirieren lassen, der es in seinem Kampf gegen den Imperialismus nicht versäumt hat, auf die Gefahren jeder geschlossenen Identität hinzuweisen. „All diese nationalistischen Appelle für den reinen, authentischen Islam, den Afrozentrismus, die Négritude oder das Arabertum“, so schreibt er in seinem Buch „Kultur und Imperialismus“, fanden ein mächtiges Echo: Man machte sich nicht bewusst, dass diese ethnische und spirituelle Substanz ihre siegreichen Anhänger teuer zu stehen kommen würde. […] Niemand ist heute nur dies oder nur das. Inder, Frau, Muslim, Amerikaner […].“

Im Moment ist die wichtigste Aufgabe die Abschaffung des Gesetzes vom 23. Februar 2005, eines Gesetzes, das den Weg zu einem gemeinsamen Gedenken aller Franzosen jeglicher Herkunft versperrt.

deutsch von Claudia Steinitz

* Professor an der Universität Denis Diderot (Paris-VII); Herausgeber von: „Colonisation. Droit d’inventaire“, Paris (Colin) 2004.

Le Monde diplomatique vom 15.04.2005, von CLAUDE LIAUZU