Liegen ist Macht
Vom falschen Gebrauch des Handtuchs von Bruno Preisendörfer
Wie schön das Leben sein kann, wenn man auf einem Deckchair liegt und der Deckchair steht auf einem Luxusliner, und der Luxusliner fährt einmal um die ganze Welt, und die Wellen sind so sanft, dass die Erdbeeren im Cocktailglas bedächtig hin und her schwimmen – aber doch stark genug, um mich spüren zu lassen, dass ich auf meinem Liegestuhl auf dem Deck auf einem Luxusliner auf einem Ozean herumschwimme.
Aber wieso mein Liegestuhl? Weil ich mein Handtuch draufgelegt habe. Wenn ich zum Pool gehe, den ich sogar auf dem Luxusliner mit anderen Passagieren teilen muss, breite ich für jedermensch sichtbar mein Handtuch über den Stuhl. Manchmal lege ich noch ein Buch drauf oder eine Zeitung. Wenn ich vom Pool zurückkomme, erwarte ich, dass mein Cocktailglas noch artig neben dem Stuhl steht, mit genauso viel Erdbeeren drin, wie vorher drin waren, und dass das Handtuch auf dem Stuhl liegt.
Ich wäre empört, statt des Handtuchs einen anderen Menschen auf meinem Liegestuhl vorzufinden, obwohl der Liegestuhl mir eigentlich gar nicht gehört, sondern dem Schiffseigner, und obwohl ich für diesen Liegestuhl nichts bezahlt habe, höchstens ganz allgemein, beim Buchen der Reise. Diesen einen besonderen Liegestuhl jedenfalls, auf den ich vorhin mein Handtuch gelegt habe, habe ich weder bezahlt noch gemietet. Aber ich bin empört, wenn sich ein anderer Passagier einfach auf meinen Deckchair legt. Auch dann, wenn das Cocktailglas unberührt geblieben und das Handtuch artig gefaltet ist. Wie kommt dieser fremde Mensch dazu, einfach mein Handtuch abzuräumen? Man kann doch von zivilisierten Menschen erwarten, dass sie fremde Handtücher auf Liegestühlen respektieren, selbst dann, wenn gerade kein anderer Liegestuhl frei ist?
„Der erste, welcher ein Stück Landes umzäunte, sich in den Sinn kommen ließ zu sagen: dieses ist mein, und einfältige Leute antraf, die es ihm glaubten, der war der wahre Stifter der bürgerlichen Gesellschaft.“ Aus der Traum. Ich erwache, vom alten Störenfried Rousseau geweckt, und finde mich auf meinem Balkon wieder, der nicht einmal meiner, sondern der des Hausbesitzers ist, und taste vergeblich nach dem geträumten Cocktailglas. Keine Erdbeere nirgends.
Ernüchtert frage ich mich, warum die Leute, wenn sie nicht gerade kleptoman oder kriminell sind, die Behauptung, „dieses ist mein“ in der Regel akzeptieren. Warum sie sich gefallen lassen, dass andere Leute Liegestühle oder Strandkörbe oder Kinosessel mit Beschlag belegen, indem sie Handtücher, Taschen oder Jacken verteilen. Warum eine symbolische Okkupation geduldet wird, die immerhin reale Folgen hat und ohnehin bestehende Knappheit weiter verschärft.
Zum Glück verfüge ich nicht nur über einen Balkon, der mir nicht, sondern auch über eine Bibliothek, die mir sehr wohl gehört. Ich würde es niemals dulden, dass jemand ein Buch herauszieht und einfach in die Tasche steckt. „Hör mal“, würde ich sagen, „das ist meins.“ Und würde erwarten, dass das akzeptiert wird. „Aber warum?“, frage ich immer noch, während ich in meiner Bibliothek nach einem Buch suche, in dem die Antwort stehen könnte. Aha, da ist es schon. Es heißt „Phänomene der Macht“ und wurde von dem 2002 verstorbenen Soziologen Heinrich Popitz verfasst. Und tatsächlich finde ich die Geschichte mit den Liegestühlen:
„Ein Schiff kreuzt von Hafen zu Hafen. Der einzige Luxus sind einige Liegestühle. Es gab etwa ein Drittel so viel wie Passagiere. In den ersten Tagen wechselten diese Liegestühle ständig ihre Besitzer. Sobald jemand aufstand, galt der Liegestuhl als frei. Belegsymbole wurden nicht anerkannt. Diese Übung setzte sich vollkommen durch und erwies sich als zweckmäßig. Ein Gebrauchsgut, das in begrenzter Zahl zur Verfügung stand, wurde nicht knapp. Nach der Ausfahrt aus einem Hafen, in dem wie üblich die Passagiere gewechselt hatten, brach diese Ordnung plötzlich zusammen. Die Neuankömmlinge hatten die Liegestühle an sich gebracht und erhoben einen dauerhaften Besitzanspruch.“
Wie gelingt ihnen das? „Einen Besitz“, schreibt Popitz, „auf dem ich nicht ständig sitzen kann, kann ich nicht bewahren ohne fremde Hilfe. Die Besitzenden haben sich gegenseitig unmittelbar etwas zu bieten: Stellvertretung, Schutz, Bestätigung.“
Die Verteidigung von Privilegien gegen die Benachteiligten setzt Kooperation unter den Privilegierten voraus. Sobald das erreicht ist, können die Okkupanten beginnen, die Stühle weiterzuvermieten. Von den Einnahmen wiederum können sie Wächter bezahlen, die nun an ihrer Stelle die Liegestühle bewachen. Was ursprünglich Beute war, hat sich in Besitz verwandelt. Die ursprüngliche Gemeinschaft der Passagiere, in der jeder einen Liegestuhl benutzen, aber keiner ihn behalten durfte, wurde zu einer Gesellschaft mit verschiedenen Klassen: Besitzer, Wächter, Besitzlose. Oberschicht, Mittelschicht, Unterschicht.
Solange die Wächter ihr Auskommen haben, werden sie die geringe, aber sichere Teilhabe an den Privilegien der Besitzenden einer riskanten Solidarität mit den Besitzlosen vorziehen. Solange die Mittelschicht – aber das mag ich jetzt nicht ausführen. Ich bin doch kein Sommerlochbolschewist.
Außerdem ist noch immer die Frage unbeantwortet, warum sich die Mehrheit den Besitz- und Machtzuwachs der Minderheit gefallen lässt. Weil es meistens bequemer und ungefährlicher ist, hinzunehmen und auszuhalten als zu rebellieren. Gegenwehr muss organisiert werden, Dulden kann jeder für sich allein. Wenn Widerwille zum Widerstand wird, steigert das dramatisch die Risiken: das Risiko, von den Stärkeren und besser Organisierten überwältigt zu werden; das Risiko, vergeblich auf die Solidarität der Schwächeren und schlechter Organisierten zu hoffen; und das Risiko, für andere die Kastanien aus dem Feuer zu holen.
Wenn ich nicht nur selbst kein Handtuch mehr auf einen Liegestuhl lege, sondern auch alle anderen Handtücher herabfege, wird das von den Nichtliegestuhlbesitzern wirklich unterstützt? Und wären sie bereit, mich gegen die Liegestuhlbesitzer zu verteidigen, wenn es, wie zu erwarten, Ärger gibt. Die Besitzenden wollen die Liegestühle und den Status quo. Die Nichtbesitzenden wollen ebenfalls die Liegestühle, aber nicht den Status quo. Doch was wollen sie stattdessen? Sollte es der Mehrheit gelingen, von der Minderheit die Liegestühle zurückzuerobern, hat sie damit noch nicht das Problem der Neuverteilung der Liegestühle gelöst.
Und das Problem der Neuverteilung von Machtlosigkeit auch nicht. Nicht nur, wer von was wie viel bekommt, muss geklärt werden, sondern auch, wer sich gegen was nicht wehren kann. Könnte sich jeder gegen jeden wehren, wäre Gesellschaft nicht möglich. Auf dem Popitz’schen Schiff käme es zum Liegestuhlkrieg aller gegen alle. Nur ist eine gerechte Verteilung von Machtlosigkeit viel schwerer zu organisieren als eine ungerechte Verteilung von Macht. Kooperation zwischen Privilegierten ist leichter zu managen als Solidarität unter Benachteiligten. „Die neue Gruppe“, so beschließt Popitz seine (leider nicht meine) Liegestuhlgeschichte, die „neue Gruppe besaß zunächst nichts als die augenblickliche De-facto-Verfügung über ein allgemeines Gebrauchsgut und stellte den Anspruch auf exklusive und dauerhafte Verfügungsgewalt: dieser scheinbar hauchdünne Vorsprung reichte zur Bildung einer überlegenen Organisationsfähigkeit aus.“
Ich stelle das Buch zurück in meine Bibliothek, die auch wirklich die meine ist, gehe hinaus auf den Balkon, der mir nicht gehört, und lege mich wieder auf den Deckchair. Leider kann ich nicht mehr einschlafen und von Erdbeeren, alkoholischen Hahnenschwänzen und Luxuslinern träumen. Verdammter Rousseau: „Wieviel Laster, wieviel Krieg, wieviel Mord, Elend und Greuel hätte einer nicht verhüten können, der die Pfähle ausgerissen, den Graben verschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ‚Glaubt diesem Betrüger nicht; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte euch allen, der Boden aber niemandem gehört.‘ “ Wehe dem, der jemals wieder ein Handtuch über einen Liegestuhl legt!
Bruno Preisendörfer ist Schriftsteller in Berlin und gibt www.fackelkopf.de heraus. Zuletzt erschienen: „Manneswehen“, Frankfurt/Main (Eichborn) 2009. © Le Monde diplomatique, Berlin