Niemandsland Afghanistan
Die Schwäche aller anderen ist Karsais einzige Stärke von Patrick Cockburn
Verglichen mit Bagdad ist Kabul ein ruhiger Ort. Überall trifft man auf Checkpoints, besetzt mit afghanischer Polizei in abgerissenen grauen Uniformen. Aber die Polizisten geben sich lässig, und die Kontrolle von Menschen und Autos fällt häufig nicht sehr gründlich aus. Nur vor dem fast militärisch befestigten Posten an der Ausfallstraße nach Süden machen die Leute, die Richtung Kandahar unterwegs sind, einen ängstlichen Eindruck. Viele kramen noch einmal nervös in ihren Taschen, sie wollen anscheinend sichergehen, dass sie nichts dabei haben, was auf Kontakte mit der Regierung oder einer ausländischen Hilfsorganisation hinweisen könnte. Südlich von Kabul kann das gefährlich werden: Dort machen Taliban-Trupps oft kurzen Prozess. Sie bestehen normalerweise aus sechs bis zehn Mann, die auf Motorrädern durchs Land brausen und an den Landstraßen mobile Checkpoints errichten. Sie überprüfen nicht nur die Papiere, sondern nehmen den Reisenden manchmal auch die Handys ab und rufen die zuletzt gewählten Nummern an. Wenn sie bei einer Regierungsstelle landen, wird der Handybesitzer womöglich auf der Stelle getötet.
Im Süden Afghanistans herrschen die Taliban durchaus nicht überall und uneingeschränkt, aber ein Großteil der Region ist seit 2006 zu einer Art Niemandsland geworden. Afghanische Lastwagenfahrer, die Nachschub für die US-amerikanischen oder die Nato-Truppen nach Kabul und in den Norden transportieren, müssen zu ihrem Schutz entweder lokale Sicherheitsfirmen anheuern oder mit Bestechungsgeldern arbeiten. Nicht alle Bewaffneten, die die Straßen unsicher machen, sind Taliban. Einige der örtlichen Kommandeure und Banditen arbeiten auf eigene Rechnung, wenn auch wahrscheinlich mit Lizenz der Taliban.
In Kabul erzählte mir der Vertreter einer westlichen Hilfsorganisation von einem Konvoi aus 100 Lkws, der für die Fahrt von Pakistan zur Isaf-Basis der Niederländer in Orusgan 750 000 Dollar berappen musste, um sicher durchzukommen. Die Summe klingt unglaublich, aber ähnliche Geschichten hört man von afghanischen Transportunternehmern – sie haben genauere Informationen über den Herrschaftsbereich der Taliban als westliche Diplomaten oder Militärs.
Seit Ende 2007 sei es wirklich schlimm geworden, erzählte mir Abdul Bayan von der Transportfirma Nawe Aryana: „Wenn ich Waren zu einer Nato-Basis bringe, nach Kandahar etwa oder in eine der Städte auf dem Weg dahin, fahren wir im Konvoi von 15 bis 20 Lastern, geschützt von fünf großen Jeeps mit je vier bewaffneten Leuten. Für die Fahrt nach Kandahar kostet mich das pro Laster 1 000 Dollar.“
Lieferanten der US-Armee zahlen Wegegeld
Wenn die Taliban sich einen Lastwagen schnappen, zünden sie ihn entweder an, oder sie verlangen für die Freigabe 10 000 oder 12 000 Dollar. Da eine Lkw-Ladung um die 70 000 Dollar wert ist, zieht Bayan es vor, zu zahlen. Sprecher der Nato und der USA, die immer gern betonen, dass sich die Taliban vor allem aus dem Heroin- und Opiumhandel finanzieren, erwähnen nie, dass der Feind einen erheblichen Teil seiner Einnahmen auch aus den Wegegeldern bezieht, die ihm an den Versorgungsrouten der westlichen Streitkräfte zufallen. Ich frage Bayan, ob er jemals die afghanische Armee oder Polizei um Schutz für seine Konvois gebeten hat. Er sieht mich ungläubig an: „Schutz von den Soldaten und Polizisten? Die können sich ja nicht mal selber schützen, was können die schon für mich tun?“
Die afghanische Regierung hat im Lauf der letzten Jahre die Kontrolle über weite Teile des südlichen und östlichen Afghanistan verloren – trotz der Unterstützung durch die US-Luftwaffe und 70 000 ausländische Soldaten. Vor acht Jahren, kurz nach dem Fall des Taliban-Regimes 2001, bin ich einmal von Kabul nach Süden gefahren, zunächst bis zur Festungsstadt Ghasni und dann weiter nach Qalat, Kandahar und in die südliche Grenzprovinz Helmand. Die Straße war damals eine 500 Kilometer lange, entsetzlich holprige Piste voller Schlaglöcher, mit ein paar Brocken Asphalt dazwischen. Es war zwar nicht ungefährlich, sie zu benutzen, aber man kam noch durch. Acht Jahre danach ist die Straße in einem viel besseren Zustand, aber für einen Ausländer ist die Fahrt nach Süden ein viel zu großes Risiko.
Ein paar Tage vor meinem Gespräch mit Abdul Bayan war eine der Sicherheitsfirmen, die für ihn arbeiten, von den Taliban angegriffen worden. Es geschah in Qalat, einer armen, staubigen Stadt in der Provinz Sabul. Sieben Leute haben die Taliban getötet und drei entführt. Der Parlamentsabgeordnete Daud Sultanzoy aus Ghasni, der zur Opposition gehört, erklärte mir, dass er sich in die Stadt, die er repräsentiert, nicht mehr zurückwagt. Aber nicht nur wegen der Taliban, genauso viel Angst habe er davor, „von der Regierung erschossen zu werden“.
Der Westen Afghanistans ist seit dem Sturz des Taliban-Regimes von Gewalt weitgehend verschont geblieben. Dennoch musste ich jetzt, um nach Herat zu kommen, auf dem heruntergekommenen Flughafen von Kabul in ein Flugzeug steigen, weil keine der Straßen sicher ist. An meinem zweiten Tag in Herat lud mich der Bauunternehmer Obaidullah Sidiqi zum Essen in seinem Obstgarten ein, der in der Nähe des Flughafens liegt. Er erzählte mir, dass man in Herat selbst ziemlich sicher sei, nicht aber außerhalb der Stadt. Und da er – wie die allermeisten Bewohner von Herat – ein Tadschike ist, könne er sich im Gebiet der Paschtunen nicht sicher fühlen. Dort hatte er letztes Jahr zwei Bauaufträge – für eine Schule und für eine Straße – in Bezirken, in denen die Taliban stark sind. Sein Straßenbauprojekt konnte er nur einmal besichtigen, indem er sich einen langen Bart wachsen ließ und sich als einer seiner paschtunischen Fahrer ausgab. Dennoch riet ihm sein örtlicher Ingenieur, ein Paschtune, nicht noch einmal anzureisen.
Was den Rückhalt angeht, den die aufständischen Taliban heute in der Bevölkerung haben, gilt dasselbe, was schon bei ihrer Machtergreifung in den 1990er-Jahren galt: Er ist insofern eingeschränkt, als sich die Taliban im Wesentlichen auf die Paschtunen stützen. „Ich wünschte, wir könnten uns endlich von der Vorstellung verabschieden, dass alle Paschtunen automatisch Taliban sind, und alle Taliban Paschtunen“, sagte mir Daud Sultanzoy, der selbst Paschtune ist. Nun trifft es zwar zu, dass nicht alle Paschtunen auch Taliban sind, aber das zähe Überleben der islamistischen Bewegung nach ihrer – vermeintlich vollständigen – Niederlage von 2001 ist nicht erklärbar ohne die Solidarität unter den Paschtunen und ohne die sichere Zuflucht, die sie in den paschtunischen Gebieten Pakistans finden konnte.
Die Paschtunen sind die größte Volksgruppe Afghanistans, stellen aber mit 42 Prozent der Bevölkerung keineswegs die absolute Mehrheit. Und bei den Tadschiken (27 Prozent Bevölkerungsanteil), den Hasara und Usbeken (je 9 Prozent), den Aimaken (4 Prozent), den Turkmenen (3 Prozent) oder den Belutschen (2 Prozent) finden die Taliban keinerlei Unterstützung. Zwischen diesen ethnischen Gruppen herrschte schon immer eine gewisse Feindseligkeit. Doch erst in den 1990er-Jahren nahm sie extreme Ausmaße an, als die Taliban ihre Massaker anrichteten und sich nach der Eroberung der staatlichen Macht weigerten, ihren fanatischen sunnitischen Fundamentalismus zu zügeln oder nichtpaschtunischen Minderheiten an ihrer Herrschaft zu beteiligen. Damals waren die Taliban zu keinerlei Kompromissen bereit, weil sie es nicht nötig hatten. Erst die Anschläge der al-Qaida vom 11. September und die darauffolgende Intervention der USA haben die Machtverhältnisse verändert.
Die Koalition der Anti-Taliban-Kräfte bestand im Wesentlichen aus Tadschiken, die von einigen Usbeken und Hasara unterstützt wurden. Diese sogenannte Nordallianz kontrollierte lediglich die Bergregionen im Nordosten des Landes und war 2001 so gut wie besiegt. Die Entscheidung Washingtons, das Taliban-Regime zu stürzen, um es für seine Unterstützung der al-Qaida zu bestrafen, rettete die Nordallianz nicht nur vor ihrer Niederlage, sondern machte sie zum Gewinner des innerafghanischen Machtkampfs. Im November 2001 konnten die Kämpfer der Nordallianz in Kabul einziehen – dank US-amerikanischer Bomben und Dollars und dank der Haltung Pakistans, das den Taliban damals vorübergehend die Unterstützung entzog.
So wurden die Führer der Nordallianz zu ihrem eigenen Erstaunen und ohne größeren Widerstand zu den neuen Herrschern Afghanistans. Seitdem haben sie die Macht in Kabul nicht wieder abgegeben. Ihre Luxusvillen, von denen viele auf per Dekret enteigneten Grundstücken stehen, beherrschen das Straßenbild in den teuren Wohnvierteln wie Sherpur. Ein paschtunischer Geschäftsmann sagte mir verbittert: „Man sieht sie in ihren teuren Jeeps durch Kabul fahren, hinter dunkel getönten Scheiben und beschützt von kräftigen Bodyguards; die wissen gar nicht, wie die meisten Afghanen leben, und es interessiert sie auch nicht.“
Vor dem Krieg von 2001 wohnte ich einige Monate in der armen und schmutzigen Provinzstadt Jabal Saraj, 80 Kilometer nördlich von Kabul. Die Stadt wurde von der Nordallianz gehalten, die Front mit den Taliban verlief ein paar Kilometer weiter südlich, quer durch die dicht besiedelte Schomali-Ebene, eine der fruchtbarsten Landstriche von Afghanistan. Heute sind die Obstgärten wieder gut bewässert, über ein Leitungssystem, das sein Wasser aus den im Hindukusch entspringenden Flüssen bezieht. Die meisten Bewohner sind Tadschiken, die jahrelang erlebt haben, wie die Front sich mal in die eine, mal in die andere Richtung verlagert hat.
Brücke aus aufgetürmten Panzerfahrzeugen
Mehrmals haben die Taliban versucht, Jabal Saraj einzunehmen, aber sie konnten die Stadt nie für längere Zeit halten. 2001 war Jabal Saraj ein trostloser Ort. Die wichtigste Brücke war eine bizarre Konstruktion, errichtet auf den Wracks übereinander getürmter Panzerfahrzeuge der Taliban. Da die Stadt von drei Seiten durch Taliban-Kämpfer eingeschlossen war, blieb den Verteidigern als einziger Rückzugsraum das Pandschir-Tal im Nordosten, eine gigantische natürliche Festung und die wichtigste Bastion der Nordallianz. Die Taliban hatten die Befürchtung, dass ihre Gegner mit größeren Einheiten bis in Artillerie-Distanz zu Kabul vorrücken könnten. Und ihre Angst war berechtigt, denn das Pandschir-Tal und die Schomali-Ebene waren die Aufmarschbasis, die der Nordallianz Ende 2001 ihren erfolgreichen Sturm auf Kabul ermöglicht hat.
Die Tadschiken dieser Region sind seitdem auf der Seite der Gewinner. Die Sicherheitslage ist hier besser als im Rest des Landes, entsprechend trifft man auf weniger Checkpoints. Dutzende gesprengter Brücken wurden wieder aufgebaut, und die Durchgangsstraße ist stark befahren, vor allem von Lastwagen und Tankfahrzeugen auf dem Weg in den Norden Afghanistans oder nach Usbekistan, Turkmenistan und Tadschikistan. Das meiste Obst und Gemüse, das in der Hauptstadt verkauft wird, kommt aus der Schomali-Ebene, deren Dörfer und Städte einen wohlhabenden Eindruck machen.
Doch die größten Gewinner sind die alten Warlords, die militärischen Führer der alten Nordallianz gegen die Taliban. Diese Leute betrachten Afghanistan seit Kriegsende als ihre persönliche Beute. Zu meiner Zeit in Jabal Saraj war der Oberbefehlshaber der gesamten Allianz ein General namens Mohammed Kasim Fahim. Im Mai dieses Jahres hat Präsident Karsai diesen Fahim, der mittlerweile als Marschall den höchsten Rang des afghanischen Militärs erreicht hat, für die Wahlen vom 20. August als seinen Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten nominiert. Viele ausländische Beobachter reagierten ebenso entsetzt wie Brad Adams von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch: „Für Afghanistan wäre Fahim als zentrale Figur der Regierung ein entsetzlicher Rückschritt. Er ist einer der übelsten Warlords im ganzen Land, an seinen Händen klebt das Blut vieler Afghanen.“ Und Fahim ist nicht der einzige. Karsais Kandidat für das zweite Vizepräsidentenamt ist Karim Khalili, ein Warlord der Hasara.
Ich habe mich vor einiger Zeit mehrmals mit dem Warlord Baschir Salangi unterhalten, der die Streitkräfte der Nordallianz im Salang-Tal kommandierte. Das Tal ist eine tiefe Felsschlucht. An ihrem Ende (nördlich von Jabal Saraj) beginnt der Straßentunnel durch den Hindukusch, einer der wenigen Verkehrswege zwischen dem Norden und dem Süden Afghanistans. Salangis hatte damals eine berüchtigte Kriegstaktik entwickelt: Er tat den Taliban gegenüber wiederholt so, als ob er auf ihre Seite überwechseln wolle. 1997 beispielsweise erlaubte er ihnen, mehrere tausend Kämpfer durch den Tunnel zu schicken, nachdem er ihnen eingeredet hatte, dass sie so den Einheiten der Nordallianz in den Rücken fallen könnten. Dann sprengte er den Tunnel und viele Taliban starben.
Kurz nach dem Sieg der Nordallianz wurde Salangi zum Polizeichef von Kabul ernannt. Binnen zwei Jahren ließ er alte Häuser im Sherpur-Viertel niederreißen, um für die „Mohnpaläste“ der neuen Elite Platz zu schaffen. Auch andere Warlords wussten sich zu bereichern.
Auf dem Flughafen Bagram war ich ab und zu die Treppen im halb zerstörten Tower hinaufgestiegen, um mir von Baba Jan, der früher ein General des kommunistischen Regimes gewesen war, den aktuellen Verlauf der Taliban-Frontlinie erklären zu lassen. Auch dieser Jan hat einen hohen Polizeiposten in Kabul bekommen. Heute macht er angeblich lukrative Geschäfte mit allen möglichen Lieferungen für die gigantische US-Luftwaffenbasis von Bagram. Männer wie Salangi und Jan, die Überraschungssieger von 2001, sind inzwischen zu grauen Eminenzen des posttalibanischen Afghanistan aufgestiegen.
Dass Karsai sich auf die Warlords stützt, stößt im In- und Ausland auf heftige Kritik. Aber der Präsident hat wohl kaum eine andere Wahl, und seine Rechnung scheint aufzugehen, denn sein Sieg bei der Präsidentschaftswahl am 20. August steht so gut wie fest. Er hat Anfang dieses Jahres die Anfeindungen aus Washington abgewehrt, als offizielle Stellen deutliche Kritik an der Korruption und Ineffizienz seiner Regierung äußerten. Aber die USA haben sich seitdem widerstrebend damit abgefunden, dass es zu dem heutigen Präsidenten keine wirkliche Alternative gibt.
Zwar wird Karsai häufig als „Bürgermeister von Kabul“ belächelt, aber er hält eine geschickte politische Balance zwischen den afghanischen Warlords, den Regierungsbürokraten, den Führern der ethnischen Gruppen und den ausländischen Schutzpatronen. Im April ist es ihm gelungen, zwei potenzielle Rivalen von einer Präsidentschaftskandidatur abzubringen: Gul Agha Schersai, Gouverneur der Provinz Nangarhar (östlich von Kabul), und einen weiteren Ex-Warlord, der sein einziger Konkurrent im Lager der Paschtunen gewesen wäre. Da die paschtunischen Stimmen für die Wahl eines afghanischen Präsidenten ausschlaggebend sind, gehen alle verbliebenen Kandidaten so gut wie chancenlos ins Rennen.
Karsai ist nicht sehr populär, doch die Opposition ist zersplittert. Er kontrolliert den – wenngleich maroden – Staatsapparat, was ihm einen wichtigen Vorteil im Werben um die lokalen Machthaber verschafft, die den Ausgang der Wahlen entscheiden werden.
„Nicht dass die Taliban besonders stark wären“, meint ein afghanischer Politiker, „aber die Regierung ist eben besonders schwach.“ Und korrupt, müsste man hinzufügen. Auf der Liste von Transparency International steht Afghanistan an fünftletzter Stelle. „Das ganze Land ist von Kriminalität zerfressen“, sagt der ehemalige Finanzminister Ashraf Ghani, einer der aussichtslosen Gegenkandidaten Karsais. Und für General Aminullah Amarkhail, der seinen Posten an der Spitze des Sicherheitsapparats auf dem Flughafen Kabul verloren hat, weil er mit großem Eifer und Erfolg Heroinschmuggler verhaftet hat, handelt es sich nicht um schlichte Korruption, sondern um ein umfassendes System der Ausplünderung: „Um den Posten eines Polizeichefs eines Bezirks zu ergattern, muss man 10 000 Dollar in Bestechungsgelder anlegen; und der Posten des Polizeichefs in einem grenznahen Ort kostet bis zu 150 000 Dollar – denn da kann man einen Haufen Geld machen.“
Drogenschmuggel für das Innenministerium
Der General bekam einmal zwei Stunden nach der Festnahme einer notorischen Schmugglerin, die acht Päckchen Heroin am Körper trug, einen Anruf aus dem Innenministerium mit der Anweisung, sie freizulassen und ihr die Drogen wieder auszuhändigen. Die Frau und ihre Bande hatten offenbar einen Vertrag über 1 000 Kilo Heroin, die sie außer Landes schaffen durften. Auch der Bauunternehmer Sidiqi, der aus einer ganz anderen Gegend stammt, erklärt unumwunden, dass Regierungsaufträge nur durch Bestechung zu bekommen sind: „Da gibt es Ladenbesitzer, die einen Bauauftrag an Land ziehen, obwohl sie in ihrem ganzen Leben noch nie etwas gebaut haben.“
Die schlimmste Folge der Korruption zeigt sich bei den Preisen von Lebensmitteln, die in Afghanistan mehr kosten als in den meisten Ländern der Welt. Nach Angaben des World Food Program (WFP) lag der Weizenpreis im April 2009 um 63 Prozent über dem Weltmarktpreis, was Nahrungsmittel „für Millionen Afghaner unerschwinglich macht“. Das WFP will 2009 für 9 Millionen Menschen im ganzen Land Nahrungsmittel bereitstellen. Ein 70-Kilo-Sack Mehl kostet in Pakistan 1 100, in Afghanistan dagegen 2 700 Afghani. Die Differenz geht in die Taschen korrupter Zollbeamter und an die Wegelagerer, die an den Transportrouten ihre Schutzgelder eintreiben.
In der Rangliste von Transparency International liegt Afghanistan nur knapp vor dem Irak. Aber der Irak ist ein Ölstaat mit einem jährlichen Budget von fast 60 Milliarden Dollar. Die afghanische Regierung hat dagegen sehr wenig Geld, 90 Prozent der Staatsausgaben kommen aus Hilfszahlungen anderer Länder. Der Polizist, der an einem Checkpoint in Kabul oder Herat ziemlich lustlos Autos durchsucht, bekommt etwa 120 Dollar im Monat. Seine Familie kann er nur ernähen, indem er Bestechungsgelder annimmt. Ein einfacher Soldat in der irakischen Armee verdient dagegen 600 Dollar, ein Offizier mit akademischem Abschluss noch weit mehr.
Die politische Landschaft Afghanistans ist durch die schreckliche Armut geprägt. Das war schon vor dem Fall des Taliban-Regimes so und hat sich seitdem nicht geändert. Von den 25 Millionen Einwohnern haben 42 Prozent weniger als einen Dollar täglich zur Verfügung; die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 45 Jahren. Nur 18 Prozent der afghanischen Frauen können lesen und schreiben; nur 23 Prozent der Bevölkerung haben Zugang zu sauberem Wasser; 40 bis 70 Prozent der Leute im arbeitsfähigen Alter haben keine Beschäftigung – eine sehr vage Angabe, die belegt, wie wenig die Regierung vom täglichen Überlebenskampf ihrer Bürger weiß. Die Enttäuschung so vieler Afghanen über die Karsai-Regierung und ihre westlichen Unterstützer rührt einfach daher, dass es nicht gelungen ist, diese trostlose Situation zu verbessern.
Während im Irak der Aufstand sunnitischer Gruppen bereits wenige Wochen nach der Eroberung von Bagdad begann, haben die meisten Afghanen die Ankunft ausländischer Truppen anfangs begrüßt, weil sie davon ausgingen, dass deren Herrschaft zumindest besser sein würde als die der Taliban und der Warlords. Doch nach jüngsten Meinungsumfragen ist das Vertrauen der Bevölkerung in die USA und in die Kabuler Regierung stark zurückgegangen.
Seit 2005 ist der Anteil der Afghanen, die das Vorgehen der USA gut finden, von 68 auf 32 Prozent gesunken – das ist weniger als die Hälfte. Die Taliban genießen zwar wenig Unterstützung, aber 36 Prozent machen die USA, die Nato oder die afghanische Regierung für die Fortdauer des Krieges verantwortlich und nur 27 Prozent die Taliban. Zudem wird allgemein bezweifelt, dass die Verstärkung der US-Truppen – der von Barack Obama angeordnete „Afghan Surge“ – die Lage der einfachen Leute verbessern wird.
Vor drei oder vier Jahren wären die Erfolgschancen einer solchen Strategie weit besser gewesen. Inzwischen sind die ersten Truppenverstärkungen im Süden Afghanistans eingetroffen. Und Ende 2009 werden zu den bisherigen 32 000 US-Soldaten weitere 30 000 dazugekommen sein. Sie sollen die afghanischen Sicherheitskräfte ausbilden – deren Zahl sich damit auf etwa 400 000 erhöhen ließe –, die Zentralregierung unterstützen und den Schutz der Zivilbevölkerung verstärken. Vor allem aber sollen sie dafür sorgen, dass die Hauptstraßen zwischen den Städten im Süden des Landes wieder geöffnet werden und sicher zu befahren sind.
Eine personelle Aufstockung wird es auch bei den zivilen Beratern – wie Juristen und Ökonomen – geben, die der Regierung zur Hand gehen sollen. Jeder dieser Experten wird ein Jahresgehalt von schätzungsweise 250 000 bis 500 000 Dollar beziehen und in Kabul ein teures Haus bewohnen, dessen Bewachung durch eine private Sicherheitsfirma mindestens noch einmal so viel kosten wird. Mit von der Partie sind auch seit Jahren in den USA lebende Exilafghanen, die als Dolmetscher für 225 000 Dollar Jahresgehalt angestellt werden. Es gibt zwar auch viele Einheimische, die Englisch sprechen, aber denen traut man nicht. Unterdessen heuern die Taliban in der westlichen Provinz Farah junge arbeitslose Afghanen an. Die Rekruten bekommen eine Waffe in die Hand und acht Dollar für jeden Angriff auf einen der Checkpoints der lokalen Polizei. Mit dieser Taktik schwächen die Taliban die Regierungskräfte, ohne ihre erfahrenen Kämpfer größeren Gefahren auszusetzen.
Das US-Militär verspielt seinen Kredit
Das große Problem der US-Militärs besteht darin, dass sie das Wohlwollen, das sie bei der Bevölkerung mit dem Bauen von Schulen, Straßen und Brücken erlangt haben, rasch wieder verspielen können. Ein Viertel der Afghaner spricht sich für den bewaffneten Kampf gegen die westlichen Streitkräfte aus. Doch dieser Anteil schnellt auf 44 Prozent in die Höhe bei Leuten, die von US- oder Nato-Truppen beschossen oder bombardiert wurden.
Das mussten beispielsweise die Bewohner von drei Dörfern in der Provinz Bala Buluk erleben, über deren Lehmhäusern US-Flugzeuge am 4. Mai ihre 1 000-Kilo-Bomben abluden. Fast 100 Menschen wurden getötet, durchweg Zivilisten, wie die Regierung in Kabul, einheimische Menschenrechtsgruppen und die Betroffenen übereinstimmend erklärten. Überlebende Dorfbewohner fuhren einen Lastwagen voll mit verstümmelten Körpern, abgetrennten Gliedmaßen und Köpfen zum Sitz des lokalen Gouverneurs. In der Stadt Farah, nahe der iranischen Grenze, kam es zu Proteststreiks der Ladenbesitzer und in Kabul zu Studentendemonstrationen.
Währenddessen wartete das US-Militär mit immer neuen unwahrscheinlichen Darstellungen der Geschehnisse auf. Unter anderem wurde behauptet, zwischen 60 und 65 der Getöteten seien Taliban-Kämpfer gewesen. Aus welcher Quelle diese Information stammte, wurde nicht verraten – aus Sicherheitsgründen. Zudem waren die Leichen durch die Bombenexplosionen zu sehr verstümmelt, um sie richtig identifizieren zu können.
Die afghanische Unabhängige Menschenrechtskommission gab nach ausführlichen Interviews die Zahl der Toten mit 97 an, darunter 65 Kinder und 21 Frauen. Sie fand außerdem heraus, dass keines der Opfer bewaffnet war. Diese waren auch nicht als menschliche Schutzschilde benutzt worden, wie die Amerikaner behauptet hatten. Höchstens zwei der Toten können Taliban gewesen sein. Angeblich will das US-Militär seit dem Krieg im Irak mit schärferen Anweisungen vermeiden, dass seine Aktionen zivile Opfer fordern. Aber in Afghanistan ist davon noch nicht viel zu merken.
Die Legitimität der Regierung in Kabul ist in den Augen der Bevölkerung kontinuierlich geschwunden, weil sie es nicht geschafft hat, für Sicherheit, minimale staatliche Leistungen, ökonomische Entwicklung und damit für Beschäftigung zu sorgen. Inzwischen nehmen feindliche Handlungen gegen die ausländischen Truppen zu. Das gilt vor allem für die paschtunischen Gebiete, in denen weiter gekämpft wird. Und die Rezepte für die Bekämpfung von Aufständischen, die unter ganz anderen Bedingungen im Irak entwickelt wurden, könnten sich in Afghanistan als unbrauchbar erweisen.
Politisch wie militärisch wird es sehr schwer sein, die Taliban-Kämpfer von ihren sicheren Rückzugsgebieten im Westen Pakistans abzuschneiden. Der oppositionelle Paschtune Daud Sultanzoy hält den „Surge“ deshalb für ein zweischneidiges Schwert: „Wenn die Truppenverstärkung zu noch mehr Gewalt führt, wird sie nur noch mehr Widerstand provozieren.“
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Patrick Cockburn ist Auslandskorrespondent beim Independent und wurde 2009 mit dem Orwell Prize for Journalism ausgezeichnet.
© London Review of Books, www.lrb.co.uk, für die deutsche Übersetzung Le Monde diplomatique, Berlin