11.09.2025

Konsens gegen Palästina

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Konsens gegen Palästina

Wegen seiner Kriegspolitik gerät Israels Premier Netanjahu immer stärker unter Druck. Seine Abwahl würde die israelische Politik gegenüber den Palästinensern jedoch nicht grundsätzlich verändern. Denn eine große Mehrheit der Bevölkerung unterstützt die Besatzung.

von Dahlia Scheindlin

Demo für die Befreiung der Geiseln, 26. AugustMOSTAFA ALKHAROUF picture alliance/anadolu
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Die israelische Regierung bereitet die militärische Eroberung von Gaza-Stadt vor und legt damit, wie viele befürchten, die Grundlage für eine vollständige Einnahme und Besetzung des Küstenstreifens.

Doch inzwischen schlägt Premierminister Benjamin Netanjahu massive Kritik entgegen – sowohl in Israel als auch von außen. Die überwältigenden Belege für eine Hungersnot in Gaza führten zu einer weltweiten Verurteilung der israelischen Führung, zu expliziten Genozidvorwürfen und sogar zu partiellen Waffenembargos seitens alter Verbündeter.

Im Land selbst werden Netanjahu und sein Kabinett schon seit Monaten von ehemaligen Militärkommandeuren und Geheimdienstchefs, von Op­po­si­tions­füh­rern, Intellektuellen und Reservisten sowie zehntausenden Demonstranten scharf kritisiert. Im Zentrum der Kontroversen stehen die 50 Geiseln, die immer noch nicht von der Hamas freigelassen wurden und von denen noch etwa 20 am Leben sein sollen.

Ungeachtet der heftigen Proteste hat das israelische Kabinett am 8. August beschlossen, den Krieg noch zu eskalieren. Die neuen Pläne sehen de ­facto eine vollständige Besetzung des Gazastreifens mit dem möglichen Ziel einer langfristigen Militärverwaltung vor, wie sie von einigen Kabinettsmitgliedern gefordert wird. Die Regierung behauptet nach wie vor, dass nur eine Ausweitung der Militäroperationen die Geiseln retten könne. Aber das bezweifeln die meisten Israelis – und das zu Recht.

Nach einer Umfrage des öffentlich-rechtlichen Rundfunks Kan unterstützen nur 28 Prozent der Befragten die Pläne zur Ausweitung des Kriegs. Und die Familien der Geiseln sind überzeugt, dass eine Einnahme von Gaza-Stadt deren Tod bedeuten würde.

Eine stabile und ständig wachsende Mehrheit der Bevölkerung – laut manchen neueren Umfragen über 70 Prozent – ist für einen Gefangenen­austausch und die Beendigung des Kriegs. Die Demonstrationen haben seit Bekanntwerden der neuen Angriffspläne noch deutlich an Zulauf gewonnen.

All dies trägt zu dem Eindruck bei, dass das Land von einer fanatischen, rechtsextremen religiösen Minderheit in Geiselhaft genommen wurde, die ihre Macht und ihren Einfluss massiv ausgebaut hat, indem sie Netanjahu angesichts der gegen ihn anhängigen Gerichtsverfahren an der Macht hält.

Auch die Meinungsumfragen scheinen den Eindruck, dass Israel von Extremisten gekapert wurde, regelmäßig zu bestätigen. Sie besagen, dass die derzeitige Führung bei den nächsten Wahlen keine Chance hätte. Viele schließen daraus, dass sich das Land in eine dezidiert andere Richtung bewegen würde, wenn die Regierung sich stärker an der öffentlichen Meinung orientierte.

Doch das ist nur eine fromme Hoffnung. Wer sie hegt, übersieht schlicht, in welchem Ausmaß die Bevölkerung in vielen grundlegenden Fragen und hinsichtlich der ferneren Zukunft mit der Regierung einer Meinung ist. Eine ganze Reihe von Umfragen – seit Beginn des Gazakriegs und auch in den Jahren davor – haben ein eindeutiges Ergebnis. Die Netanjahu-kritische Öffentlichkeit und die wichtigsten Oppositionsparteien haben, was elementare Zukunftsfragen betrifft, kaum einen politischen Dissens mit der aktuellen Regierung. Das gilt für den Status der Palästinenser, die Fortdauer der israe­lischen Besatzung und die Verweigerung von Selbstbestimmung und Bürgerrechten in den besetzten Gebieten.

Aus den Umfragen geht auch hervor, dass die große Mehrheit der jüdischen Israelis kaum Mitgefühl mit den Palästinensern in Gaza aufbringt. Über deren Leid wird im israelischen Fernsehen und in den auflagenstärksten Zeitungen kaum berichtet. Viele glauben, die Zahl der getöteten und verletzten Zivilisten gehe auf das Konto der Hamas und sei ohnehin – wie von Regierung und Kommentatoren ständig behauptet – völlig übertrieben, wenn nicht frei erfunden.

Diese Fakten enthüllen eine unbequeme Wahrheit: Tatsächlich könnte der Sturz Netanjahus die Katastrophe in Gaza beenden und die israelische Politik aus dem Würgegriff der religiö­sen Rechten befreien. Aber es ist unwahrscheinlich, dass sich damit die israelische Politik gegenüber den Palästinensern grundsätzlich umorientieren würde im Sinne einer echten Alternative zur sukzessiven Ausweitung israelischer Herrschaft und Unterdrückung palästinensischer Selbstbestimmung, wie sie seit Jahrzehnten betrieben wird.

Diese Politik hat im Wechselspiel mit dem erbitterten Widerstand der Palästinenser den Konflikt über Jahre am Köcheln gehalten und die Zukunft Israels als Demokratie zerstört. Und sie wird auf Jahre die Eskalation der Gewalt noch antreiben.

Dass sich Politik und Medien in den USA und Europa – oder auch die israelische Opposition – auf ­Netanjahu einschießen, ändert nichts an dem Faktum, dass die unnachgiebige Haltung des Premiers gegenüber den Palästinensern nicht das alleinige Problem ist. Das Grundproblem ist, wie sich die israelische Gesellschaft, Politik und Kultur in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt haben.

Mehrheit gegen Netanjahu, aber nicht für eine Lösung

Netanjahus politische Instinkte und seine Fähigkeit, an der Macht zu bleiben, werden selbst von seinen Feinden bewundert. Dennoch ist seine Zukunft ungewiss. Nach der augenblicklichen Stimmung zu urteilen, könnte der Premier die nächsten Wahlen, die für Oktober 2026 angesetzt sind, ohne Weiteres verlieren.

Seit zwei ultraorthodoxe Parteien im Juli die Regierungskoalition verlassen haben, steht er einer fragilen Minderheitsregierung vor. Falls die zerfällt, kommt es wohl schon Anfang nächsten Jahres zu Neuwahlen.

Der Widerstand gegen Netanjahu begann lange vor den Angriffen vom 7. Oktober 2023. Seine geplante Justizreform wurde (und wird) von vielen als der Versuch angesehen, seine Macht zu konsolidieren, sich den bereits laufenden Anklagen wegen Korruption zu entziehen und die israelische Demokratie auszuhebeln.

In den neun Monaten vor dem 7. Oktober hatten allwöchentlich hunderttausende Israelis gegen die Regierung protestiert und viele Reservisten angekündigt, den Militärdienst zu verweigern. Wie das Israel Democracy ­Institute im Frühjahr 2023 ermittelte, lehnten zwischen 58 und 66 Prozent der Israelis die von Netanjahu geplanten Reformen ab.

Diese Zahlen sind bis heute weitgehend konstant geblieben, obschon sich Tempo und Art der vorgesehenen Reformen im Laufe des Kriegs verändert haben. Doch ungeachtet des massiven Widerstands hat die Regierung die umstrittenen Reformen vorangetrieben, die Besetzung von Justizstellen politisiert und die Generalstaatsanwältin entlassen.

Seit dem 7. Oktober 2023 hat sich der öffentliche Unmut noch verstärkt. Die Zustimmungswerte für Netanjahus Regierungskoalition sind – anders als bei früheren Kriegskabinetten – auch nach dem Hamas-Überfall nicht gestiegen, sondern auf einen Tiefpunkt gefallen. Nach den ersten sechs Kriegsmonaten kamen Netanjahus Likud-Partei und ihre Koalitionspartner zusammen auf Umfragewerte, die ihnen nur 41 bis 46 der 120 Knessetsitze beschert ­hätten.

Eine stabile Zweidrittelmehrheit will Netanjahus Rücktritt entweder sofort, spätestens aber bei Kriegsende. Seit über einem Jahr zeigen alle glaubwürdigen Meinungsumfragen, dass die Parteien der ursprünglichen Koalition bei Neuwahlen mindestens zehn Knessetsitze weniger gewinnen würden als die 64 bei der Wahl von 2022. Auch nach den jüngsten Umfragen hätten die Parteien der ursprünglichen Regierungskoalition heute keine Mehrheit mehr. Nicht einmal der zwölftägige Krieg gegen Iran im Juni, der in der israelischen Öffentlichkeit große Unterstützung genoss, konnte die Popularität der Koalition erhöhen.

Die Gründe für den verbreiteten Unmut über die Regierung sind offensichtlich. Zuallererst ist es ihre wiederholte Weigerung, durch eine Übereinkunft mit der Hamas die noch gefangenen Geiseln zu befreien. Viele Israelis sind überzeugt, dass die Regierung ohne öffentlichen Druck bereits den ersten Waffenstillstand vom November 2023 abgelehnt hätte. Seit Anfang 2024 gibt es regelmäßig eine Mehrheit der Bevölkerung für ein Abkommen zur Befreiung der verbliebenen Geiseln.

Seit Beginn der Waffenruhe vom Januar 2025 haben sich laut Umfragen des Israel Democracy Institute stets über 70 Prozent für eine Fortsetzung dieser Waffenruhe ausgesprochen, um die Heimkehr weiterer Geiseln zu ermöglichen. Im Juni ermittelte das bei der Hebrew University angesiedelte Institut Agam Labs, dass mehr als drei Viertel der Bevölkerung eine Freilassung aller verbliebenen Geiseln im Gegenzug für eine dauerhafte Beendigung des Kriegs befürworten.

Die große Mehrheit der Israelis empört sich nicht zuletzt darüber, dass die Regierung jede Verantwortung für die Angriffe vom 7. Oktober von sich weist. In einer Umfrage, die ich Ende November 2024 für den liberalen Thinktank Zulat durchführte, sprachen sich 69 Prozent für die Einrichtung einer unabhängigen staatlichen Kommission aus, die das Versagen der Sicherheitskräfte vor und bei den Anschlägen untersuchen soll. Nur 27 Prozent der Befragten würden sich auf eine von der Regierung berufene Untersuchungskommission verlassen. Dieser Prozent­anteil ist seither noch gestiegen. Doch nach zwei Jahren Krieg hat die Regierung immer noch keine solche Kommission einberufen.

Weiterer Unmut entzündet sich an dem Umstand, dass ultraorthodoxe Juden vom Wehrdienst in den Streitkräften befreit sind. Eine überwältigende Mehrheit der jüdischen Israelis möchte diese historische Ausnahmeregelung beenden. Die Regierung hat dagegen ein Gesetz auf den Weg gebracht, das die Ultraorthodoxen nur schrittweise und nur zu sehr begrenzten Wehrdienstpflichten heranziehen würde.

Für die meisten Israelis ist dies ein „Wehrdienstvermeidungsgesetz“, das dieser Gruppe eine dauerhafte und umfassende Befreiung vom Dienst gewähren soll. Nach einer Umfrage des ­Institute for National Security Studies vom Juli glauben 73 Prozent der jüdischen Israelis, dass ein solches Gesetz der Sicherheit des Staats schadet.

Fürs Erste hat die Regierung die Verabschiedung zurückgestellt, obwohl sie von den religiösen Koali­tions­partnern massiv dazu gedrängt wurde. Diese Verzögerung führte im Juli zum Austritt zweier ultraorthodoxer Par­teien aus dem Regierungsbündnis. Diese Parteien könnten theo­retisch mit der Opposition stimmen, falls es in den nächsten Monaten zu einem Antrag auf Auflösung der Knesset kommt. Damit liegt das Schicksal des Lands nunmehr in den Händen der ultra­orthodoxen Parteien, die laut Umfragen lediglich 14 Prozent der Bevölkerung vertreten.

Angesichts des massiven öffentlichen Unmuts könnte man hoffen, dass eine politische Führung nach Netanjahus Abgang dem rechtsextremen Fundamentalismus eine Absage erteilen wird. Doch diese Hoffnung rührt von einer Idealisierung der israelischen Demokratie her, die vor einigen tieferen Wahrheiten über die israelische Gesellschaft die Augen verschließt.

Trotz ihrer wachsenden Abneigung gegen die Netanjahu-Regierung denken durchschnittliche Israelis in vielen grundsätzlichen und langfristigen Fragen nicht wesentlich anders als der Premier und sein rechtslastiges Kabinett. Diese Konvergenz ist kein Zufall: Netanjahu besitzt schon länger eine besondere Sensibilität für die öffentliche Stimmung und versteht diese meisterhaft zu manipulieren.

Dies gilt insbesondere für alle Fragen, die mit Israels Selbstbild als einem permanent existenziell bedrohten Land zu tun haben – ob durch palästinensischen Terror, Iran, den weltweiten Antisemitismus oder seine „inneren Feinde“, die politische Linke oder die arabischen Bürger des Lands.

Ein Beispiel ist die Zweistaatenlösung: Der Premierminister weiß, dass die Mehrheit der Israelis diese Vorstellung ablehnt. Im Juni stellte der Peace Index Survey der Tel Aviv ­University fest, dass lediglich ein Drittel aller Israelis die Errichtung eines palästinensischen Staats an der Seite Israels unterstützen. Unter den jüdischen Israelis ist der Anteil mit rund 25 Prozent noch geringer.

Wenn sich Netanjahu also allen internationalen Bemühungen zur Verwirklichung eines palästinensischen Staats und jeder Form von echter palästinensischer Selbstbestimmung widersetzt, weiß er dabei eine solide Mehrheit der jüdischen israelischen Wähler hinter sich. Kaum eine wichtige Stimme aus der Opposition wagt ihm zu widersprechen.

Sicherheitspolitische Falken wie der ehemalige Generalstabschef ­Benny Gantz, der während der ersten acht Kriegsmonate als mäßigender Faktor in Netanjahus „Kriegskabinett“ galt, stehen der Idee einer palästinensischen Staatlichkeit äußerst skeptisch gegenüber. Führende Persönlichkeiten der säkularen Rechten wie Avigdor ­Lieberman bekämpfen sie offen, und der ehemalige Premierminister ­Naftali Bennett, der nach Meinungsumfragen von allen Oppositionspolitikern die besten Aussichten hat, positionierte sich in der Vergangenheit rechts von Netanjahu und hat eine Zweistaatenlösung ebenfalls stets abgelehnt.

Die Parteien der Mitte vertreten ganz ähnliche Positionen. Selbst die linkszionistische Partei, die Demokraten, unter der Führung des ehemaligen Generalmajors und stellvertretenden Generalstabschef Jair Golan, verweigern jede Diskussion über einen palästinensischen Staat oder die Zweistaatenlösung. Jair Lapid, der offizielle Kopf der israelischen Opposi­tion und Chef der Mittepartei Yesh Atid, hat diese Frage seit Kriegsbeginn ebenfalls meist gemieden. Dabei war er der letzte Premierminister, der während seiner kurzen Amtszeit 2022 öffentlich eine Zweistaatenlösung befürwortete.

Heute treten nur noch die Chefs der arabischen Parteien offen für einen palästinensischen Staat ein. Einer der schärfsten Kritiker Netanjahus, Ayman Odeh vom Wahlbündnis Vereinte Liste, wird nicht mehr für die Knesset kandidieren; dennoch hat die Regierungskoalition im Juli versucht, ihm wegen eines Posts in den sozialen Medien sein Abgeordnetenmandat zu entziehen. Odeh hatte in einer Rede sein Mitgefühl für die israelischen Geiseln und zugleich für palästinensische Gefangene ausgedrückt. Das aber ist in den Augen der Rechten eine moralisch völlig inakzeptable Gleichstellung. Doch obwohl auch sechs Mitglieder der Opposition dem Ausschlussantrag zustimmten, reichte es nicht zur erforderlichen Mehrheit von 90 Stimmen.

Die wachsende Ablehnung einer Zweistaatenlösung ist auch das Resultat einer immer härteren Haltung gegenüber den Palästinensern, die sich nach dem 7. Oktober 2023 herausgebildet hat. Diese Verhärtung resultiert aber auch aus einer feindseligen und negativen Grundstimmung auf beiden Seiten. Das zeigt sich etwa in den Umfragen, die ich lange vor dem Krieg zusammen mit dem palästinensischen Meinungsforscher Khalil Shikaki durchgeführt habe.

Der 7. Oktober hat zweifellos bereits vorhandene extreme Gefühle freigesetzt. Nach dem Überfall der Hamas konnten israelische Minister dazu aufrufen, Gaza zu belagern, auszuhungern, dem Erdboden gleichzumachen, selbst Atombomben einzusetzen. Und die israelische Mainstreammedien haben das horrende menschliche Leid in Gaza nur sehr selten thematisiert. Somit wurde es den Israelis leicht gemacht, sich solchen Bildern zu entziehen – auch wenn man die entsprechenden Informationen in den kritischen israelischen und internationalen Medien und in den sozialen Medien leicht finden kann, wenn man nur will. Im Peace Index Survey vom Januar 2024 – zu dem Zeitpunkt waren bereits mehr als 25 000 Menschen in Gaza getötet worden – teilten 88 Prozent der jüdischen Israelis die Auffassung, zum Erreichen der israelischen Kriegsziele sei die Tötung von Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen gerechtfertigt, wobei nicht zwischen der Zivilbevölkerung und Kämpfern unterschieden wurde.

Auch im Juli 2025, als die Zahl der Toten, von denen gut die Hälfte Frauen und Kinder waren, auf 60 000 zuging, zeigte eine Umfrage, dass immer noch 72 Prozent der jüdischen Bevölkerung Israels die Todesopfer als gerechtfertigt ansahen. Nach derselben Umfrage (Peace Index Survey der Tel Aviv ­University) befürworteten etwa ebenso viele eine „freiwillige Emigration“ der Bewohner von Gaza. Und eine Mehrheit der jüdischen Befragten sprach sich sogar für eine „Zwangsumsiedlung“ aus.

Nur noch 12 Prozent sehen sich als Linke

Das heißt: Selbst die krassesten von der Regierung vorgeschlagenen Maßnahmen gegen die palästinensische Bevölkerung von Gaza werden von einem beträchtlichen Teil der israelischen Öffentlichkeit unterstützt. Nach einer im Mai 2025 veröffentlichten Erhebung, die Tamir Sorek von der Penn ­State University durchführte, waren sogar 82 Prozent der jüdischen Is­rae­lis für die Vertreibung der Palästinenser aus Gaza.

Die Methoden und Ergebnisse dieser Erhebung wurden von einigen angezweifelt. Doch kurz darauf ermittelte das Israel Democracy Institute in seiner monatlichen Umfrage, dass 77 Prozent der jüdischen Israelis der Ansicht waren, dass man sich nicht um das Leid der Zivilisten in Gaza kümmern solle. 63 Prozent waren sogar gegen jede humanitäre, also auch internationale Hilfe. In der Juli-Umfrage des Instituts gaben 79 Prozent der Befragten an, dass sie „Berichte über Hunger und Leid unter der palästinensischen Bevölkerung in Gaza“ nicht persönlich betroffen machen. Eine weitere Umfrage im Auftrag der Zeitung Ma’ariw von Ende Juli brachte zutage, dass 47 Prozent der jüdischen Israelis die Hungersnot in Gaza für eine Propagandalüge der Hamas halten.

Laut Peace Index Survey vom Juli dieses Jahres unterstützten 60 Prozent der jüdischen Bevölkerung den Plan von Verteidigungsminister Israel Katz, bei Rafah ein Lager zu errichten, das die zwangsumgesiedelten Insassen nur bei Ausreise in ein anderes Land verlassen dürften.

Zur Einstellung der Bevölkerung gegenüber den Plänen der Regierung für eine vollständige Besetzung des Gazastreifens gibt es noch keine aussagekräftigen Erhebungen. Die Meinungsumfragen lassen jedoch erkennen, dass eine signifikante Minderheit – wenn auch keine Mehrheit – für eine vollständige Annexion „der besetzten Gebiete“ ist. Laut Peace Index Survey vom Juli befürworten 40 Prozent der jüdischen Israelis eine Annexion und 46 Prozent den Bau jüdischer Siedlungen in Gaza.

Die Verhärtung gegen die Palästinenser spiegelt einen schon seit Langem beobachteten Rechtstrend in der israelischen Gesellschaft wider: Laut einer Umfrage des Israel Democracy ­Institute vom Juni 2025 definiert sich eine signifikante Mehrheit von 60 Prozent der jüdischen Bevölkerung als rechtsgerichtet. 25 Prozent verorten sich in der politischen Mitte und nur 12 Prozent als linksgerichtet.

Hier zeigt sich eine Entwicklung, die lange vor dem 7. Oktober begonnen hatte. Bereits im Wahlkampf von 2022 sprach kaum jemand – weder die Kandidaten noch die jüdische Öffentlichkeit – über die Palästinenser oder das fast 60 Jahre bestehende israelische Besatzungsregime.

Zu diesem Regime gehörte auch die Kontrolle der Grenzen des Gaza­streifens, des Luftraums, der territorialen Gewässer und (gemeinsam mit Ägypten) des gesamten Personen- und Warenverkehrs nach und von Gaza – ein Zustand, den das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) schon vor dem 7. Oktober als anhaltende Besatzung bezeichnete. Paradoxerweise sorgte sich die israelische Öffentlichkeit, die mit der dauerhaften Militärherrschaft über weite Teile der palästinensischen Bevölkerung weitestgehend einverstanden ist, jedoch um den Zustand der israelischen Demokratie.

Auch die vielen Menschen, die 2023 das ganze Jahr über allwöchentlich gegen Netanjahus Justizreform protestierten und mehr Demokratie forderten, haben die gravierendste Bedrohung für die israelische Demokratie – die Militärherrschaft über eine riesige, entrechtete palästinensische Bevölkerung – weitgehend ignoriert.

Im Sommer 2023, auf dem Höhepunkt der Proteste, ergab eine Umfrage, die ich im Auftrag der Alliance for Middle East Peace durchführte, dass 88 Prozent der jüdischen Israelis im Alter zwischen 15 und 21 Jahren überzeugt waren, dass Israel „ein demokratischer Staat sein kann, obwohl Palästinenser im Westjordanland und im (de facto) von Israel kontrollierten Gazastreifen nicht an israelischen Wahlen teilnehmen können“. Mit anderen Worten: Eine überwältigende Zahl junger Israelis wächst mit dem Bewusstsein auf, dass man Millionen auf unbestimmte Zeit ihrer Grundrechte berauben kann, ohne die demokratischen Grundlagen Israels zu gefährden.

Die Demonstranten von 2023 sahen auch keinen Zusammenhang zwischen der Justizreform und den Annexionsplänen der Regierung. Schon während der Proteste wiesen extremistische jüdische Suprematisten, voran der Minister für nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir, die Polizei- und Sicherheitskräfte an, den Siedlern jede Form von Gewalt durchgehen zu lassen oder sie sogar als Instrumente zur Expansion der Kon­trol­le über die besetzten Gebiete zu behandeln.

Die ständigen Bemühungen der Regierung, das Oberste Gericht und die Generalstaatsanwaltschaft zu schwächen, hatten nicht zuletzt damit zu tun, dass diese Institutionen die neuen Gesetze zur leichteren Vertreibung von Palästinensern und deren Enteignung verhindern oder verzögern könnten. Aus demselben Grund vollzog die Regierung Anfang August den beispiellosen Schritt, die Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara zu entlassen. Das hat das Oberste Gericht fürs Erste blockiert, aber es hat das Land in eine Regierungskrise gestürzt.

Indem sie die Realität der Besatzung ignorierten, haben auch die wichtigsten israelischen Oppositionsparteien der Erosion der demokratischen Institutionen Vorschub geleistet. Das gilt etwa für die Koalitionsregierung, die zwischen Sommer 2021 und Winter 2022 ohne Netanjahu und die derzeitigen Regierungsparteien an der Macht war. Sie hat zwar versucht, die Lebensbedingungen der Palästinenser durch winzige Korrekturen zu verbessern, jedoch keinen nennenswerten Schritt in Richtung palästinensischer Selbstbestimmung unternommen. Und das, obwohl der damalige Premierminister Lapid vor der UN-Vollversammlung im September 2022 für eine Zweistaatenlösung eintrat.

Jair Golan, der Vorsitzende der linksgerichteten Demokraten, spricht indessen von einer „Separation“, ­wobei er den Begriff nicht näher definiert. Aber auch über seine Vorstellung einer Trennung zwischen Israelis und Palästinensern spricht der Opposi­tionspolitiker nur, wenn er danach gefragt wird.

Seit dem 7. Oktober hat sich in Israel ein politischer Konsens durchgesetzt, demzufolge die Existenz des Lands nur militärisch sicherzustellen sei. Und während des Kriegs mit Iran im Juni dieses Jahres gab es überhaupt keine abweichenden Stimmen, sondern nur blinde Unterstützung.

Die Opposition wendet sich auch nur sehr selten, wenn überhaupt, gegen die dauernde Präsenz israelischer Truppen und die Militärschläge im Libanon oder gegen die Bombardierung syrischen Territoriums, die gegen das neue Regime in Damaskus gerichtet ist. Bestenfalls fordert die Opposition, dass Israel die überragenden militärischen Erfolge, die gegen regionale Feinde wie Iran oder die Hisbollah errungen wurden, „diplomatisch abrunden“ müsse.

Die neueste politische Lichtgestalt der Netanjahu-Gegner ist mit Gadi ­Eizenkot erneut ein ehemaliger Generalstabschef. Wenn Oppositionspolitiker oder Militärs die Gazapolitik der Regierung kritisieren, monieren sie vor allem, dass es an einer klaren Strategie fehle oder dass es der Regierung nicht gelungen sei, anstelle der Hamas eine alternative Kraft aufzubauen. Doch diese Kritik leistet keinen Beitrag zu einer langfristigen Lösung des Konflikts.

Sollte Netanjahu die nächsten Wahlen verlieren, wird sein Sturz unter vielen Israelis im In- und Ausland große Erleichterung auslösen. Und viele würden die Entmachtung der nationalreligiösen Fundamentalisten begrüßen, die keinen Hehl aus ihrer Absicht machen, die gesamte Bevölkerung in Gaza verhungern zu lassen und das Territorium dem israelischen Staat einzuverleiben. Aber es ist unwahrscheinlich, dass eine neue Regierung ernsthafte Fortschritte in Richtung eines dauerhaften, gerechten oder realisierbaren Friedens mit den Palästinensern unternimmt oder auch nur versucht, die dem Konflikt zugrunde liegende Dynamik der Besatzung zu thematisieren.

Stattdessen wird die Situation weiter die expansionistischen Träume in Israel befeuern und zu immer neuen verheerenderen militärischen Eskalationen führen. Solange weder die israelische Öffentlichkeit noch die Welt eine Kursänderung einfordern, werden die Oppositionsparteien weder die visionäre Kraft noch die Führungsstärke aufbringen, die für Israel den Weg zu Frieden, Demokratie und einer grundlegenden und dauerhaften Sicherheit eröffnen könnten.

Aus dem Englischen von Robin Cackett

Dahlia Scheindlin ist Meinungsforscherin, Policy Fellow bei Century International und Kolumnistin bei Ha’aretz. Vor zwei Jahren erschien „The Crooked Timber of ­Democracy in Israel“, Berlin (De Gruyter) 2023.

Dieser Text erschien zuerst auf foreignaffairs.com © 2025 Council on Foreign Relations, publisher of Foreign Affairs. All rights reserved. Distributed by Tribune ­Content Agency. © für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.09.2025, von Dahlia Scheindlin