07.08.2025

Im Wald von Rūdninkai

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Im Wald von Rūdninkai

Die Stationierung der Bundeswehr in Litauen und die Erinnerung an die Partisanen im Zweiten Weltkrieg

von Felix Ackermann

Panzerhaubitze der Bundeswehr am Rande des Aufstellungsappells der Panzer­brigade 45 auf dem Kathedralenplatz, 22. Mai 2025 MICHAEL KAPPELER/picture alliance/dpa
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Der 22. Mai ist ein regnerischer Tag. Leo­pard-Panzer und Haubitzen der Bundeswehr sind auf dem Kathedralenplatz der litauischen Hauptstadt aufgefahren. Die Laternen, an denen bis 1990 rote Fahnen mit Hammer und Sichel wehten, sind mit litauischen und deutschen Fähnchen geschmückt. Auch die Flaggen der Nato und der Europäischen Union sind vertreten. Litauische Familien drängen sich um das Militärgerät, als wären sie auf dem Rummelplatz. Wer will, darf heute in einen deutschen Panzer klettern.

Zum Aufstellungsappell der Panzerbrigade 45 „Litauen“ ist Bundeskanzler Friedrich Merz gemeinsam mit Verteidigungsminister Boris Pistorius nach Vilnius gekommen. Pistorius hatte 2023 die erste dauerhafte Stationierung von 5000 Bundeswehrsoldaten im Ausland vorgeschlagen. Begründung: In Anbetracht des russischen Kriegs gegen die Ukraine müsse die Ostflanke der Nato gestärkt werden. Sein Regierungschef Olaf Schulz hatte im Februar 2022 von einer Zeitenwende gesprochen. Dessen Nachfolger Friedrich Merz ­verkündet drei Jahre später vor laufenden Kameras: „Der Schutz von Vilnius ist der Schutz Berlins.“

Das deutsche Publikum denkt dabei eher an den ehemaligen Verteidigungsminister Struck, der 2004 die „Sicherheit der Bundesrepublik“ am Hindukusch zu verteidigen meinte. In Vil­nius wurde der Satz umgehend zum „Ich bin ein Berliner“-Ausspruch des 21. Jahrhunderts.

Das deutsche Engagement hat hier eine besondere Bedeutung, weil die Front des russischen Angriffskriegs nur 350 Kilometer entfernt ist. Schon 2014 hatte die Annexion der Krim die Erinnerung an den Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 geweckt, mit dem die 1918 gegründete Republik Litauen 1940 unter sowjetische Herrschaft kam. Die Deportationen nach Sibirien und Kasachstan im Sommer 1941 – kurz vor dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion – sind tief in das Gedächtnis der betroffenen litauischen, polnischen und jüdischen Familien eingebrannt.

Die Bedrohung durch den Krieg wird hier auch deshalb stärker empfunden, weil Litauen im Südwesten unmittelbar an die russische Exklave Kaliningrad und im Südosten an Belarus grenzt. Vom Kathedralenplatz aus ist man mit dem Auto in einer halben Stunde in Belarus, zur Oblast Kaliningrad sind es zwei Stunden. Zwischen diesem Territorium der Russländischen Föderation und Belarus liegt das polnisch-litauische Grenzgebiet, ein nur 100 Kilometer breiter Landstreifen.

In strategischen Planungen der Nato gilt dieser Suwałki-Korridor als Schwachstelle, die im Fall eines russisch-belarussischen Angriffs besonders schwer zu verteidigen wäre. Militärische Beobachter sehen die Gefahr einer Ausweitung des Ukrainekriegs auch in andere Richtungen und sind deshalb über die innenpolitischen Turbulenzen in den ehemals sowjetischen Republiken Georgien und Moldau beunruhigt.

Um Friedrich Merz beim Wort zu nehmen, schlug der Bürgermeister von Vilnius Valdas Benkunskas wenige Tage nach dem Appell vor, das Zitat „Der Schutz von Vilnius ist der Schutz Berlins“ mit einer Gedenktafel zu verewigen, die er am historische Rathaus anbringen will. Das klassizistische Gebäude steht an der Kreuzung der beiden wichtigsten Achsen der mittelalterlichen Stadt Wilna: der Vokiečių gatvė (Deutsche Straße) und der Straße, die vom oberen Schloss zum Tor der Morgenröte führte. Dieses Tor hieß noch im 15. Jahrhundert das Deutsche Tor, weil in diesem Stadtteil besonders viele Deutschsprachige lebten.

Die Deutsche Straße erinnert daran, dass Großfürst Gediminas kurz nach der Stadtgründung in Briefen nach Lübeck und anderen Hansestädten um neue Einwohner warb. In diesen lateinischen Schreiben von 1323 tauchte zum ersten Mal der Name Wilna auf. Der Einladung folgten zahlreiche Handwerker und Kaufleute. Eine lutherisch-evangelische Kirche im Hinterhof des Hauses Nr. 20 erinnert an die Rolle ihrer Nachfahren bei der Reformation in Litauen. Ganz in der Nähe wohnte im frühen 16. Jahrhundert der deutschsprachige Bürgermeister Ulrich Hosse.

An derselben Deutschen Straße entstand seit dem Mittelalter auch ein Zentrum jüdischen Lebens. Auf Jiddisch heißt das Viertel rund um die Große Synagoge „Schulhof“. Von hier hat der Gelehrte Elias, genannt Gaon von Wilna, ab 1760 mit seinen Kommentaren zu Tora und Talmud das orthodoxe Judentum maßgeblich beeinflusst. Bei seinem Schüler Menashe von Ilja studierte der Wilnaer Gelehrte Mattityahu Straszun. Der baute im Laufe seines Lebens eine bedeutende Sammlung hebräischer und jiddischer Schriften auf, die nach seinem Tod 1901 von der jüdischen Gemeinde in einem neuen Gebäude als Straszun-Bibliothek zugänglich gemacht wurde. Der Lesesaal lag an der Deutschen Straße.

Unweit des Schulhofs richteten die deutschen Besatzer im September 1941 das Kleine Ghetto ein, in dem sie mehr als 10 000 Juden einsperrten. Im Süden der Deutschen Straße lag das von Gestapo und SS kontrollierte Große Ghetto. Hier war der größere Teil der über 50 000 Einwohner zählenden jüdischen Bevölkerung, zusammen mit vielen aus dem besetzten Polen Geflüchtete, auf engsten Raum unter unmenschlichen Bedingungen zusammengepfercht. Die meisten von ihnen wurden im Wald von Ponar am Stadtrand ermordet. Dieser „Holocaust mit Gewehrkugeln“ wurde in ganz Litauen in unmittelbarer Nähe zu Ortschaften unter dem Befehl der SS und unter Mithilfe litauischer Schützen vollstreckt. Der im Sommer 1941 beginnende Völkermord wurde durch die Eroberungen der Wehrmacht ermöglicht und militärisch abgesichert. Der 23. September, an dem das Wilnaer Ghetto 1943 offiziell aufgelöst wurde, ist in Litauen nationaler Holocaustgedenktag.

Doch die Schichten der Erinnerung an die deutsche Besatzung werden im 21. Jahrhundert von den nachfolgenden Ereignissen der zweifachen sowjetischen Besatzung überlagert. Die Rückeroberung Litauens durch die Rote Armee im Spätsommer 1944 war für die wenigen überlebenden Jüdinnen und Juden eine Befreiung; ein Großteil der nichtjüdischen Bevölkerung Li­tauens erlebte sie hingegen als erneute Besetzung. Ab dem Winter 1945 rollten wieder sowjetische Deportationszüge nach Osten. Nach dem Mord an den litauischen Juden und der Aussiedlung der meisten im Gebiet um Vilnius verbliebenen Polen waren es jetzt vor allem litauische Bauernfamilien, die unter der sowjetischen Repression zu leiden hatten.

In den litauischen Erzählungen vom 20. Jahrhundert reicht der Schatten des Zweiten Weltkriegs bis ins Jahr 1990, als sich die Sowjetrepublik für souverän erklärte. Erinnert wird bis heute vor allem die sowjetische Besatzung. Und so kursierten im Mai, vor dem Aufstellungsappells der „deutschen Brigade“, wie die Panzerbrigade 45 hier alle nennen, auf Facebook und anderen Plattformen zahlreiche Familienanekdoten über die „guten Deutschen“. Über die Besatzer also, die in der Erinnerung litauischer Familien im Vergleich zu den Soldaten der Roten Armee weniger brutal gewesen waren.

Der Mord an mehr als 190 000 litauischen Juden wird in diesen Anekdoten vollständig ausgeblendet, wie übrigens auch die gezielte Verfolgung der slawischen Bevölkerung im Wilnaer Gebiet. Zwar sind überall im Land die Exekutionsorte des „Holocaust mit Gewehrkugeln“ offiziell ausgewiesen, und zum 23. September finden auch in der Provinz öffentliche Gedenkveranstaltungen statt. Doch das ändert nichts an der Abspaltung des offi­ziel­len Holocaustgedenkens von der gesellschaftlichen Erinnerung an die „guten Deutschen“, die durch den Krieg in der Ukraine noch verstärkt wird, was auch für die weitgehende Gleichsetzung zwischen Sowjetunion und Russland gilt.

Die Wahl von Rūdninkai als Standort der Deutschen Brigade hat die Bundeswehr zusammen mit dem litauischen Verteidigungsministerium getroffen. Die Ortschaft liegt 40 Kilometer südlich von Vilnius am Rande eines großen Waldgebiets, nur 30 Kilometer von der EU-Außengrenze zu Belarus entfernt. Ausschlaggebend für die Entscheidung war, dass es hier schon zu sowjetischen Zeiten ein großes Militärübungsgelände gab, das jetzt als Infrastruktur zur Verfügung steht. Die litauische Armee hatte nach 2014 mit Erschließungsarbeiten begonnen. Jetzt legt sie neue Schneisen an und errichtet neue Mannschaftsunterkünfte für bis zu 4000 Angehörige der Bundeswehr.

Die Bundeswehr ist seit Februar 2017 Teil der Enhanced Forward Presence der Nato in Litauen und übt das Kommando über diesen multinationalen Kampfverband aus. Sie ist zusammen mit der litauischen Brigade Geležinis vilkas („Eiserner Wolf“) in Kasernen des Militärstützpunkts Rukla unweit der Stadt Jonava stationiert. Die Bundeswehr stellt das Führungspersonal, eine Kampfkompanie sowie das Personal für die Bereiche Logistik und Medizin. Litauen stellt die In­frastruktur vor Ort. Die litauischen Soldaten und die rund 600 Bundeswehrangehörigen, die alle sechs Monate rotieren, halten regelmäßig gemeinsame Übungen zur Verteidigung der Nato-Ostflanke ab.

Derzeit bereiten 400 Bundeswehrangehörige diese erste dauerhafte Stationierung im Ausland vor. Bis 2027 soll die Panzerbrigade 45 mit 4800 Soldaten und 200 Zivilangestellten in Litauen präsent sein. Als Nächstes wird das Panzerbataillon 203 aus Augustdorf und das Panzergrenadierbataillon 122 aus Oberviechtach nach Rūd­nin­kai entsandt. Zudem werden das Panzerartilleriebataillon 455, ein Versorgungsbataillon 456, die Aufklärungskompanie 450 und die selbständige Panzerpionierkompanie 450 neu aufgestellt und schrittweise nach Litauen verlegt. Die jährlichen Kosten für die Brigade werden auf 1 Milliarde Euro geschätzt.

Das über 350 Quadratkilometer große Waldgebiet bei Rūdninkai wird derzeit als Übungsgelände vorbereitet. Das wirft die Frage auf, wie die litauischen Behörden und das deutsche Verteidigungsministerium mit den Bunkeranlagen umgehen, die jüdische Partisanen dort hinterlassen haben. Die Kämpfer der Fareinikte Partisaner Organisatzije (FPO) hatten sich am 23. September 1943 aus Vilnius in das Waldgebiet zurückgezogen, um sich einer sowjetischen Einheit anzuschließen.

Anführer der FPO war der Dichter Abba Kovner, ein sozialistischer Zionist. Als schon mehr als 30 000 Juden in Ponar ermordet worden waren, verfasste er im Ghetto ein Manifest, in dem er alle Juden dazu aufrief, sich mit Waffen gegen den deutschen Massenmord zu wehren. Kovner musste wie die meisten Kämpfer seine Eltern bei der Auflösung des Ghettos zurücklassen. Der Einsatz gegen die deutschen Besatzer war zugleich ein Kampf ums Überleben. An diesen erinnert die Hymne der FPO. Der jiddische Text des Wilnaer Dichters Hirsch Glik war im April 1943 als Reaktion auf den Aufstand im Warschauer Ghetto entstanden. Das Lied „Zog nicht kein mol, az du geyst dem letstn veg“ wurde auch in den wenigen verbliebenen Ghettos und in den Konzentrationslagern des besetzten Europa gesungen.

Während sich jüdische Einheiten in anderen Waldabschnitten sowjetischen Kampfformationen anschlossen, setzte Kovner durch, dass die Jüdinnen und Juden in Rūdninkai eigene Einheiten bildeten. Das schützte sie vor dem Antisemitismus, der auch unter sowjetischen Partisanen im Wald zum Alltag gehörte. Ende 1943 befehligte Kovner das Regiment Nakam („Die Rache“). Ein weiteres Regiment „Zum Sieg“ wurde von Schmuel Kaplinski geführt, der dem Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund nahestand. Die Einheit namens „Tod dem Faschismus“ leitete Jakob Prener vom zionistischen Jugendverband Beitar, das Regiment „Der Kampf“ der sozialistische Aktivist Aron Aharonovič.

Von den 600 Partisanen in Rūdninkai waren Ende 1943 etwa 400 Juden. Sie vertraten ganz unterschiedliche Positionen, von links außen bis stramm rechts. Kommunisten waren in der Minderheit. Das Verhältnis zu den sowjetischen Kommunisten blieb selbst unter den jüdischen So­zia­listen angespannt, auch weil der Geheimdienst NKWD noch im Wald gegen ehemalige Ange­hörige der Ghettopolizei Todesurteile vollstreckte.

Acht Jahrzehnte später bleibt nur die Spurensuche. In Absprache mit der Verwaltung des Gebiets kann man heute die Überreste des Waldlagers der FPO erkunden. So wie eine Reisegruppe von der Bildungsstätte „Arbeit und Leben“ aus dem westfälischen Herford, die sich im Juni 2025 nach Rūdninkai aufmacht. Nach einer Fahrt durch dichten Nadelwald muss der Bus eine frisch gezogene 25 Meter breite Panzerschneise überqueren. Der Fahrer schüttelt stumm den Kopf, kein ideales Gelände für Reisebusse.

Organisatorin der Reise ist Birgit Krämer. Die Kölner Historikerin kennt die mehrfache Besatzungsgeschichte Litauens und weiß um die Überlagerung der Erinnerung an deutsche Verbrechen durch die Erinnerung an die sowjetische Repression. Deshalb bewegt sie die Frage, ob sich Deutschland im Zuge der Stationierung der Panzerbrigade 45 auch geschichtspolitisch stärker engagieren sollte.

Der litauische Aktivist Mantautas Šulskus zeigt die Stelle, an der eines der Waldlager von Abba Kovners Kämpfern lag. Bis Anfang der 1990er Jahre gab es hier eine Gedenkstätte, an der litauischen Schulklassen ein idealtypisches Lager sowjetischer Partisanen präsentiert wurde. Dafür hatte man die originalen Erdhöhlen, die mit Holz verstärkt und mit Ästen abgedeckt waren, in Form von Betonwänden und -dächern nachgebaut.

Die Erlangener Historikerin Katja Makhotina hat die Geschichte der Unterstände für ihre Dissertation über die litauische Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg erforscht. Die neun Wald-Unterstände, schreibt sie in ihrem Buch „Erinnerungen an den Krieg – Krieg der Erinnerungen“, wurden ab 1974 als Außenstelle des Revolutionsmuseums in Vilnius betrieben. Anhand einer Bäckerei, eines Sanitätsraums und eines Dampfbads sollte der Alltag sowjetischer Partisanen dargestellt werden. In der Präsentation wurde vor allem die führende Rolle der Kommunistischen Partei Litauens betont. Dass hier Juden aus dem Wilnaer Ghetto kämpften, kam nicht vor. Ma­kho­tina vermerkt, dass Anfang der 1980er Jahre innerhalb eines Jahres 28 000 Menschen das nachgebaute Waldlager besucht haben; zur Gedenkstätte am Erschießungsort Ponar kamen im selben Jahr nur 9000.

Als man das Revolutionsmuseum in Vilnius in die Litauische Nationalgalerie umwandelte, wurde die Außenstelle m Rūdninkai-Wald geschlossen. Damit gerieten die Unterstände in öffentliche Vergessenheit. Doch die Erinnerung an den Ort wurde von einzelnen Personen wachgehalten, vor allem von der ehemaligen FPO-Kämpferin Fania Brantovskaia, die im September 2024 im Alter von 102 Jahren gestorben ist.

Bis kurz vor ihrem Tod führte die ehemalige Bibliothekarin des Jiddisch-Instituts der Universität Vilnius noch Gruppen in den Wald und erzählte über ihre Tätigkeit als Kurierin zwischen Rūd­ninkai und anderen Partisanenlagern. Das kann man noch im Sommer 2025 nacherleben. Der Aktivist Mantautas Šulskus spielt auf der Lichtung zwischen den Waldbunkern über einen Lautsprecher eine Aufnahme von Fania Brantovskaias Stimme ab, die im klaren Jiddisch der Wilnaer Juden über Hunger, Kälte und Ungeziefer im Wald von Rūd­nin­kai spricht.

Christoph Dieckmann zeichnet im zweiten Band seines Standardwerks „Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941–1944“ nach, wie dieser Wald im Frühjahr 1944 zum Schauplatz der Rivalität verschiedener Partisanengruppen wurde. Die sowjetischen Partisanen standen unter direktem Befehl Moskaus, das erneut ganz Litauen beherrschen wollte. Die polnischen Kämpfer der Heimatarmee (AK) bezogen ihre Befehle von der polnischen Exilregierung in London. Die AK wollte Vilnius noch vor dem Eintreffen der Roten Armee aus eigenen Kräften befreien und erwog dabei auch taktische Absprachen mit der Wehrmacht. Zudem hatten die litauischen Einwohner der umliegenden Dörfern bewaffnete Selbstschutzeinheiten gebildet, um sich gegen die gewaltsame Requirierung von Lebensmitteln durch die konkurrierenden Partisaneneinheiten zu wehren.

Die Situation in der Region um Vilnius unterschied sich vom übrigen Litauen, weil der polnische Staatsgründer Józef Piłsudski diesen Teil des historischen Litauens 1919 besetzte. Erst mit dem Hitler-Stalin-Pakt wurde er der Litauischen Republik zugeschlagen und im Juni 1940 sowjetisch besetzt. Aus polnischer Sicht öffnete sich im Frühjahr 1944 mit dem absehbaren Rückzug von Wehrmacht und SS unter dem Druck der Roten Armee ein Zeitfenster, in dem ein erneuter Kampf um Vilnius möglich schien.

Zugleich intensivierten die deutschen Besatzer den Kampf gegen die Partisanen in den Waldlagern. Im Mai 1944 wurde auf Befehl des SS- und Polizeiführers Friedrich Jeckeln bei Rūdninkai ein „Bandenkampfstab“ gebildet, bestehend aus dem SS-Polizeiregiment 16, drei litauischen Polizeibataillonen und einem Gendarmerieposten. Im Südwesten des Waldgebiets war die Spezialeinheit „Gruppe Illas“ auf die polnische Heimatarmee angesetzt.

Abba Kovner nahm Anfang Juli 1944 mit mehreren Dutzend Kämpfern an der Befreiung von Vilnius teil. Ab 1947 lebte er in Palästina und schrieb auf Hebräisch Gedichte, in denen er den Kampf um Vilnius verarbeitete. Anders als die jiddische Poesie Abraham Sutzkevers, der Elegien aus dem Wilnaer Ghetto verfasst hatte, ist Kovners poetisches Werk über das Kämpfen und Sterben in Litauen bis heute nicht ins Deutsche übersetzt. Und so ist das Bild von Juden, die mit dem Maschinengewehr im Kampf gegen SS, Polizei und Wehrmacht siegten, im Gedächtnis der Deutschen nicht existent.

Rote Armee: Für die einen Befreier, für die anderen Besatzer

Der historische Kontext für die heutige Präsenz deutscher Soldaten in Litauen ist nicht der Zweite Weltkrieg oder der Holocaust, sondern der seit 2014 währende Krieg Russlands gegen die Ukraine. Dabei setzt Moskau bestimmte Geschichtsnarrative als Waffe ein, die den Krieg rechtfertigen und die russische Bevölkerung mobilisieren sollen. Eine besondere Rolle spielt dabei die Neuinterpretation des Siegs der Roten Armee über die Wehrmacht, der mit dem Slogan „Wir können es wieder tun“ zum Vorbild für die heutige Invasion in der Ukraine erklärt wird.

Innerhalb Deutschlands verfangen die neuen russischen Narrative vor allem bei Teilen der anti­amerikanischen Linken und Rechten, die etwa den Einsatz von Panther-Panzern der Wehrmacht beim Angriff auf die Sowjetunion als Argument gegen den Einsatz von Leopard-Panzern der Bundeswehr gegen die russischen Invasoren in der Ukraine benutzen.

Auch in Reaktion auf solche Propaganda müssten im Umgang mit der deutschen Vergangenheit in dieser Region neue Fragen gestellt werden. Der Militärseelsorger der Brigade 45 verwirklichte im Frühjahr 2025 die Idee, dass Soldaten der Bundeswehr in Kooperation mit der litauischen Initiative Maceva die Grabsteine auf dem historischen jüdischen Friedhof von Merkinė reinigen. Sergei Kanowitsch, der Gründer von Maceva, freut sich auf eine langfristige Zusammenarbeit mit den deutschen Partnern. „Sie wissen, dass Gewehrkugeln Menschen töten, aber Erinnerung ist stärker, wenn man die Geschichte eines jüdischen Schtetls erfährt und mit eigenen ­Händen daran arbeitet, die Erinnerung zu bewahren.“

Kanowitschs Vater Grigori ist der Verfasser einer Familiensaga, die 2015 auf Deutsch unter dem Titel „Kaddisch für mein Schtetl“ im Berliner Aufbau-Verlag erschienen ist. Sie spielt in der Stadt Jonava, die beim Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion im Juni 1941 fast vollständig zerstört wurde. Im Kreis Jonava sind heute die rotierenden Mannschaften der Litauen-Brigade von Rukla untergebracht.

Eine anderer Pfad der Erinnerung wäre, die Geschichte des Zweiten Weltkriegs am neuen Standort der Bundeswehr in Litauen neu zu erzählen. Dazu gehören mehrere Orte in der Umgebung von Rūdninkai, wo das Nebeneinander konkurrierender Partisaneneinheiten im Wald, der litauischen, polnischen und belarussischen Bevöl­kerung in den umliegenden Dörfern wie auch der deutschen Besatzer zu extremer Gewalt führte.

Nur sechs Kilometer vom Waldlager der FPO entfernt steht das Mahnmal für die Einwohner des litauischen Dorfs Pirčiupiai. Hier haben Angehörige des SS-Polizeiregiments 16 am 3. Juni 1944 – als „Vergeltungsmaßnahme“ für einen Partisanenangriff auf eine Wehrmachtkolonne – 119 Einwohner, darunter 49 Kinder ermordet. Die Opfer wurden in einer Scheune zusammengepfercht und bei lebendigem Leibe verbrannt. Die Skulptur einer trauernden Mutter hat der Bildhauer Gediminas Jo­kū­bo­nis geschaffen. In eine Wand aus Granit sind die Namen der Opfer und ihr Alter eingemeißelt. Die Einweihung 1960 war ein sowjetischer Staatsakt unter dem Motto: „Pirčiupiai darf sich nie wiederholen.“

Die deutsche Erinnerungskultur ist, was den Holocaust betrifft, auf das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau fokussiert. Stätten der Massenerschießungen wie Ponar kommen darin schon deshalb kaum vor, weil es von ihnen in Litauen, Belarus, in der Ukraine und in Polen so viele gibt. Auch die Zerstörung ganzer Dörfer im östlichen Europa, Tausende an der Zahl, ist im öffentlichen Bewusstsein kaum präsent.

In Litauen ist Pirčiupiai eines von 15 verbrannten Dörfern. Es wurde als zentraler sowjetischer Gedenkort ausgewählt, weil hier die Mehrzahl der Einwohner Litauer waren. Die meisten anderen zerstörten Dörfer hatten eine vor­wiegend polnische und belarussische Bevölkerung.

Um die Auswirkungen der unterschiedlichen Formen deutscher Gewalt vor Ort genauer darzustellen, könnte man neue Formate des Gedenkens entwickeln. Dabei verweisen die Unterschiede zwischen der litauischen und der deutschen Perspektive auf den Wald von Rūdninkai auf ein Problem, das sich nicht einfach lösen lässt.

In der Bundesrepublik wird der kommunistische Widerstand gegen den Nationalsozialismus erst seit wenigen Jahren in das staatliche Gedenken einbezogen, etwa bei der Zeremonie zum 20. Juli im Berliner Bendlerblock. In Litauen wiederum hat der russische Angriff auf die Ukraine die Verdrängung aller Hinterlassenschaften der kommunistischen Vergangenheit aus dem öffentlichen Raum beschleunigt, etwa die Entfernung sowjetischer Denkmäler und die Umbenennung von Straßen.

Diese Praxis zielt darauf, die Verbindungen Litauens mit der Sowjetunion nachträglich aufzulösen. Es überrascht daher nicht, dass 2024 nach dem Tod von Fania Brantsovskaia nur noch wenige Menschen in Vilnius das Vermächtnis der FPO würdigen wollten, denn die jüdischen Kämpfer gelten in Litauen als sowjetische Partisanen.

Das Waldlager von Rūdninkai und das Mahnmal in Pirčiupiai bieten sich als Lernorte an, um Lücken der deutschen Erinnerungskultur zu schließen. Sie zeugen von der gewaltsamen Partisanenbekämpfung und dem bewaffneten jüdischen, sowjetischen und polnischen Widerstand, der hierzulande noch immer weitgehend negiert wird.

Felix Ackermann ist Professor für Public History an der FernUniversität in Hagen sowie Autor von: „Mein litauischer Führerschein“, Berlin (Suhrkamp) 2017.

© LMd, Berlin

Vilnius, Wilna, Wilno?

Einer der frühesten Namen für die litauische Hauptstadt Vilnius ist Wilna. Das deutsche Wort geht auf die lateinische Bezeichnung der Stadt als Vilna zurück. Auf Jiddisch heißt die Stadt Vilne, auf Polnisch Wilno, auf Russisch noch Anfang des 20. Jahrhunderts Vilna.

Für das heutige Litauen ist es von großer symbolischer Bedeutung, dass im 21. Jahrhundert auch im Deutschen der Name Vilnius verwendet wird. Deshalb änderte die Botschaft der Bundesrepublik die offizielle Bezeichnung 2024 zu Vilnius. Es ist aber weiterhin korrekt, für unterschiedliche historische Epochen den Namen Wilna (oder auf Englisch Vilna) zu verwenden. Im Mittelalter nannten die deutschsprachigen Ein­woh­ne­r:in­nen ihre Stadt auch „die Wilde“ nach dem Fluss Wilia oder Neris, der auf Deutsch Wilda hieß.

Le Monde diplomatique vom 07.08.2025, von Felix Ackermann