10.07.2025

Das andere Amerika

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Das andere Amerika

von Nicholas B. Miller

Generalstaatsanwältin Letitia James und Zohran Mamdani auf der Pride Parade ALEXANDRA BUXBAUM/picture alliance/sipa usa
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Der 25. Juni 2025 brachte den Höhepunkt einer Hitzewelle, die New York City, die Kapitale des internationalen Kapitalismus, dieses Jahr schon früh heimsuchte. Tags zuvor gewann Zohran Mamdani die Nominierung zum Kandidaten der Demokratischen Partei für das Amt des New Yorker Bürgermeisters. Der 33-jährige in Uganda geborene Mamdani, der sich als südasiatischstämmiger Muslim und als demokratischer Sozialist beschreibt, siegte überraschend über Andrew Cuo­mo. Der umstrittene Ex-Gouverneur des Bundesstaats New York war trotz der ihm vorgeworfenen sexuellen Übergriffe als Favorit des Parteiestablishments und der mächtigen Unternehmerlobby angetreten.

Der Sieg von Mamdani, der erst seit 2018 US-Staatsbürger ist, hat das progressive Lager beflügelt, die Mitte verstört und die Konservativen in Aufregung versetzt. Bernie Sanders, der 83-jährige in New York geborene Senator aus Vermont, lobte weniger Mamdanis Programm als seinen Mut, eine stimmige linke Vision zu vermitteln. Das Establishment der Demokraten reagierte distanzierter. Eine Führungsfigur im Staat New York nannte ihn „die absolut falsche Wahl“. Und Trump denunzierte ihn umgehend als „100-prozentigen verrückten Kommunisten“. Populistische Kreise der Republikaner brachten xenophobe ­Memes in Umlauf, etwa die in eine Burka gehüllte Freiheitsstatue. Auch wurde die Forderung laut, Mamdani die US-Staatsbürgerschaft abzuerkennen.

Der Sieg Mamdanis stand am Ende von drei außergewöhnlichen Wochen, die selbst nach den derzeitigen Maßstäben in den USA ziemlich turbulent verliefen. Seine Nominierung ist verbunden mit den drei politischen Themen, die das Land vorrangig beschäftigen und zu einem Wiedererwachen von Protestbewegungen geführt haben: die Einwanderungspolitik, das Geschehen im Nahen Osten und die wachsende Macht der Exekutive.

In Reaktion auf die brutalen Praktiken, mit denen Trump sein Wahlkampfversprechen von Massenabschiebungen einlösen will, kam es in Los Angeles, wo mindestens 8 Prozent der Ein­woh­ne­r:in­nen keinen legalen Aufenthaltsstatus haben, zu heftigen Protesten. Die Trump-Administration qualifizierte die Demonstrationen mit wilder Übertreibung als „Unruhen“ und unterstellte die kalifornische Nationalgarde der Zen­tral­regierung; und sie setzte – erstmals in der Geschichte – Einheiten der U. S. Marines im eigenen Land ein.

Am 14. Juni gingen dann Millionen Bürger und Bürgerinnen auf die Straße, um den „No Kings Day“ zu begehen – das Motto bezieht sich auf ein Meme, in dem Trump als König gehuldigt wird. Die mehr als 2100 Demonstrationen im ganzen Land waren ein koordiniertes Gegenprogramm zu der Staatszeremonie zum 250. Gründungstag der US-amerikanischen Streitkräfte, der dank höherer Fügung mit Trumps 79. Geburtstag zusammenfiel.

Die protzige Militärparade sollte den Nationalstolz und die Bereitschaft zum Dienst an der Waffe beflügeln; aber Lästermäuler meinten, hier werde die autoritäre Wende der USA auf eine Weise zelebriert, die an Nordkorea denken lässt: Zwischen den Eingangssäulen des Agrarministe­riums hatte man ein gigantisches Trump-Porträt aufgezogen, dutzende Panzer, tausende Soldaten und eine Kavalleriegarde waren aufgeboten. Aber dann kam der Regen. Die Zuschauerkulisse, ohnehin dürftiger als erwartet, dünnte weiter aus. Trump las seine Rede ungewohnterweise vom Blatt. Der Mord an einem demokratischen Abgeordneten des Parlaments von Minnesota, der kurz zuvor gemeldet worden war, fand keine Erwähnung. Und irgendwann schien das Geburtstagskind wegzudösen.

Eine Woche später war Amerikas Feuerkraft wieder voll da. In den Morgenstunden des 21. Juni bombardierte die U. S. Air Force auf Befehl Trumps zentrale iranische Atomanlagen mit ihren legendären bunkerbrechenden Waffen. Parlamentarier drohten mit einem Impeachment-Verfahren gegen den Präsidenten, weil er den Kongress nicht unterrichtet, geschweige denn, um Zustimmung zu einem Kriegsakt ersucht hatte.

Die politische Atmosphäre der USA hat einen Siedepunkt erreicht – aber ist es auch ein Wendepunkt? Bei den erwähnten Schlüsselthemen – Migration, Naher Osten, Dominanz der Exekutive – wird man das erst im Nachhinein wissen. Doch zwei Merkmale, die Trumps zweite Präsidentschaft von seiner ersten unterscheiden, haben offenbar nicht mehr Bestand.

Zum einen zeigen sich bei den Republikanern die ersten – womöglich nur vorübergehenden – Risse. Trumps Männerfreundschaft mit dem reichsten Mann der Welt ging auf der Bühne der sozialen Medien theatralisch in die Brüche. Elon Musk gelang es nicht, mit seinem Kahlschlag bei den Bundesbehörden ausreichend Staatsausgaben zu kappen, um den Spielraum für Trumps aberwitziges Haushaltsgesetz zu schaffen. „One Big Beautiful Bill Act“ kam zwar am 3. Juli durch den Kongress, aber libertäre Kreise der Republikaner äußern sich besorgt über die rapide wachsende Staatsverschuldung, die nach ihrer Schätzung bis 2034 um bis zu 3 Billionen Dollar steigen könnte.

Aus der populistischen Ecke wiederum hört man Bedenken gegen zu erwartende Zugeständnisse an die Hightechbranche, etwa in Form eines zehnjährigen Verzichts auf staatliche Regulierung der KI-Entwicklung. Andere republikanische Stimmen opponierten offen gegen die militärische Intervention in Iran und die Perspektive eines Regimewechsels. Dennoch hat der Präsident die republikanische Parteibasis fest im Griff. Ein Trump-Post reicht immer noch aus, um abweichende Stimmen aus der Partei – zu welchem Thema auch immer – zum Schweigen zu bringen.

Zweitens haben die Anti-Trump-Kräfte ihre Lähmung nach der Wahl überwunden: Die politische Linke hat ihre aktivistische Energie wiedergefunden und viele US-Bürgerinnen und -Bürger gehen wieder auf die Straße. Die „No Kings“-Demonstrationen waren vielleicht sogar der größte Massenprotest in der Geschichte der USA; in jedem Fall aber der größte, den das Land seit den „Black-Lives-Matter-Kundgebungen nach dem Tod von George Floyd im Mai 2020 erlebt hat. Allerdings verhindern grundlegende Differenzen unter den Trump-Gegnern die Einigung auf eine gemeinsame Agenda.

In Los Angeles kamen die Proteste gegen die Abschiebungen aus dem Alltag, aus der Wut der Gemeinschaft über den Bruch eines seit Langem existierenden Status quo für irregulär Eingewanderte zum einen und über die bekannt gewordenen Misshandlungen in den Abschiebegefängnissen zum anderen. Im Gegensatz dazu waren die „No Kings“-Proteste eher eine gut geplante Kampagne mit der zentralen Forderung, Trumps Griff nach der totalen Exekutivgewalt zu verhindern. Hier führten die Demonstrierenden massenhaft US-Flaggen mit; auch die palästinensische und die Regenbogenfahne waren immer dabei.

Auf den Straßen von Los Angeles dagegen war das Sternenbanner auffallend selten zu sehen, vor allem an den ersten Demonstrationstagen. In den Diskussionen der Linken war die Dominanz der Flaggen Mexikos und zentralamerikanischer Staaten ein kontroverses Thema: Einige verteidigten sie als legitime Äußerung von Nationalstolz; andere verurteilten sie als Geschenk an eine Rechte, die in ihrem Eifer, die Demonstrierenden als ausländische Elemente abzustempeln, nur bestärkt werde.

Der Anteil irregulärer Mi­gran­t:in­nen in den USA hat – im internationalen Vergleich – bemerkenswerte Ausmaße erreicht. Derzeit verfügt fast die Hälfte der nicht eingebürgerten Migrationsbevölkerung über keine rechtsgültige Aufenthaltserlaubnis für die USA. Diese Situation ist das Ergebnis eines über Jahrzehnte andauernden Reformstaus. Die letzte umfassende Novellierung der einschlägigen Bundesgesetze datiert aus dem Jahr 1990. Einige lokale Verwaltungsgebiete, meist unter demokratischer Führung, haben trotz eines im Sinne des Bundesrechts irregulären Aufenthaltsstatus eine breite Palette an Leistungen und Schutzmaßnahmen für irreguläre Mi­gran­t:in­nen eingeführt.

Das Thema illegale Migration ist eine ständige Quelle des Zorns für Donald Trump, seit er am 16. Juni 2015 auf der vergoldeten Rolltreppe des New Yorker Trump Tower herabgeglitten kam, um seinen Einstieg in die Politik zu verkünden. Genau zehn Jahre später ordnete er eine deutliche Eskalation seines Feldzugs gegen Migranten an, mittels Razzien an ihren Arbeitsplätzen, an ihren Wohnorten und an den Schulen ihre Kinder.

Am 1. Juli 2025 war der symbolträchtige Schlusspunkt gesetzt, als er mit sichtlichem Vergnügen das neu errichtete Zeltgefängnis im Bundesstaat Florida besichtigte – ein „schönes“ Lager für irreguläre Mi­gran­t:in­nen mit 3000 Betten, auf einem verlassenen Flugfeld in den Everglades gelegen. Getauft wurde es auf den Namen „Alligator Alcatraz“, da es – wie Trump anmerkte – von „vielen Bodyguards und vielen Polizisten in Gestalt von Alligatoren“ bewacht werde.

Im Laufe dieses Sommers könnte Trump eine noch fundamentalere Wende vornehmen, die sowohl mit dem Thema Migration als auch mit dem Ausbau der Exekutivgewalt zu tun hat: Derzeit erlangen prinzipiell alle Kinder, die auf US-Territorium geboren wurden, die uneingeschränkte Staatsbürgerschaft. Dieses Recht will die Trump-Administration durch eine präsidiale Verfügung vom aufenthaltsrechtlichen Status der Eltern abhängig machen. Damit würde sie eine Interpretation der Verfassung aufkündigen, die sich Ende des 19. Jahrhunderts durchgesetzt hat.

Am 27. Juni hat der Supreme Court in einem Verfahren, das den Versuch der Trump-Regierung betraf, das Geburtsortsprinzip im Staatsbürgerrecht auszuhebeln, ein Urteil gefällt. Ohne ausdrücklich auf die Verfassungsmäßigkeit der entsprechenden Anordnungen einzugehen, schwächte das Oberste Gericht die Fähigkeit der erstinstanzlichen Gerichte, die Umsetzung präsidialer Verordnungen auszusetzen, weil sie diese für verfassungswidrig erachten. Damit machte der Supreme Court der Regierung – und allgemein der Exekutive – ein großes Geschenk. Denn genau auf diese Kompetenz der unteren Instanzen hat sich die politische Taktik der Demokraten bislang gestützt.

Nach dem Urteil vom 27. Juni dürfte es der Regierung jetzt möglich sein, eine präsidiale Verordnung nach der anderen zu erlassen. Dabei wird Trump wohl weiterhin einen schwindelerregenden Schlingerkurs verfolgen und je nach wechselnder Laune mal zum Angriff und mal zum Rückzug blasen. So wie in Los Angeles, wo er gleich nach der Entsendung des Militärs die Abschieberazzien auf Farmen, in Restaurants und Hotels stoppen ließ, da diese Branchen um ihre „illegalen“ Arbeitskräfte bangen mussten. So wie in der Handelspolitik, wo er Zölle anordnet, um sie im Handumdrehen wieder auszusetzen oder abzuschaffen.

Die treuesten der Trump-Treuen bewundern ohne Pragmatismus und Prinzipien ihren Helden und seinen tapferen Kampf gegen eine korrupte, moribunde politische Klasse, die sich selbst bedient. Im Gegensatz zu ihrem König Trump.

Der Sieg Mamdanis bei den Demokraten in New York deutet allerdings darauf hin, dass die Sehnsucht nach charismatischer Authentizität – statt administrativer Kompetenz – keine exklusive Eigenheit der Rechten in den USA ist. Selbst der unterlegene Andrew Cuo­mo hat eingeräumt, dass sein Gegner eine meisterhafte Wahlkampagne geführt habe. Aber dieses Kompliment bezog sich auf Mamdanis Fähigkeit als Kommunikator und nicht auf die kommunizierten Inhalte.

Sollte Mamdani im November dieses Jahres zum New Yorker Bürgermeister gewählt werden, könnte er einen Großteil seines inhaltlichen Programms nicht umsetzen. Seine Visionen von staatlichen Lebensmittelgeschäften, kostenlosen öffentlichen Verkehrsmitteln und kostenlosen Kinderkrippen wären nur durch höhere Besteuerung der Reichen zu verwirklichen, die auf der Ebene des Staats New York beschlossen werden müsste.

Mamdanis Versprechen, die Mieten einzufrieren und einen Mindeststundenlohn von 30 Dollar einzuführen, würde die gesamte Geschäftswelt auf die Barrikaden bringen. Und seine Ankündigung, er werde den israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu verhaften lassen und damit das Urteil des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) umsetzen, zeugt von krasser Unkenntnis der Jurisdiktion, da die USA 2002 ihre Unterschrift unter das IStGH-Statut zurückgezogen ­haben.

All das schließt freilich nicht aus, dass Mamdani die Wahl im November gewinnen kann. Schließlich ist Donald Trump – aus der genau entgegengesetzten ideologischen Ecke – mit einer ähnlich realitätsfremden Agenda aufgebrochen. Die enthielt nicht nur verfassungsrechtlich fragwürdige Maßnahmen, sondern auch das Versprechen, die Wirtschaftskraft der USA mit einer Strategie zu stärken, die das Lager der Mainstream-Ökonomen zutiefst verstören musste.

Inzwischen gibt es Hinweise darauf, dass Mamdani seinen Sieg über Cuomo vor allem Stimmen aus jenen drei Wählergruppen verdankt, die bei den letzten Präsidentschaftswahlen scharenweise ins Trump-Lager übergelaufen sind: der Generation Z, der muslimischen Bevölkerung und – gegen Ende seiner Kampagne – den Latino-Männern.

Sollte Mamdani gewinnen, könnte sich die Wall Street damit trösten, dass der New Yorker Bürgermeister nicht der Präsident der USA ist – und dass er es auch niemals sein wird. Die US-Verfassung schließt eingebürgerte Staatsangehörige ausdrücklich vom Präsidentenamt aus. Dieses tröstliche Wissen ist fundierter, als es das Wunschdenken vieler Trump-Gegner war, die sich vor dessen erneuter Wahl einredeten, seine Versprechen seien nichts als populistisches Getöse.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Nicholas B. Miller ist Historiker und Herausgeber von „Plantation Knowledge: Agricultural Colonization, Exploitation, and Exchange Since 1500“, Albany (Suny Press) 2025.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.07.2025, von Nicholas B. Miller