Zehn Jahre der Zeit voraus
Im Mai 1995 erschien die erste deutschsprachige Ausgabe von „Le Monde diplomatique“ von Marie Luise Knott
Als im April 1995 in Paris im holzgetäfelten Büro des Zeitungsverlegers Jean-Marie Colombani der Vertrag über eine deutschsprachige Ausgabe von Le Monde diplomatique mit goldenem Kugelschreiber unterzeichnet wurde, stießen beim anschließenden Champagner zwei Kulturen miteinander an: Die Kreuzberger und Zürcher Spontiszene und der formvollendete Pariser Chic. Dass gerade von der etablierten französischen Linkskultur Impulse für ein erneuertes sozialistisches Denken ausgehen sollten – wer hätte das damals gedacht? Offensichtlich war die Zeit dafür reif, denn gleich zwei politische Zeitungsverlage wollten die deutsche Ausgabe von Le Monde diplomatique herausgeben: die Schweizer Wochenzeitung woz und die deutsche Tageszeitung taz. Und jede natürlich auf ihre Weise. Also: Briefwechsel, Treffen in Pariser Cafés, harzige Standpunkt- und Standortdebatten. Und zuletzt: Einigung.
Knapp drei Jahre später, im Dezember 1997, gelang es mit einem Leitartikel dieser Zeitung, eine weltweite politische Bewegung zu initiieren: „Die Märkte entschärfen“ war der Aufmacher von Ignacio Ramonet überschrieben, der die Einmischung von Politik und Gesellschaft in die Entwicklung der globalen Finanzmärkte forderte. Eine neue Bewegung entstand und war bald weltweit vernetzt: Attac. Le Monde diplomatique lieferte dazu die Nachrichten, Analysen und Kommentare: über die wachsenden gesellschaftlichen Ungleichheiten, über die sich wandelnden Formen weltweiter Ausbeutung, über die neue Welle der Kapitalkonzentration durch die internationalen Finanzmärkte, über etablierte internationale Organisationen, über den IWF und die Weltbank, die mittels ihrer Strukturanpassungsprogramme den Ländern der „Dritten Welt“ ihr Konzept der Modernisierung aufnötigen. Mit ihrer internationalen Dimension verstärkten diese vielfältigen analytischen Beiträge zur der Globalisierung auch die weltweite Resonanz von Le Monde diplomatique: Man konnte die Zeitung bald auch auf Serbisch, Englisch und im Internet sogar auf Japanisch lesen. Heute gibt es sie in 30 Ausgaben (und 17 Sprachen), die weltweit 1, 5 Millionen Leser erreichen, 120 000 davon in Deutschland. So wurde unser Slogan „Alle reden von Globalisierung! – Wir machen sie!“ Wirklichkeit.
Eigene Wege: Jede Übersetzung ist immer auch eine Form von Verrat. Das erfuhr auch die deutschsprachige Redaktion in Berlin: Worte, die von einem in den anderen kulturellen Kontext transponiert werden, schmecken in der Zielsprache anders. Traduttore, traditore! lautet eine italienische Redewendung. Und das gilt nicht nur für die Texte, sondern für die Zeitung als Ganzes. So international Autoren und Themen sind – die französische Ausgabe von Le Monde diplomatique bleibt eine französische Zeitung, inspiriert von den dortigen Fragen, sich speisend aus den dortigen Mythen und Gewohnheiten (auch Lesegewohnheiten), verankert im dortigen politischen und medialen Kontext.
Die Redaktionen aller ausländischen Ausgaben merkten bei der täglichen Arbeit nach und nach, dass auch die Zeitungskulturen von Land zu Land viel zu verschieden sind, um eine Zeitung nach ein und demselben Muster zu stricken. Während anfangs alle die französische Monde diplomatique „kopierten“, unterscheiden sich die internationalen Ausgaben heute deutlich – in Inhalt und Gestalt.
Längst werden die Beiträge von internationalen Autoren nicht mehr aus dem Französischen, sondern aus der Originalsprache ins Deutsche übersetzt – eine Entscheidung, die der Tatsache Rechnung trug, dass die Autoren selbst ihre Beiträge in eine internationale Debatte hinein verfassen und jede Ausgabe auf ihre Weise dasselbe tut: die Beiträge in den eigenen Kultur- und Zeitungskontext hineinzubuchstabieren.
Seit neun Jahren bereits stellen wir in jeder Ausgabe einen zeitgenössischen Künstler vor: Die heterogenen Werke aus aller Welt präsentieren sich als selbstständige Beiträge unabhängig von den Texten, mit denen sie auf der Zeitungsseite platziert sind. So entstehen Einblicke in nahe und ferne Bildwelten, die sonst eher selten zu sehen sind. Das ungewöhnliche Konzept wurde angenommen: Bereits nach einem Jahr hatte einer der vorgestellten internationalen Künstler dank der Präsentation in der Zeitung eine erste Ausstellung in Deutschland.
In den letzten fünf Jahren haben wir in der bundesrepublikanischen Ausgabe auch eigenständige Beiträge aufgenommen, um den Blick zu erweitern und hiesige Interessen aufzugreifen. Im Mittelpunkt stehen dabei Beiträge aus und über Osteuropa und Fragen des Internationalen Rechts.
Atlas der Globalisierung: „Mit über 90 Prozent der Bevölkerung sind die Han-Chinesen die prägende Volksgruppe Chinas. In der Mehrheitssprache werden die Minderheiten im Land nach ‚rohen‘ und ‚gekochten‘ Völkern unterschieden. Als ‚gekocht‘ gelten Volksgruppen, die sich der Han-Kultur assimiliert haben, während die ‚rohen‘ Völker ihre Eigenart zu bewahren vermochten.“ Diese und andere Kuriositäten liest man im „Atlas der Globalisierung“, der vor zwei Jahren erschien. Doch die Globalisierung, das zeigte der Atlas schnell, kennt keine „rohen“ Völker, die von der postindustriellen Welt unberührt blieben. Dass ein Werk wie der Atlas, als eine grafische und analytische Bestandsaufnahme der Globalisierung, längst überfällig war und einem dringenden Bedarf entgegenkam, zeigte die Resonanz: Über 120 000 Exemplare wurden inzwischen verkauft. Drei Jahre lang hatte sich die französische Redaktion von Le Monde diplomatique dieser Mammutaufgabe gewidmet, aktuelle und abgesicherte Daten über den Status quo der Welt zu sammeln, zu bündeln und anschaulich zu präsentieren. Die Karten von Philippe Rekacewicz überzeugten uns, den Atlas auch auf Deutsch zu publizieren. Der Aufwand auch für die deutsche Publikation war enorm, umso riskanter die Entscheidung des taz-Verlags, den durchgehend vierfarbigen Atlas für nur 10 Euro zu verkaufen. Doch der politisch begründete Preis – „Diesen Atlas soll sich jedermann leisten können“ – hat sich gelohnt.
Die Redaktion: Zehn Jahre nach ihrer Gründung hat sich die deutschsprachige Ausgabe von Le Monde diplomatique in der Medienlandschaft etabliert. Doch so vielfältig die Beiträge waren, die Autoren, Journalisten, Wissenschaftler und bildende Künstler in den Spalten der neuen Zeitung darboten – so winzig war anfangs die bessere Kammer, in die sich die dreiköpfige deutsch-schweizerische Redaktion (Antje Bauer, Marie Luise Knott, Andreas Simmen) in der Kochstraße quetschte. Das ist lange her. Mit den Aufgaben hat sich die Redaktion vergrößert. Heute sitzen im Dachgeschoss des taz-Gebäudes Dietmar Bartz, Barbara Bauer, Dorothee D’Aprile, Katharina Döbler, Niels Kadritzke und Marie Luise Knott. Die Schweizer Ausgabe betreut Judith Huber in Zürich.
Die Jubiläumsausgabe: Ab Mai 2005 erscheint die Zeitung im neuen Layout. Es folgt, von den Berliner „Uniteddesigners“ (Erik Spiekermann, Ralf Weissmantel, Fabian Rottke, Julia Sysmalein) entworfen, dem Prinzip: So viel Einheit wie möglich, so viel Differenz wie nötig. Und es schafft: viel Klarheit. Für diese Jubiläumsausgabe hat die Redaktion fünf Autoren um Beiträge zum Thema „Grenzüberschreitungen“ gebeten: Amartya Sen, Philipp Ther, Gábor Schein, Fariba Adelkhah und Petra Gehring. Zudem werden unsere internationalen Autoren endlich einmal in Wort und Bild vorgestellt.
Und jetzt: Mit der aktuellen Debatte um die Kapitalismuskritik von SPD-Chef Franz Müntefering bekommt die Forderung, die globale Wirtschaftsentwicklung stärker politisch zu hinterfragen und zu steuern, neue Nahrung – eine Forderung, die in den Spalten dieser Zeitung immer wieder erhoben wurde. Dabei geht es um nichts Geringeres als die permanente Neuerfindung des Citoyens – lokal, national, international.